Die Gefangene der Goldräuber – Teil 5
Die Nacht hatte keinerlei Erholung für Jennifer gebracht. Zu erschöpft war sie gewesen. Sie blickte zur Felsnadel empor, die durch Nebelschwaden in die Höhe ragte. Dort oben sollte das Gold liegen, ihr Verhängnis. In Denver hatte Sie Roseford angefleht, sie laufen zu lassen, doch er hatte zu große Angst vor Barrera. Er hatte ihr gedroht, ihr Gesicht zu zerschneiden, sollte sie zum Anwalt etwas Falsches sagen. Die Furcht, er könnte seine Drohung wahr machen, war zu groß gewesen, irgendetwas zu wagen. Vor allem, da ihr der Anwalt keine Hilfe gewesen wäre. Roseford hätte ihn sofort niedergeschossen. Für Barrera ritt der mieseste Abschaum. Die gierigen Blicke der Banditen drangen bis ihr Innerstes. Sie könnte sich vom Felsen stürzen, zu dem sie gerade hochkletterten. Doch dafür besaß sie nicht den Mut. Sie verachtete sich für ihre Feigheit.
Während ein Mann bei den Pferden blieb, stiegen die anderen empor. Die Gier nach Gold stand den Männern im Gesicht. Unbarmherzig trieben sie Jennifer an. Je länger der Aufstieg dauerte, desto öfter stolperte sie. Bald waren ihre Knie und Handballen aufgeschürft. Ihr Rock verhedderte sich an einem Gestrüpp. Zornig auf sich selbst, auf ihren Vater, auf die Banditen und auf die gesamte Welt zerrte sie solange daran, bis der Stoff riss. Sie taumelte und fiel einem der Banditen hinter ihr in die Arme. Der nutzte die Gelegenheit sofort, packte sie von hinten und presste seine Hände auf ihre Brüste. Jennifer fauchte, wollte sich aus der Umklammerung winden, doch er hielt sie fest. Mit Schwung trat sie mit ihrem Stiefelabsatz nach hinten.
»Du verdammte Hure«, zischte er, wirbelte sie herum und klatschte ihr ins Gesicht.
Barrera, der einige Yards vor ihnen ging, drehte sich um. Was er auf Spanisch zu dem Mann sagte, verstand Jennifer nicht. Ihr Widersacher streckte seine Hände von sich. »Si, Manoel.« Es war keine Geste der Unterwerfung, sondern lediglich, dass er den Befehl respektierte.
Barreras Blick blieb an ihr hängen, und da erkannte sie es. Sie war sein Besitz! Außer Atem erklomm sie das letzte Stück und hockte sich auf den Boden. Das große Felsplateau endete an einem Felsen, deren Spitze weithin sichtbar war. Ein Felsspalt, fast so groß wie ein Mann, war natürlicher Art.
Paco, Barreras rechte Hand, hatte sogar eine Fackel mitgebracht. Er riss ein Streichholz an seinem Stiefelabsatz, entzündete die Fackel und reichte sie an den Anführer weiter. Barrera gab einige Anweisungen und verschwand mit einem Mann in der Mine. Paco blieb mit den fünf anderen und Jennifer draußen. Roseford und der Lockenkopf mussten ebenfalls draußen bleiben. Die Angst hielt Roseford davon ab, dagegen zu meutern. Deutlich war den Männern anzusehen, dass jeder von ihnen gerne hineingegangen wäre. Bald erschien Barrera mit seinem Mann wieder. Sie schleppten zwei schwere Satteltaschen, die sie auf den Boden warfen. Jennifer vermutete Goldnuggets darin.
»Und, was meinst du dazu?« Aufgeregt deutete Roseford zum Mineneingang. »Ich hab dir nicht zu viel versprochen. Das Gold macht uns reich.« Sein Adamsapfel bewegte sich. Aus Gier oder Angst oder einer Mischung von beidem konnte Jennifer nicht beurteilen. Das Wort Gold brachte Unruhe und Nervosität in die Meute. Jennifer konnte es fast körperlich spüren, wie ein einziges Wort sich in die Gehirne dieser Banditen fraß und ihr Denken beeinflusste. Nur Paco und Barrera beherrschten sich. Ein Zeichen, wie gefährlich sie waren.
»Compadre, nimm drei Männer und fang einige Goldgräber und Stadtfräcke ein. In Black Hawk wimmelt es davon. Sie werden für uns das Gold aus dem Berg brechen.« Paco, der Angesprochene und der Banditenführer grinsten sich verstehend an.
Langsam wurde Roseford nervös, weil Barrera keine Notiz von ihm nahm. Er versuchte es auf die kumpelhafte Tour. »Ja, das Gold wird uns reich machen. Ist die Höhle groß?«
»Die Höhle ist groß«, antwortete Barrera, »und gabelt sich weiter hinten. Doch das braucht dich nicht weiter zu kümmern, Gringo.« Seine Stimme war gefährlich leise.
Roseford schluckte, sein Adamsapfel hüpfte heftiger. »Es war eine gute Idee von mir, nicht wahr?«
Barreras Grinsen wurde breiter. Sein Nicken war unmerklich. Roseford und Lockenkopf brachten ihre Revolver nicht mal aus den Holstern, als sie von Schüssen getroffen wurden. Paco und ein anderer hatten geschossen. Sie waren tot, als sie auf dem Boden aufschlugen. Die Banditen durchsuchten die Taschen der Toten, nahmen Waffen und Hüte an sich und zogen den Leichen die Stiefel von den Füßen. Drei Männer stürzten sich auf die Stiefel. Ein knapper Befehl von Paco hinderte sie daran, sich um die Stiefel zu schlagen. Rosefords große Stiefel wanderten durch mehrere Hände, bis sie einen neuen Träger fanden. Die Hosenträger der beiden fanden ebenfalls neue Besitzer. Dann wurden die Toten bis zum Plateaurand gerollt und hinuntergestürzt. Zum wiederholten Male wünschte sich Jennifer so viel Mut, sich hinterherzustürzen. »Daddy, was hast du deinem kleinen Mädchen angetan?«, flüsterte sie so leise, dass nur sie es hören konnte. Mit glasigen Augen starrte sie auf den Plateaurand.
***
Nach einer knappen Stunde trafen sie Basel. »Die Bande ist vor wenigen Minuten weggeritten. Fünf Männer, Mexikaner oder Mischlinge, eine weiße Frau ist dabei. Zwei Weiße wurden getötet. Zwei der Banditen blieben als Wächter zurück. Von oben hat man eine gute Sicht, deshalb können wir nicht weiterreiten. Larry versucht seitlich hinaufzugelangen.«
Wieder einmal staunte Cole über die Fähigkeiten der Wittlifs.
»Ich habe die Banditen gut durch das Fernglas erkennen können. Es ist eindeutig Barrera.«
Dyson nickte. »Gut gemacht. Reite Larry nach, falls er Hilfe braucht.«
Ohne weitere Worte ritt Basel weg. Sie sattelten nicht ab, sondern lockerten nur die Sattelgurte und banden die Pferde an. Dumpf vor sich hin brütend hockte sich Matt nieder.
»Wir haben nun drei tote Weiße. Da es sich bei der Frau wahrscheinlich um Jennifer Tucker handelt, werden die Toten die Kutschenräuber gewesen sein.« Cole sagte das nur, um die gespannte Stimmung zu lockern, doch das misslang gründlich. Dyson nickte nur, Matt erwiderte gar nichts. Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie schweigend. Cole beobachtete einen Bussard, der in der Luft seine Kreise zog.
Auf seinen Wegen waren ihm schon viele Männer begegnet, doch noch nie jemand wie die Wittlifs. Schweigsam, kalt und doch sehr umsichtig. Diese Eigenschaften zusammen machten sie nicht nur gefährlich, sondern auch ungewöhnlich und unheimlich. Cole war schnell mit der Waffe, doch gegen die drei hatte er sicher nicht den Hauch einer Chance. Er wollte es auch gar nicht darauf ankommen lassen.
Drei Schüsse erklangen aufeinanderfolgend. Ein Signal.
»Reiten wir«, befahl Dyson, der bereits den Sattelgurt festzurrte.
Karge Kiefern ragten aus dem Boden, der mit Geflechten bewachsen war. Bisher waren die großen Goldfunde südöstlich von Black Hawk entdeckt worden, hier war es noch menschenleer. Das würde sich sicher bald ändern, je mehr Goldsucher in die Gegend kamen. An der Stelle, wo sie die Pferde zurücklassen und zu Fuß weiter mussten, warteten Basel und Larry. Der Verletzte am Boden sah aus, als wäre eine Büffelherde über ihn hinweg gedonnert.
»Einer der Wächter«, erklärte Basel.
»Der andere?«, fragte Dyson.
Daraufhin fuhr sich Larry mit dem Daumen quer über den Hals. Cole fragte sich, ob Larry nicht sprechen konnte oder einfach mundfaul war. Er hatte noch kein einziges Wort gesagt.
»Hat er geredet?«
»Und wie«, antwortete Basel seinem Bruder. »Die Bande besteht aus vierzehn Mann, wenn man die beiden hier abzieht. Ihr Anführer ist Manoel Barrera. Ihr Lager liegt einige Meilen nördlich von hier. Mithilfe von gefangenen Goldgräbern wollen sie das Gold abbauen. Der erste Tote, den wir gefunden haben, und die beiden toten Weißen dort hinten«, er deutete mit dem Daumen seitwärts, »sind Postkutschenräuber, die die Frau gezielt entführt hatten, um an den Lageplan der Goldmine zu gelangen.«
Cole wusste, dass der Bandit dies sicher nicht freiwillig preisgegeben hatte, so wie er aussah. Basel gab Larry ein Zeichen. Dieser zückte sein Messer und beugte sich über den Banditen.
»Weißt du«, sagte Basel zum Verletzten, »mein Cousin kann zwar nicht mehr sprechen, seit ihn ein Kiowa in die Mangel genommen und ihm die Zunge rausgeschnitten hat, doch das Messer weiß er gut zu gebrauchen. Wir müssen uns noch über die Bewachung eures Lagers unterhalten.«
Bevor die Messerspitze das Gesicht des Banditen berührte, redete er. So gut es ihm eben mit geschwollenen Lippen und ausgeschlagenen Zähnen möglich war.
»Wer sagt mir, dass du nicht doch lügst?«
Larry drückte die Klinge fester auf die Wange, bis einige Blutstropfen hervortraten. Der Bandit schrie. Nicht vor Schmerz, sondern vor Angst, wie Cole annahm. Er trat einen Schritt nach vorne, um einzugreifen, doch Dyson hielt ihn zurück. »Das ist nicht eure Sache«, murmelte er.
Der Bandit stammelte dasselbe wie zuvor. Larry blickte zu Dyson, der knapp nickte. Cole sog hörbar die Luft ein, als Larry die Klinge über den Hals des Mannes zog und das Blut an dessen Kleidung abwischte. Der Bandit war tot, noch ehe Cole reagieren konnte. Dyson beobachtete Cole und Matt aus kalten Augen. Matt schien der Mord nicht zu berühren. Er musste komplett in die Frau vernarrt sein. Spätestens in diesem Augenblick wussten Dyson und Cole, dass sie keine Freunde wurden, weder jetzt noch später. Zu verschieden war ihre Auffassung von Recht und Gesetz. Es war unnötig, etwas zu sagen. Zu ändern war nichts mehr.
Missmutig ritt Cole hinter den anderen. Cole störte, dass sie nicht mal den Toten etwas Achtung entgegenbrachten und sie begruben, auch wenn sie zu Lebzeiten Verbrecher gewesen waren. Er grübelte darüber nach, ob er zu weich war oder die Wittlifs zu viel Menschlichkeit auf ihren rauen Pfaden eingebüßt hatten.
***
Jennifer ging zur Quelle, die vom Lager gut einsehbar war, um Wasser zu holen. Seit einigen Tagen befand sie sich im Lager der Banditen, war in Barreras Hütte als sein Eigentum gezogen. Solange sie dort wohnte, war sie vor den anderen sicher, deshalb musste sie dafür sorgen, dass sie seine Gunst nicht verlor. Vor Maria, der älteren Mexikanerin, die im Lager lebte, musste sie sich in Acht nehmen. Sie hasste Jennifer. Die Jüngere war nicht freiwillig hier. Carmen war in Jennifers Alter und irgendwo entführt worden. Sie sprach kein Englisch, nur Spanisch, das Jennifer nicht verstand. An der Quelle wusch Maria gerade ein Wäschestück. Sie erhob sich drohend, als Jennifer zum Wasser trat. Ob sie wollte oder nicht, sie musste sich ihren Platz wohl erkämpfen.
»Du hast hier nichts zu suchen, du weiße Hure«, fauchte Maria.
»Lass mich in Ruhe«, erwiderte Jennifer kalt.
Maria bückte sich, ergriff den nächstbesten Ast und erhob ihn zum Schlag. So schnell, wie Maria zuschlug, konnte Jennifer nicht reagieren. Der Ast traf sie am Arm. Aufstöhnend ließ sie den Wassereimer fallen. Als Maria ihre Hand erneut hob, um zuzuschlagen, ergriff Jennifer den fallen gelassenen Eimer mit der anderen Hand und warf ihn auf die keifende Mexikanerin. Der Holzeimer traf sie unglücklich auf Brust und Kinn und raubte ihr für einen Augenblick den Atem. Sie ging in die Knie. In ihrem Zorn krallte sie sich einen Stein und warf ihn nach Jennifer, doch sie duckte sich geschickt. Der Vorfall blieb nicht unbemerkt. Einige der Banditen kamen lachend näher mit der Aussicht auf eine Frauenschlägerei. Mit einem größeren Stein in der Hand sprang Maria zeternd auf Jennifer zu. Jennifer trat rückwärts, strauchelte über eine Wurzel und knickte ein. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Stein, der auf sie herabsauste. Im letzten Augenblick wurde die Hand weggerissen. Barrera war der Retter. Er herrschte die Mexikanerin auf Spanisch an, gab ihr links und rechts eine schallende Ohrfeige und stieß sie zu Boden. Ein scharfer Befehl von ihm und die Männer trollten sich. Es würde keinen Kampf geben.
»Bist du verletzt?«, fragte er Jennifer.
Sie bewegte vorsichtig ihren Arm, wo sie der Ast getroffen hatte. Es schmerzte, doch war erträglich. Sie schüttelte den Kopf. Er ließ sich nicht dazu herab, ihr aufzuhelfen. Diese Blöße gab er sich vor seinen Männern nicht. Maria warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, bevor sie verschwand. Er wartete, bis sie sich erhob und den Wassereimer füllte. Auch hier half er ihr nicht. Hinter ihr ging er ins Lager. Er war ein eigenartiger Mann. Er mordete eiskalt, doch ihr gegenüber war er noch nie gewalttätig geworden. Ihre wilde rotblonde Lockenmähne faszinierte ihn besonders. Sie musste das Bett mit ihm teilen, seine Hütte sauber halten, wobei er sie mit Respekt behandelte, solange sie unter sich waren, doch in Anwesenheit anderer war er kalt. Wie er sich ihr gegenüber auch verhielt, es änderte nichts daran, dass er ein Verbrecher und Mörder war und sie als seine Gefangene hielt.
***
Wie es weitergeht, erfahrt ihr in der nächsten Woche …