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Paraforce Band 18

Die Seelendiebin

1

Sarah Stone schaute ein ums andere Mal durch das große Schaufenster nach draußen, wo zu dieser Zeit reger Verkehr herrschte. Der vorherrschende Lärm wurde hier im Laden zu einem einschläfernden Brummen abgemildert. Sie liebte es, diesem Geräusch zu lauschen; schon als sie damals den kahlen, mit alten Tapetenfetzen übersäten Raum betreten hatte, war ihr klar gewesen, dass sie der seltsamen Magie des Verkehrslärms und des einströmenden Lichts der Sonne nicht widerstehen konnte. Und so wurde bald Sarah & Mel eröffnet, eine Boutique, die Sarah zusammen mit ihrer Schwester Melissa führte. Das Geschäft lag in der Wellington Street, nicht weit von der Themse entfernt. Oft war es so, dass sie den Duft des Flusses riechen konnten.

Es lag weder an der Blechlawine noch am Fluss, dass Sarah mit wachsender Beklommenheit nach draußen schaute. Ihr Blick fiel auf den Mann, der neben dem Schaufenster am Boden hockte, und sie verzog das Gesicht, weil der Anblick ihre dunkle Befürchtung bestätigte. Offenbar hatte der Mann Gefallen an diesem Platz gefunden; seit annähernd vier Stunden saß er nun schon dort und schien sich seither kaum gerührt zu haben, obwohl seine Sitzposition mehr als unbequem sein musste.

»Das hat uns noch gefehlt«, sagte sie.

»Ist er immer noch da?«, fragte ihre Schwester vom Nebenraum her, wo leise der Fernsehapparat lief.

»Ja.«

Melissa Stone kam herüber zu Sarah und seufzte leise. Sie schaute ebenfalls hinaus. »Der vergrault uns die Kundschaft. Wir müssen was unternehmen, damit er nachher nicht noch annimmt, dass wir ihn dulden.«

»Was sollen wir denn tun?«

Melissa zuckte mit den Schultern. Nach der Eröffnung der Boutique hatte niemand von ihnen mit Schwierigkeiten gerechnet, und schon gar nicht mit solchen. »Ich …« Sie schwieg, weil eine ältere Frau langsam vorüberschritt und mit offenkundigem Interesse auf die Schaufensterauslage schaute. Dann fiel ihr Blick auf den Mann, und sie ging mit einem Gesichtsausdruck, der Verdrossenheit oder Abscheu zeigte, weiter.

»Der vergrault uns die Kundschaft«, wiederholte Melissa. Sie schüttelte wütend den Kopf. »Wir sollten die Polizei rufen. Sollen die ihn da wegnehmen.«

»Die Polizei wird sich nicht für unser Problem interessieren«, wandte Sarah ein. »Man wird uns sagen, solange der Kerl nichts macht, das eine Gefahr für uns darstellt, begeht er auch keine Straftat.«

»Aber er muss weg«, meinte Melissa. »Der kommt uns teuer zu stehen.«

»Ich geh raus zu ihm und sag ihm, dass er verschwinden soll. Wenn man es den Leuten freundlich genug sagt, gehorchen sie meistens.« Sarah zog sich eine dünne Jacke über und zog die Tür auf. »Vorsichtshalber bleib hier stehen und komm mir zur Hilfe, wenn es nötig sein sollte.«

Es wehte ein leichter Wind, in dem der Geruch von Themsewasser und Abgasen mitschwang, aber es war nicht kalt. Dennoch zog Sarah fröstelnd die Schultern hoch. Vielleicht stimmte es, was sie vor wenigen Augenblicken ohne Überlegung erzählt hatte, und die meisten Obdachlosen und Vagabunden waren tatsächlich friedfertig und zogen weiter, wenn man es wünschte. Aber sicherlich war die Zahl der schwierigen Charaktere ebenso groß.

Nichts an der Gestalt machte den Anschein, als hätte sie Sarah bemerkt. Von der Statur her handelte es sich eindeutig um einen Mann, sonst jedoch konnte sie nichts von ihm sehen. Er trug einen ausgebeulten, sehr zerschlissenen Mantel und einen tief ins Gesicht gezogenen alten, vor Schmutz starrenden Hut. Die Arme hatte er vor dem Bauch verschränkt, als hätte er Schmerzen.

»Hallo«, sagte Sarah unsicher, als sie vor ihm stand. »Entschuldigen Sie. Sie müssen hier weg. Unsere Kundschaft …« Unsere Kundschaft legt keinen Wert auf Ihre Nähe! Sollte sie das sagen? Es klang verletzend. Aber auch, den Mann zu vertreiben, war eine würdelose Angelegenheit, egal welche Worte Sarah in den Mund nahm.

»Unsere Kundschaft hat sich beschwert«, sagte sie lahm. Ihr wurde bewusst, dass Melissa, wenn sie noch auf dem Posten war, ihr Zögern bemerken würde. Und nicht nur sie – einige Passanten blickten zu ihr herüber, ein Teil von ihnen blieb stehen. Sie musste die Angelegenheit jetzt beenden, schnell und sauber.

»Gehen Sie jetzt!«, fuhr sie den Mann mit ätzendem Unterton in der Stimme an.

Aber er reagierte nicht, als sei er mit seinen Gedanken völlig woanders. Vielleicht schlief er sogar, mit von Alkohol umnebelten Sinnen konnte das durchaus sein.

»Wenn Sie jetzt nicht augenblicklich gehen«, sagte sie trotzig, »muss ich die Polizei rufen!« Das Wort Polizei war für solche Leute doch sicher so etwas wie ein schrillendes Alarmsignal, auf das sie sofort reagierten.

Doch die Drohung verhallte wirkungslos.

Mit Mittel- und Zeigefinger tippte sie dem regungslosen Mann an die Schulter. Sie spürte den rauen Stoff des Mantels, das Fleisch und den Knochen darunter, dazu nahm sie einen eigenartigen Geruch wahr, der ihr in die Nase stieg. Sie konnte ihn nicht einordnen, aber es graute Sarah davor.

Sie riechen alle so, dachte sie schaudernd, sie riechen nach schlechtem Essen und Krankheit.

Unbewusst wischte sie ihre Finger an der Jacke sauber.

Mit einiger Verzögerung folgte eine Reaktion auf ihre sachte Berührung. Der Oberkörper des Mannes rutschte ein wenig zur Seite und der Hut wurde durch das etwas vorstehende Sims des Schaufensters vom Schädel gepflückt.

Der fremde Duft, der sich in Sarahs Nase eingegraben hatte, war ein Bote des Todes gewesen!

Sie schrie gequält auf und taumelte einige Schritte weg von dem Leichnam. Einige der Gaffer kamen heran, aber auch sie blieben schließlich geschockt stehen.

»Gütiger Himmel«, rief einer. Er blickte in die weißen Totenaugen der zusammengekrümmten Gestalt. Das uralte faltige Gesicht wurde durchpflügt von dicken Adern, an der Nase hatte ein Geschwür genagt, man konnte mühelos in die blutige Höhle hineinschauen. Der Mund stand halb offen und die Spitze der farblosen Zunge lugte hervor. Das Kinn und ein Teil des Mantels wiesen Spuren getrockneten Blutes auf.

»Der ist ja mindestens hundert Jahre alt.«


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