Rote Augen
Toktok, toktok.
»Milia, pschhhht. Hast du das gehört?«
Toktok, toktok.
»Nein Gerard, was meinst du?«
»Am Fenster, da war etwas eben. Ich gehe nachsehen.«
»Pass auf Gerard, du weißt, was man sich seit einigen Wochen erzählt und warum wir nach Einbruch der Dunkelheit das Haus nicht verlassen und es verriegeln sollen.«
»Ja Milia, weiß ich. Trotzdem muss ich nachsehen. Es ist UNSER Haus und meine Aufgabe, die, die hier wohnen, zu beschützen.«
Gerard schob den Vorhang zur Seite und den Rollladen nach oben. Seine Hände hielt er gegen die Scheibe, um draußen etwas sehen zu können, da der Schnee und das Mondlicht arg spiegelten.
»Hier ist nichts Milia«, beruhigte er seine Frau. »Wird wohl nur der Wind gewesen sein. Milia? Milia, was hast du, warum schaust du so …?«
Milia sah, was Gerard nicht gesehen hatte. Rot glühende Augen tauchten am Fenster auf. Starr vor Schreck und nicht in der Lage, auch nur einen Ton zu sagen, zeigte sie auf das Fenster. Gerard drehte sich um und wollte schnell den Rollladen herunterlassen, er war jedoch nicht schnell genug. Die Fensterscheiben zerbrachen und etwas Starkes, etwas Mächtiges zog ihn aus seinem Haus.
Milia stand auf. Wollte ihren Gerard noch an den Füßen packen. Sie erreichte ihn nicht mehr. Die roten Augen trugen ihn davon. Milia blieb am Fenster stehen und schaute hinterher. Zu groß war ihre Angst, dass da noch mehr waren von den »Dingern«, wie sie im Dorf genannt wurden. Das Letzte, was sie hörte, waren die Schmerzschreie ihres Gerard, die immer leiser wurden und irgendwann ganz verstummt waren.
Es schneite am nächsten Tag in der kleinen Stadt nahe Lyon. Ein wundervoller Tagesbeginn, waren sich die Leute auf dem Marktplatz einig, wenn man den Gesprächen lauschte. Unter ihnen befand sich auch Milia. Wenn man im Dorf nicht gerade über das Wetter sprach, waren die »Dinger« Gesprächsthema Nr. 1. Immer wieder hörte Milia Worte wie »Gerard«, »leichtsinnig«, »selbst Schuld«, »Gott sei Dank hat es nicht mich erwischt«, »er war sowieso ein seltsamer Mann« … Lange konnte sie dieses Gewäsch, ohne in Tränen auszubrechen, nicht aushalten. Schnell erledigte sie ihre Einkäufe und ging nach Hause. Sie setzte sich an den Tisch. Dort saß sie immer mit Gerard zusammen und frühstückten. Er las seine Zeitung, sie ihre Zeitschriften. Wenn beide fertig waren, unterhielten sie sich noch ein wenig und dann ging jeder seine Wege. Abends traf man sich wieder zum Essen, schaute danach fern oder spielte etwas und ging dann ins Bett, um zu kuscheln und einzuschlafen. Jetzt war das nicht mehr möglich. Ihr Gerard war weg. Für immer.
Nach einigen Wochen war es immer noch so, dass die Leute im Dorf über die kleine Familie redeten. Wilde Gerüchte machten die Runde. Anteilnahme oder Pietät waren den Menschen hier schon immer fremd gewesen. Nun erzählte man sich aber, dass Milia in der Zwischenzeit schon mit der Hälfte aller Männer hier im Dorf geschlafen hätte. Sie würde auch einen »Bastard« in ihrem Bauch tragen. Viel schlimmer war aber, dass ihre »Freunde« sich von ihr distanziert hatten. Das komplette Dorf mied sie. Immer seltener ging Milia zum Markt, und wenn, dann nur sehr kurz, um das Nötigste zu kaufen. Ihre Wut auf die Anwohner wuchs von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag.
Der Winter hatte Frankreich nun fest im Griff. Am Tag war soviel Schnee gefallen, dass er bis zum Fenstersims von Milias Haus reichte. Auch die Haustür war zugeschneit, sodass es Milia nicht möglich war, aus dem Haus zu kommen. Den ganzen Tag verbrachte sie drinnen. Irgendwann – es muss ca. 21 Uhr gewesen sein – schlief sie ein.
Toktok, toktok. Toktok, toktok, dieses Geräusch riss Milia aus dem Schlaf. Es kam, wie vor Wochen, vom Fenster. Früher hätte sie Angst gehabt, nachzusehen, was oder wer dieses Geräusch verursachte. Heute jedoch war ihr das egal. Sie war alleine, die Stadt mied sie. Was hatte sie also zu verlieren? Sie stand von ihrem Bett auf, ging ans Fenster und öffnete es. Sie atmete tief ein und aus, sodass eine riesige Atemwolke entstand. Dann holte sie noch einmal tief Luft: »So kommt und holt mich. Ihr Geschöpfe des Waldes«, schrie sie in die Nacht hinaus.
Toktok, toktok. Toktok, toktok. Das Geräusch wurde lauter und lauter, kam näher und näher. TOKTOK. Da war es wieder. Das Ding mit den roten Augen. Es war ihr so nah, dass sie die Augen genau sehen konnte. Es war, als würden Flammen darin aufleuchten. Für einen kurzen Moment verspürte sie Angst. Doch dann: »Nimm mich mit«, forderte sie es auf.
Ihre Schreie hatten die Leute im Dorf geweckt. Lampen erleuchteten die Häuser. Fenster wurden geöffnet. Doch alles, was die Menschen des Dorfes noch hörten, waren die schnellen Schritte des Dings. Kein Schrei von Milia, nur die Schritte und das Knacken des Unterholzes, als das Ding im Wald verschwand.
Das Ding lief mit Milia davon. Eigentlich müsste sie Todesängste haben, kehrte doch niemand zurück, der je entführt wurde. Sie hingegen fühlte sich geborgen. Sie schlief sogar auf dem pelzigen, warmen Rücken des Dings ein. Am nächsten Morgen erwachte sie und fand sich in einer Höhle wieder. Zu ihren Füßen lagen Dutzende Wölfe und es roch bestialisch in der Höhle. Milia stand auf und ging nach draußen, um frische Luft zu atmen. Draußen angekommen stockte ihr jedoch der Atem. Es mussten tausend Wölfe gewesen sein, die hier im Schnee lagen. Sprachlos und mit offenem Mund stand sie da. Solange, bis einer auf sie zukam. Mit seinen roten Augen funkelte er sie an. Sie vernahm eine Stimme in ihrem Kopf. »Milia. Dir wird hier nichts geschehen. Wir sind deine Familie. Du bist unsere Königin«, sprach die Stimme dunkel.
»Aber warum all die Toten. Warum mein Mann? Warum?«, fragte sie traurig und wütend zu gleich.
»Die Toten, weil wir Nahrung brauchten. Hör hin, hier im Wald gibt es keine Vögel und kein Wild mehr. Dein Mann, weil wir nur so an dich herankamen. Aber nun sind wir deine Diener, Milia. Zusammen können wir uns ein neues Reich schaffen.«
Milia erinnerte sich an die Dorfbewohner. Ein vorher nie empfundenes Hassgefühl kochte in ihr hoch. »Ich bin also eure Führerin und ihr gehorcht bedingungslos?«
Der Wolf nickte.
»Versammelt euch alle heute Nacht unten am Fluss. Ich habe einen Auftrag für euch.«
Die Dunkelheit brach herein. Licht gab es nur durch den hell leuchtenden Vollmond. Milia stand am Fluss, mehr als 1000 Wölfe standen vor ihr.
»Geht in das Dorf heute Nacht. Treibt sie aus ihren Häusern. Ob Mann, Kind oder Frau. Alle müssen aus ihren Häusern. Treibt sie hierher zum Fluss und färbt sein kristallklares Wasser blutrot. Labt euch an ihren Eingeweiden.«
Die Wölfe hatten verstanden.
Legenden zufolge gab es am Fluss eine furchtbare Schlacht, bei der die Menschen die Unterlegenen waren. Nachdem die Wölfe alle Einwohner des Dorfes an den Fluss getrieben und sich an ihrem Fleisches und Blute berauscht hatten, warfen sie die Überreste in diesen Fluss. Seit dieser Zeit steht das Dorf leer. Niemand wollte mehr in der Nähe des Blutmondflusses leben.