Schattenwolf Band 5
1.
Cleveland, 23. Oktober 2010
Vin Bennett sah auf die Uhr. Drei Uhr nachmittags. Obwohl es noch ein paar Stunden dauerte, bis die Sonne unterging, und noch weitere Stunden, bis der Mond sich zeigte, spürte er dessen Kraft seit gestern Morgen sehr deutlich in seinem Blut. Vollmond. Er konnte den Einbruch der Nacht kaum erwarten. Alles in ihm drängte danach, in den Wald zu gehen und zu jagen. Die Jagd in der vergangenen Nacht war sehr befriedigend gewesen. Er spürte immer noch das warme Blut des Rehs über seine Zunge rinnen, den Geschmack der ebenfalls noch warmen, rohen Leber, die er mit Sheila geteilt hatte, und wie lecker das Fleisch des Herzens gewesen war.
»Mach Schluss und fahr nach Hause, Vin.«
Die Stimme seines Partners Ronan Kerry ließ ihn zusammenzucken. Er war so sehr mit seinen Gedanken im Wald gewesen, dass er vergessen hatte, dass er nicht allein in seinem Büro bei der Cleveland Homicide Division war.
Ronan nickte ihm zu. »Du weißt schließlich besser als ich, was passiert, solltest du zu spät kommen.« Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht.
Vin nickte. Obwohl Ronan ihm dadurch nur hatte zu verstehen geben wollen, dass er in jedem Fall rechtzeitig nach Hause kommen würde, auch wenn er erst um fünf Feierabend machte, war eben die Möglichkeit, dass er es einmal nicht schaffte, sein schlimmster Albtraum. Er hätte zwar die befürchtete Katastrophe abwenden können, aber er war noch nicht so weit, sich darauf zu verlassen, dass die »Rettungsaktion« funktionierte, weil er sie bis heute nicht hatte anwenden müssen. Wenn es nach ihm ginge, würde er das auch niemals tun.
Ronan räusperte sich. »Ich weiß nicht, ob es dir bewusst ist, Vin, aber manchmal, wenn du so geistesabwesend bist wie eben, dann«, er räusperte sich erneut, »verändern sich deine Augen. Sie bekommen einen raubtierhaften Schimmer. Also sie ändern die Farbe und werden mehr gelblich. Steht dir gut, aber …«
»Scheiße.« Nein, das war ihm nicht bewusst gewesen. Wahrscheinlich war das eine neue Phase der Entwicklung, die – was auch immer bedeutete. Er musste diesen Effekt jedenfalls schnellstens in den Griff bekommen. Schließlich änderten menschliche Augen nicht aus heiterem Himmel die Farbe; erst recht bekamen sie nichts Raubtierhaftes. Er hoffte, dass es ein »Gegenmittel« gäbe. Denn wenn nicht …
»Ich dachte an die Jagd vergangene Nacht«, erklärte er Ronan.
Sein Partner nickte. »Ist nur eine Theorie, aber diese Veränderung könnte damit zusammenhängen, dass du in solchen Momenten an Dinge denkst, die deine Instinkte ansprechen.«
Und wie die Gedanken an die Jagd und das Fressen der erlegten Beute seine Instinkte ansprachen! »Gib mir unbedingt ein Zeichen, Ronan, wenn mir das mal in Gegenwart anderer passieren sollte. Ich hoffe, es gibt eine Möglichkeit, das in den Griff zu bekommen.«
Wieder ein kaum wahrnehmbares Lächeln. »Davon bin ich überzeugt. Sonst würden deine Leute ständig irgendwo auffallen. Das ist aber nicht der Fall. Also …«
Vin nickte. »Danke.« Er packte seine Sachen zusammen. »Wir sehen uns dann morgen. Grüß die Kinder und gibt ihnen einen Kuss von mir.«
»Du Perverser«, scherzte Ronan. »Abby ist gerade mal sieben und Siobhan noch nicht mal vier.«
Vin lächelte. Ronan hatte zum ersten Mal wieder gescherzt, seit seine Frau Sarah vor vier Monaten bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Dieses Ereignis hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen. Er hatte zwei Monate mit den Kindern bei Freunden gewohnt, weil sie alle drei nicht ertrugen, im Haus der Kerrys zu sein mit Sarahs allgegenwärtigem Schatten darin. Vor sechs Wochen waren sie zurückgekehrt, weil die Kinder ihre vertraute Umgebung brauchten.
Aber Ronan litt entsetzlich unter dem Verlust. Vin wünschte nicht zum ersten Mal, er könnte irgendetwas tun, um seinem Freund zu helfen. Besonders da Ronan Vin vorbehaltlos Familienanschluss gewährt hatte, nachdem er sich vor gut einem Jahr von Carlsbad nach Cleveland hatte versetzen lassen. Und das, obwohl er Vins dunkles Geheimnis nur allzu gut kannte. Einen besseren Freund als Ronan gab es nicht auf der Welt.
Vin nickte ihm zu, nahm seine Jacke und hängte sich seine Tasche über die Schulter. Er stöhnte unterdrückt, als er Commander Owen Taggart kommen hörte, dessen entschlossener Schritt auf ausgerechnet dieses Büro zuhielt. Da Vin keine Chance hatte, zu verschwinden, ohne dass Taggart ihn sah, ging er langsamer zur Tür, um nicht auf der Schwelle mit dem Leiter der Homicide Unit zusammenzustoßen.
»Taggart«, erklärte er auf Ronans fragenden Blick.
»Ich decke dich«, versprach Ronan in einem Ton ruhiger Selbstverständlichkeit. Das hatte er schon oft getan, wenn Vin wegen der Bedürfnisse seiner Natur früher hatte Schluss machen müssen, um vor Mondaufgang zu Hause zu sein.
Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Taggart hielt sich nicht mit einer Begrüßung auf. Er strecke Vin den Finger entgegen.
»Genau der Mann, den ich suche.« Ein Blick auf Vins Tasche. »Machen Sie schon Feierabend?« Gefolgt von einem bezeichnenden Blick auf die Uhr.
»Nein, Sir. Ich bin auf dem Weg zu einer Zeugenbefragung. Danach wollte ich allerdings tatsächlich nach Hause.«
Die übliche Ausrede, mit der Vin und Ronan erklärten, warum Vin vorzeitig das Präsidium verließ oder sich von einem Tatort entfernte. Zwar hatte er sich inzwischen sehr gut daran gewöhnt, dort mit allen möglichen Gerüchen konfrontiert zu werden, aber wenn er zu lange Blut roch, überkamen ihn immer wieder einmal Gelüste, die er besser im Zaum halten konnte, wenn er sich eine Pause gönnte.
Zu seinem Glück fragte Taggart nicht nach, in welchem Fall Vin Zeugen befragen wollte. »Ich will Sie nicht lange aufhalten, Sergeant.«
Vin blickte Taggart fragend an. Zwar war er schon seit über drei Jahren Sergeant, wurde aber sowohl damals in Carlsbad wie auch hier immer noch als Detective geführt, weil keine zusätzliche Sergeantenstelle frei gewesen war. Vin nutzte die Gelegenheit, sich schon auf die Prüfung zum Lieutenant vorzubereiten, die er voraussichtlich im Februar ablegen würde. Dass er deswegen bei manchen Kollegen als karrieregeil galt, störte ihn nicht. Das Schicksal hatte ihm vor gut einem Jahr zwar übel mitgespielt, ihm gleichzeitig aber außergewöhnliche Fähigkeiten geschenkt, unter anderem eine gesteigerte geistige Aufnahmefähigkeit. Er wäre reichlich dumm, wenn er die nicht nutzte.
»Wie Sie wissen«, fuhr Taggart fort, »geht Sergeant Foster Ende Dezember in den Ruhestand. Er hat aber noch so viele Überstunden und Urlaubstage angehäuft, dass er uns morgen verlässt und nur noch mal vorbeikommt, um seinen Abschied zu geben. Das heißt, dass Sie nachrücken, Bennett. Ab morgen sind Sie auch offiziell Sergeant Bennett und nicht mehr Detective. Das entsprechend höhere Gehalt gibt es natürlich erst ab Januar, wenn Foster offiziell gegangen ist.«
»Ja, Sir. Das macht mir nichts aus.«
»Ich weiß. Sie sind einer meiner Besten. Sie haben das Zeug dazu, eines Tages meinen Platz einzunehmen.«
»Danke, Sir.«
Das würde aber niemals geschehen, denn in spätestens fünf oder sechs Jahren, vielleicht sogar früher, musste er Cleveland verlassen und mit einer neuen Identität untertauchen. Er selbst hätte zwar noch vier oder fünf Jahre länger bleiben können, aber seine Familie nicht. Sie waren zu ewigem Wandern verdammt. Aber solange sie einander hatten und es Freunde wie Ronan gab, die das Geheimnis kannten und trotzdem Freunde waren, ließ sich das ertragen.
»In welchem Fall befragen Sie Zeugen?« Taggart wechselte oft abrupt das Thema. Bei Verhören kam ihm das zugute, aber seine Mitarbeiter nervte das zuweilen. Und Vin musste nun doch zu einer entsprechenden Lüge Zuflucht nehmen.
»Der Matheson-Fall, Sir«, antwortete er und enthob Ronan damit der Notwendigkeit, ihn zu decken. »Der gegnerische Anwalt hat eine Andeutung gemacht, dass die Hauptbelastungszeugin selbst Dreck am Stecken haben könnte. Ich will das überprüfen, damit dem Staatsanwalt der Fall nicht um die Ohren fliegt.« In Wahrheit war der Fall wasserdicht und die Zeugin eine Musterbürgerin, die nicht mal einen Strafzettel wegen Falschparkens auf dem Konto hatte. Falls Taggart morgen einen Bericht sehen wollte, würde in dem nur stehen, dass Vin die Zeugin nicht angetroffen hatte und es später noch einmal versuchen würde.
»Sehr gut, Bennett. Viel Erfolg.«
»Danke, Sir.«
Vin nickte ihm und Ronan zu und verließ das Präsidium. Er hatte seinen Wagen auf dem Parkplatz um die Ecke in der West 3rd Street abgestellt, direkt gegenüber dem County Jail. Vor dessen Eingang parkte ein gepanzerter und vergitterter Wagen für einen Gefangenentransport. Bewaffnete Wachen sicherten ihn und die Umgebung.
Richtig, heute wurde Aidan Redfern nach Pittsburgh, Pennsylvania, ausgeliefert. Vin wunderte sich, warum der Wagen ihn nicht aus der Tiefgarage abholte, die direkt unter dem Gefängnis lag, bis er sich wieder daran erinnerte, dass es Drohungen gegen Redfern gegeben hatte. Angeblich hatte jemand geplant, ihn in der Garage mitsamt dem Transportwagen in die Luft zu sprengen.
Vin hielt das für ein Ablenkungsmanöver, vielmehr für eine Taktik, mit der erreicht werden sollte, dass der potenzielle Attentäter besser an Redfern herankommen konnte. In der gesicherten und überwachten Tiefgarage war das schwer möglich. Hier draußen dagegen wäre das vergleichsweise ein Kinderspiel. Ein Sniper auf dem Dach eines Gebäudes, in einem Zimmer, von dem aus man den Transporter ins Visier nehmen konnte … Aber das war nicht seine Angelegenheit. Die Leute vom Jail und die Security hatten das bestimmt alles abgeklärt. Und die Wachen um den Wagen herum wirkten sehr aufmerksam und hatten alle potenziellen Sniper-Standorte im Blick.
Vin konnte allerdings nur allzu gut verstehen, warum mehr als eine Person Redfern tot sehen und das Gesetz in die eigenen Hände nehmen wollte. Der Mann war ein eiskalter Killer, der in Pittsburgh seine Frau und ihren Anwalt ermordet hatte, weil er sich von beiden hinsichtlich der Scheidungsvereinbarungen über den Tisch gezogen fühlte. Anschließend war er nach Cleveland gekommen und hatte hier seine Schwägerin und deren Mann getötet, denen er die Schuld am Scheitern seiner Ehe gab.
Seine Frau war ebenso wie ihre Schwester Vorsitzende einer wohltätigen Familienstiftung gewesen, die der Vater der Geschwister, zu denen auch noch ein Bruder namens Luke Haskell gehörte, seinen Kindern vermacht hatte. Der Anwalt hatte die Rechtsgeschäfte erledigt. Die Stiftung kümmerte sich um die musikalische und künstlerische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen aus benachteiligten Familien und unterstützte in dem Zug auch deren Familien. Dadurch war die Familie Haskell hoch angesehen und die Haskell-Schwestern beliebt, weil sie sich auch persönlich um die Schützlinge der Stiftung kümmerten.
Dass Aidan Redfern sie ermordet, vielmehr eiskalt hingerichtet hatte, hatte die Öffentlichkeit schockiert und etliche gegenwärtige und ehemalige Schützlinge der Stiftung so sehr gegen ihn aufgebracht, dass viele von ihnen gedroht hatten, dafür zu sorgen, dass er den Tag seiner Verhandlung nicht erlebte. Da er zuerst die Morde in Pittsburgh begangen hatte, wurde ihm dort auch zuerst der Prozess gemacht, danach in Cleveland. Nicht dass das irgendetwas ausgemacht hätte, denn die Todesstrafe war ihm in Ohio ebenso sicher wie in Pennsylvania.
Und sollte er wider Erwarten freigesprochen werden, gab es immer noch Redferns Schwager Luke Haskell. Er leitete ein privates Sicherheitsunternehmen in Cleveland und hatte ebenfalls mehrfach gedroht, den Mörder seiner Schwestern eigenhändig zu erledigen, sobald er nur die Gelegenheit dazu bekäme. Da der Mann sich mit Waffen auskannte und ausgebildeter Scharfschütze war, musste man mit allem rechnen. Doch wie es aussah, war er nicht vor Ort.
Vin stieg in seinen Wagen und fuhr die zwanzig Meilen nach Sagamore Hills, einer zum Summit County vor den Toren Clevelands liegenden Township, die direkt an den Cuyahoga Valley National Park grenzte. Vins Haus lag mit der Rückfront quasi im Wald, was gewisse Dinge sehr begünstigte.
Die vollständige Story steht als PDF, EPUB und MOBI zur Verfügung.
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