Der Marone – Das Land der Quellen
Thomas Mayne Reid
Der Marone – Erstes Buch
Einleitung
Das Land der Quellen
Auf einer Wanderung durch die Westindischen Inseln führte mich der Zufall zu der Montego Bay an der nordwestlichen Küste von Jamaika.
Dort fand ich eine prachtvolle halbkreisförmige Meeresbucht, von lieblichen, mit hohen Wäldern bewachsenen Hügeln umschlossen. In der Mitte dieses Hügelhalbkreises lag eine Stadt, deren weiße Mauern und Fensterjalousien freundlich durch das Laubwerk tropischer Bäume hindurchschimmerten. Diese bestanden aus Palmen und Platanen, Zitronen und Zekropien1, Wunderbäumen und Christpalmen. An den zum Landesinneren gelegenen Berghängen erschienen Zuckerrohrfelder, Kaffeeanpflanzungen und die Einfriedigungen der Viehzüchter, in denen in prächtiger Lage stets ein großes Haus stand, das von schattigen Veranden und Orangenbäumen umgeben und von den duftigen Wäldern der einheimischen Gewürznelke umringt war.
Ruhig und still war die ganze Umgegend, dass, wenn ich auf die Stadt in der Montego Bay blickte, leicht hätte vermuten können, sie sei ein kleines Landstädtchen, hätten nicht einige hohe, am Horizont sichtbare Mastbäume deutlich gemacht, dass dies ein Seehafen ist. Im Hafen selbst war kaum mehr als ein Dutzend solcher hohen Spitzen zu erblicken, und diese geringe Anzahl, zugleich mit der außerordentlichen Ruhe in der ganzen Bucht, wo unser Schiff das Einzige in Bewegung war, bewies deutlich den Mangel aller Handelstätigkeit an diesem Ort sowie dessen sichtlichen Verfall.
Und so war es auch wirklich. Wäre ich indes ein halbes Jahrhundert früher in diesen Hafen gekommen, hätte ich sicher einen ganz anderen Anblick gehabt. Da hätte ich an hundert große Schiffe auf den Werften und vor Anker liegend oder im Hafen selbst mit vollen Segeln aus- und einfahrend wahrnehmen können, daneben schnell hin- und herrudernde Boote und Barken, am Ufer lustwandelnde Menschenmassen, überhaupt eine Szene lebhaften Geschäftsverkehrs, wie er in einem in fortschreitendem Gedeihen sich befindenden Handelshafen gewöhnlich ist.
Damals war die Zeit jener großen geistigen Bewegung, die wohl beispiellos in der ganzen Menschengeschichte, wo das Herz der Christenheit von wilden und heftigen Bestrebungen für Freiheit erfüllt, und wo die Geister, gleichsam mit Elektrizität überladen und wie das unterirdische Feuer eines Erdbebens sich zu einer furchtbaren Erschütterung aufsammelnd, mächtig aufgeregt waren, um die riesenmäßigen Kämpfe für die Sache der Freiheit zu bestehen, die manche Ketten an beiden Seiten des Atlantischen Ozeans gesprengt haben.
In gleicher Weise war dies aber auch eine Zeit großartiger Handelsunternehmungen, auf Jamaika als auch anderswo, obwohl der Handel längst seinen Höhepunkt erreicht hatte. Eine Krise war deshalb entstanden, der bald ein schneller Verfall nachfolgte.
Und wer möchte auch wohl wahrhaft den Untergang eines Handelsverkehrs bedauern, dessen reichlichster Gegenstand Menschenfleisch war? Ich sicher nicht! Die Menschheit aber hat im Gegenteil sich über einen solchen Verfall nur zu freuen.
Als das Schiff der Küste näherkam und die Umrisse aller Gegenstände genauer unterschieden werden konnten, wurde der ganze Schauplatz stets noch anziehender.
Die lebendigen Gestalten der am Strande oder in den naheliegenden Feldern sich bewegenden Menschen und Tiere, die verschiedenartigen buntfarbenen Anzüge, der glänzende Schimmer der tropischen Laubhölzer, die liebliche Symmetrie der Palmen und Wunderbäume, alles bildete eine Landschaft, welche mit Recht die Bezeichnung anmutig verdiente.
Indes blieb mein Auge nicht sehr lange auf diesem reizenden Anblick haften, da einige blaue, in größerer Entfernung sichtbare und sich auf dem noch blaueren Himmel abzeichnendere Bergspitzen noch viel anziehender waren, von denen ich wusste, dass es die Trelawneyberge seien. An und für sich hätten diese Berge meine Aufmerksamkeit schwerlich in hohem Grade anziehen können, denn ich hatte früher zu lange auf die Kordilleren der Anden geblickt, um über die blauen Berge Jamaicas erstaunt zu sein. Aber an diesen Bergen hing eine Geschichte, die, obgleich der Welt wohl nur wenig bekannt, dennoch für mich höchst anziehend, deren romantisches Interesse aber vielleicht viel reichhaltiger war als das, welches die verschwundenen Hallen Montezumas oder die zerstörten Paläste der Inkas gewähren.
Von all den höchst verschiedenen Menschenrassen und Nationen, die in den Annalen der neuen Welt auftreten, gibt es nämlich keine, die für mich anziehender wäre, als die der Maronen von Jamaica.
Jeder Freund der Freiheit, jeder Verteidiger der Gleichheit der Menschen muss enthusiastische Bewunderung für diese tapferen schwarzen Männer fühlen, die während zwei Jahrhunderten ihre Unabhängigkeit gegen die ganze weiße Bevölkerung der Insel aufrecht hielten.
Als ich nun auf die Trelawneyberge blickte, musste ich mir unwillkürlich die Geschichte jener unerschrockenen Saujäger ins Gedächtnis rufen. In jenen fernen Gebirgen hatten sie ihre Wohnsitze, dort standen die zerstreuten Hütten ihrer Bergstadt, jede von einem kleinen Bananenhain umschattet. Dort unter dem Schatten der Tamarinden mag die dunkelhäutige Mutter in Friedenszeiten in der Mitte ihrer schwarzen Kinder geweilt haben, den Taten ihres Vaters nachzueifern, während der Vater selbst fern im Wald den wilden Eber verfolgte. Dort mögen an einem stets noch heißen Abend muntere Gruppen neben ihren malerischen Wohnungen gestanden haben, um einem kriegerischen Koromanti- Gesang oder dem melancholischen Lied des Ebo zuzuhören, oder auch um den Kongotanz bei den aufregenden Tönen des Goombay und des Merriwang2zu tanzen.
Dort auch, wenn sie zum Krieg gezwungen, war der Schauplatz ihrer kühnen Heldentaten, dort lagen die Hahnengänge, jene merkwürdigen natürlichen Festungen, die sie so erfolgreich gegen eine zehnmal stärkere Zahl von Angreifern verteidigten, während jeder zu ihnen führende Pfad von dem Blut der überwundenen Feinde triefte und jede Bergschlucht durch Taten ritterlicher Wagnisse bezeichnet war, die mit denen aller Zeiten und aller Völker wetteifern.
Rühmt deshalb nicht Thermopylae, redet nicht vom Tell und dem Grütli und übergeht dabei die Maronen Jamaicas. In diesem kleinen Haufen, der zwei Jahrhunderte lang die blauen Berge verteidigte, waren Helden, des Ruhmes ebenso würdig als die Spartas oder der Schweiz. Nein, die Maronen waren niemals besiegt, ihr stolzer Geist hat niemals die Schmach der Niederlage gekannt!
Mit der Geschichte dieses einzig merkwürdigen Volkes frisch im Gedächtnis war es kein Wunder, dass sich meine Aufmerksamkeit auf die Trelarvneyberge konzentrierte, noch mag es sonderbar erscheinen, dass ich sogleich dahin wanderte, sobald ich meinen Fuß aus den Boden Jamaicas gesetzt hatte. Ich wollte aber nicht bloß aus der süßen Quelle der historischen Vorzeit trinken, sondern mich auch vergewissern, ob aus den durch Heldentaten geheiligten Stätten nicht noch einige Reste dieses bemerkenswerten Volkes vorhanden sind. Hierin wurde ich nicht getäuscht.
In den wilden Trelawneybergen fand ich bald, dass weder die Maronen selbst noch ihr Andenken ganz in Vergessenheit geraten waren. Obwohl gar nicht mehr als ein besonderes Volk angesehen – denn die Emanzipation hatte die Unterschiede zwischen ihnen und den anderen Schwarzen der Insel vollkommen beseitigt – traf ich dennoch manche ihrer Nachkömmlinge.
Ich war sogar so glücklich, einen ihrer wirklichen Stammväter anzutreffen – einen echten und wahrhaften Maronen, – einen weißwolligen siebzigjährigen Veteranen, der einer ihrer kühnsten Krieger gewesen war. Betrachtete ich die mächtigen Erinnerungsstücke dieses einst riesigen Mannes, so konnte ich wohl glauben, dass er der Held mancher verwegenen Kriegstat gewesen sein musste, und ich vermochte mir die Größe des Gebäudes vorzustellen, aus dem eine Ruine geworden war.
Ein besonderer, nicht erzählenswerter Zufall hatte mich mit diesem merkwürdigen Mann in Verbindung gebracht und mich zum stets willkommenen Gast seiner Gebirgswohnung gemacht, wo mehr als eine Unterredung über die Großtaten früherer Zeiten stattfand, ein Gegenstand, der für ihn eben so interessant war wie für mich.
Außer manchen anderen abenteuerlichen Begebenheiten, die ich aus dem Munde des alten Maronen erfuhr, schulde ich ihm auch die näheren Umstände der nun hier dem Publikum dargebotenen Geschichte. Sollte dieses sich beim Durchlesen derselben angenehm berührt fühlen, so müsste deshalb sein Dank weniger dem Verfasser der Geschichte, als dem alten ehrwürdigen Quaco gelten.