Fantomas – Kapitel 6.2
Der Amtsrichter beharrte auf seinen Standpunkt.
»Ihre Ermittlungen demonstrieren ausdrücklich die Tatsache, dass das Verbrechen von einer Person begangen wurde, die im Haus war.«
»Vielleicht«, sagte Juve, ich bin mir aber nicht ganz sicher. Die Wahrscheinlichkeiten erlauben uns nicht zu behaupten, dass es sich auch so zugetragen hat.«
»Erklären Sie sich.«
»Nicht so schnell, Monsieur«, antwortete Juve, erhob sich und fügte hinzu: »Hier gibt es für uns nichts mehr zu tun, Monsieur. Wollen wir lieber in das Zimmer gehen, in welchem Charles Rambert wohnte?«
Monsieur de Presles folgte dem Détective, und die zwei Männer betraten das Zimmer, welches ebenso einfach ausgestattet war wie das des jungen Mädchens. Der Amtsrichter ließ sich in einen Polstersessel nieder und zündete sich eine Zigarre an, während Juve auf und ab ging, alles mit einem flüchtigen Blick überprüfte und zu sprechen begann.
»Ich sagte vorhin ›nicht so schnell«, Monsieur, und ich werde Ihnen mitteilen, warum. Meiner Meinung nach gibt es in dieser Angelegenheit zwei vorläufige Punkte, deren Klärung von großer Wichtigkeit ist: die Art des Verbrechens und das Motiv, das den Verbrecher dazu veranlasst hat. Lassen Sie uns diese zwei Gesichtspunkte aufgreifen und uns zuallererst fragen, wie der Mord an der Marquise de Langrune im technischen Sinn ›klassifiziert‹ werden sollte. Die erste Schlussfolgerung, welche auf jeder aufmerksamen Person, die den Tatort besichtigt und die Leiche des Opfers untersucht hat, einen Eindruck hinterlassen hat, ist diejenige, dass dieser Mord in die Kategorie der maßlosen Verbrechen eingeordnet werden muss. Der Mörder scheint einen impliziten Abdruck seines Charakters auf seinem Opfer hinterlassen zu haben. Die bloße Heftigkeit der ausgeteilten Schläge beweisen, dass er ein Mann niederer Herkunft ist, ein typischer Verbrecher, ein Profi.«
»Wovon leiten Sie das ab?«, erkundigte sich Monsieur de Presles.
»Einfach von der Art der Wunde. Sowohl Sie als auch ich haben sie gesehen. Madame de Langrunes Kehle wurde fast vollständig mit der Klinge eines Schneidwerkzeuges durchtrennt. Breite und Tiefe der Wunde beweisen absolut, dass das Verbrechen nicht in einem Zug gemacht wurde. Der Mörder muss Amok gelaufen sein und mehrere Schläge ausgeteilt haben … muss die Schläge fortgesetzt haben, selbst als der Tod bereits eintrat oder zumindest unvermeidbar war. Dies zeigt deutlich, dass der Mörder einer Klasse von Personen angehört, die keinen Widerwillen für ihr entsetzliches Handeln verspüren sowie ohne Scheu und Aufregung töten. Auch die Art der Wunde zeigt, dass der Mörder ein starker Mann ist. Wie Sie zweifellos wissen, stoßen schwache Menschen mit schlaffen Muskeln mit einer Stichwaffe tief zu, um lebenswichtige Organe zu verletzen, während kräftige Mörder eine Vorliebe für Hiebe haben, die oberflächlich eine breite und grauenvolle Wunde herbeiführen. Zudem ist dies nur eine Folge von natürlichen Gesetzen. Der schwache Mann überlistet sein Opfer mit dem Tod, versucht sicherzugehen, einen genauen Punkt zu treffen, um direkt ins Herz eindringen oder eine Arterie durchtrennen zu können. Der brutale Mann schert sich nicht darum, wo er hinschlägt, stößt aber mit eigener brachialer Intensität zu, um seine Absicht umzusetzen.
Als Nächstes müssen wir die Art der Waffe bestimmen, mit denen der Mord begangen wurde. Wir können dies nicht, jedenfalls bis jetzt noch nicht. Ich habe Anweisungen erteilt, dass die Kanalisation entleert wird, der Teich und die Strauchrabatten untersucht werden, auch wenn unsere Suche nicht von Erfolg gekrönt sein sollte. Ich bin überzeugt, dass das Tatwerkzeug ein Messer war, eines dieser üblichen Messer mit einem Schnappverschluss, wie es die Pariser Apachen immer tragen. Wenn der Mörder eine Waffe gehabt und eine unmittelbare Gefahr für ihn bestanden hätte, würde er anstatt zu schneiden mit der Spitze in Richtung des Herzens zustechen. Aber er verwendete die Schneide, den Teil des Messers, welcher für gewöhnlich am meisten verwendet wird, um eine Schnittwunde herbeizuführen. Als die erste Wunde gemacht wurde, schlug er nicht irgendwo zu, sondern setzte sein Werk fort und vergrößerte die Schnittverletzung. Das ist ein Punkt von besonderer Bedeutung, dass dieser Mord mit einem Messer und nicht mit einem Dolch oder Stilett verübt wurde. Daher ist dies ein maßloses Verbrechen.
»Und welchen Schluss ziehen Sie aus der Tatsache, dass das Verbrechen so ein jämmerliches ist?«, hakte der Richter nach. »Offensichtlich, offensichtlich!«, murmelte er, von der Logik des Détective kein bisschen verlegen.
»Lassen Sie uns nun das Motiv oder die Motive des Verbrechens in Betracht ziehen«, setzte Juve fort. »Warum hat der Mann den Mord begangen?«
»Zweifellos zum Zwecke des Raubes«, sagte der Amtsrichter.
»Was wollte er stehlen?«, erwiderte Juve. »In der Tat wurden auf dem Tisch Madame Langrunes Diamantringe, ihre Uhr sowie ihr Geldbeutel gefunden und konnten von jedem gesehen werden. In den Schubladen, die aufgebrochen worden waren, fand ich andere Juwelen, mehr als 20 Pfund in Gold und Silber und drei Geldscheine in einem Etui. Wie sehen Sie es, Monsieur? Welcher jammervolle Räuber, der diese Kostbarkeiten in seiner Reichweite sieht, würde sie nicht mitnehmen?«
»Es ist wirklich erstaunlich«, gab der Richter zu.
»Sehr verwunderlich, und geht einfach, um uns zu zeigen, dass, obwohl das Verbrechen an sich selbst ein gängiges, schmutziges ist, der Verbrecher einen höheren oder auf jeden Fall anderen Ehrgeiz als ein gewöhnlicher Rohling gehabt haben könnte, der es dazu gebracht hätte, einen Raubmord zu begehen. Das Alter, die soziale Position und die Persönlichkeit von Madame Langrune machen es sehr unwahrscheinlich, dass sie Feinde hatte, das Objekt einer Rache war und deshalb beseitigt wurde. Und daher ist es sehr wahrscheinlich, dass sie ausgeraubt werden sollte. Doch was wollte man rauben? Gab es etwas Bedeutenderes, als Geld oder Schmuck zu bekommen? Ich gebe offen zu, die Frage nicht beantworten zu können, da ich genauso ratlos wie Sie bin.«
»Natürlich«, murmelte der Richter wieder, noch durch all diese logischen Schlussfolgerungen verwirrt.
Juve fuhr mit der Entwicklung seine Ideen fort.
»Und nun nehmen wir an, dass wir einer Straftat ohne jegliches Motiv als Ergebnis einiger krankhafter Impulse von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Vielleicht Monomanie oder vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit?
Auch wenn ich in diesem Fall infolge der Art dieses jämmerlichen Verbrechens die sehr ernste Schuldzuweisung gegen den jungen Rambert fallen gelassen habe, sollte ich geneigt sein, meine Meinung zu überdenken und halte es für möglich, dass er der Täter sein könnte. Wir wissen aus psychologischer Sicht ist sehr wenig über den jungen Burschen. In der Tat kennen wir ihn nicht. Aber es scheint, das seine Familie nicht ganz normal ist, und ich verstehe, dass der geistige Zustand seiner Mutter sehr prekär ist. Wenn wir für einen Moment Charles Rambert als hysterisches Subjekt betrachten, können wir ihn mit der Ermordung der Marquis de Langrune in Verbindung bringen, ohne dabei unseren Fall, dass das Verbrechen ein jämmerliches ist, zu zerstören. Für einen Mann mit mittlerer körperlicher Kraft müsste sich seine Muskelkraft während eines Anfalls von Geistesstörung mindestens um das Zehnfache erhöhen. Unter einem solchen Einfluss mit diesem könnte Charles Rambert mit all der erbitterten Brutalität eines Riesen diesen Mord begangen haben.«
»Ich werde bald im Besitz von absolut genauen Kenntnissen betreffs der Muskelkraft des Mörders sein«, fuhr Juve fort. »Erst kürzlich erfand Monsieur Bertillon einen Dynamometer, der uns ermöglicht, nicht nur festzustellen, welcher Hebel verwendet worden ist, um ein Schloss oder ein Möbelstück aufzubrechen, sondern auch die genaue Kraft der Person zu bestimmen, welche die Werkzeuge verwendete. Ich habe Problem des Holzes von der aufgebrochenen Schublade genommen und werde bald genaue Informationen bekommen.«
»Dies wird ungemein wichtig sein«, stimmte Monsieur de Presles zu. »Selbst wenn unsere gegenwärtige Gewissheit die Schuld von Charles Rambert beseitigt, sind wir imstande, herauszufinden, ob der Mord von irgendeinem anderen Bewohner des Hauses … oder zumindest davon ausgehen können, dass er von einem Haushaltsangehörigen begangene wurde.«
»In Bezug auf das«, sagte Juve, »können wir nach unserer Methode der Deduktion verfahren und alle von unserer Verdächtigungsliste nehmen, die ein gutes Alibi oder einen anderen Grund zu ihrer Verteidigung nachweisen können. Zur klärt sich vieles von selbst. Für meinen Teil finde ich es indiskutabel, die beiden alten Dienstmädchen Louise und Marie zu verdächtigen. Die Landstreicher haben wir in Gewahrsam genommen und später wieder freigelassen, da sie einfältige und einfache Personen sind und nicht in der Lage waren, sich minutiös Vorsichtsmaßnahmen eines mit subtiler Raffinesse ausgestatteten Mannes auszudenken, die Marquis zu ermorden. Dann gibt es Dollon. Aber ich glaube, Sie werden mir in dieser Ansicht zustimmen, dass sein Alibi ihn von jedem Verdacht freispricht, zumal die medizinischen Beweise belegen, dass der Mord in der Nacht zwischen 02:00 Uhr und 03:00 Uhr begangen wurde.«
«Bleibt nur Monsieur Etienne Rambert übrig«, streute der Amtsrichter ein, »denn an diesem Abend verließ er um 21:00 Uhr die Station d’Orsay mit dem Personenzug und erreichte Verrières sich um 06:55 Uhr. Er verbrachte die ganze Nacht im Zug, und daher mit diesem ankam. Er könnte kein besseres Alibi haben.«
»Eigentlich nicht«, antwortete Juve. »Wir brauchen uns also nur mit Charles Rambert beschäftigen.« Und erneut dieses Thema aufwärmend, fuhr der Détective fort, ein niederschmetterndes Armutszeugnis gegen den jungen Mann anzuhäufen. »Die Straftat wurde so leise begangen, dass nicht das geringste Geräusch zu hören war. Und deshalb muss sich der Mörder im Haus gefunden haben. Er kam an das Schlafzimmer der Marquise und kündigte ihr sein Kommen mit einem vorsichtigen Klopfen an der Tür an. Die die Marquise öffnete ihm die Tür und Bonn nicht überraschend, ihn zu sehen, den sie kannte ihn recht gut. Er ging mit ihr in ihr Zimmer und …«
»Ach, machen sie halblang«, warf Monsieur de Presles ein. »Sie tun so, als hätten die beiden etwas miteinander, Monsieur Juve. Sie vergessen, dass die Tür zum Schlafzimmer aufgebrochen war. Der beste Beweis dafür sind die Schrauben, die locker waren und buchstäblich aus dem Holz hingen.«
»Ich hatte damit gerechnet, dass Sie das ansprechen, Monsieur«, sagte Juve mit einem Lächeln. »Aber bevor ich darauf antworte, möchte ich Ihnen etwas Kurioses zeigen.«
Er ging den Weg über den Flur zum Schlafzimmer der Marquise voraus, in welchem wieder Ordnung herrschte. Der tote Körper war in die Bibliothek gebracht worden, welche sich in eine chapelle ardente verwandelt hatte. Zwei Nonnen passten auf den Leichnam auf.
Fortsetzung folgt …