Thorak, der Berserker
»Thorak!«
Stille, keine Antwort.
»Thorak, du verdammter, nichtsnutziger Bengel, wo steckst du denn jetzt schon wieder? Los, melde dich endlich!«
Abermals hallte die schrille Stimme meines Onkels über unseren verschneiten Bauernhof, der knapp eine Meile entfernt oberhalb von Kolding, der eigentlichen Siedlung, lag. Auf einem schmalen, lang gezogenen Hügelrücken standen dort Wohnhaus, Scheune und Viehstallungen beinahe Wand an Wand nebeneinander.
»Thorak!«
Erneut antwortete ich nicht. Statt dessen umschloss ich den hölzernen Schaft meiner wuchtigen Holzaxt so fest mit den Händen, dass die Handknöchel weiß unter meiner von Wind und Wetter gegerbten Haut hervortraten.
Mit einem letzten, wütenden Hieb teilte ich den oberschenkelstarken Holzkloben, der vor mir auf dem Spaltblock lag, geradezu mühelos in zwei Hälften. Ich spuckte in den knöcheltiefen Schnee, warf die Axt achtlos zu Boden und begann mit Widerwillen meine gespaltenen Holzscheite einzusammeln.
Die kalte Wintersonne von Eislanden stand nur noch wenige Fingerbreit über den verschneiten Hügeln des kargen Landes, als ich langsam hinter dem windschiefen Stall unseres Hofes hervorkam. Dabei hielt ich einen großen Stoß jener grob zurechtgeschlagenen Holzkloben in den Armen, die uns für die Nacht als Feuerholz dienen sollten. Angewidert musterte ich die schmächtige Gestalt meines einarmigen Onkels, der auf dem morschen Holzvorbau des Wohnhauses stand und sichtlich schwankte.
Kalte, hilflose Wut stieg in mir auf.
Es war anscheinend wieder einmal soweit!
Bork, mein Onkel, war trotz der frühen Abendstunden erneut total betrunken. Das hellblonde, verfilzte Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, der Bart war wie immer ungepflegt und strotzte geradezu vor Dreck und alten Essensresten. Seine gesamte Kleidung war längst zu schmutzstarrenden, nur noch aus Fett und Unrat bestehenden Stofffetzen verkommen. Die ganze jämmerliche Gestalt verströmte einen schier unerträglichen Gestank nach kaltem Rauch, Pisse und ungewaschenem Körper und machte genau denselben schäbigen Eindruck wie der gesamte Hof.
Der Winter hatte dem Dach des Wohnhauses unzählige Flecken aus dichtem Schnee aufgesetzt, aber dennoch konnte man das Fehlen etlicher Schindeln deutlich erkennen. Einige der Fenster waren zerbrochen und einfach mit Brettern zugenagelt.
Die altersschwachen Dielen der hölzernen Veranda gehörten schon längst ausgewechselt und im ganzen Haus zog es durch alle Fugen und Ritzen.
Überall wuchsen winterhartes Gestrüpp und Unkraut durch den schmutzig braunen Schneematsch des Vorhofes und aus dem angrenzenden, windschiefen Stall drang immer wieder das klägliche Brüllen und Muhen unserer einzigen Milchkuh, die endlich versorgt werden wollte.
Mir versetzte es jedes Mal einen Stich mitten ins Herz, wenn ich in der klaren Wintersonne von Eislanden den Zustand jenes Anwesen betrachtete, wo ich, seit ich denken konnte, gemeinsam mit diesem Mann und seiner Frau lebte.
Ich war ein Waisenkind, jedenfalls glaubte ich das bis zu diesem Tag.
Ich wusste nicht, wer meine Eltern waren. Ich wusste nicht, woher sie kamen oder wo sie gelebt hatten.
Ich wusste gar nichts.
Als kleines Kind hatte mich das nie gestört, doch im Laufe der Jahre kam ich mehr und mehr zu der Überzeugung, dass vieles anders geschehen wäre, hätte ich die Möglichkeit gehabt, bei meinen Eltern aufzuwachsen. Doch all meine Fragen nach meinem Woher und dem Warum wurden unter der Fuchtel meines unnachgiebigen Vormundes, den ich mit Onkel anzureden hatte, relativ bald unterbunden.
Bereits in frühester Jugend wurde mir dabei geradezu auf die harte Art beigebracht, weder zu weinen noch zu klagen. Ohne Rücksicht auf Traditionen und darauf, dass ich ein Findelkind war.
»Wird auch langsam Zeit, dass du endlich kommst«, bellte Bork ungehalten, als ich mich dem Wohnhaus näherte. »Sieh zu, dass du schleunigst Feuer machst. Das ganze Haus ist ja schon eiskalt.«
Ich nickte stumm und unterdrückte dabei nur mühsam meine Wut.
Während ich auf die Haustür zuschritt, schweiften meine Gedanken, wie so oft in all den Jahren, zurück in die Vergangenheit.
Schmerzvoll begann ich, mich wieder zu erinnern. An jenen Tag, als mein Onkel gemeinsam mit einigen Männern aus dem Dorf wieder einmal mit ihren zerbrechlich wirkenden Fischerbooten aufs offene Meer hinausgefahren war, um dort Beute zu machen. Die dreieckigen, spitz zulaufenden Rückenflossen einer Herde Gralphs waren am Horizont aufgetaucht und es versprach, ein guter Fang zu werden.
Aber die Jagd auf diese Kolosse war seit Menschengedenken ein lebensgefährliches Unterfangen. Mit ihren gewaltigen Kiefern und den unzähligen, scharf nach innen gebogenen Zähnen galten diese Tiere als die uneingeschränkten Herrscher des frostigen Meeres.
Ein einziger Schlag ihrer gewaltigen Schwanzflossen konnte ein Boot im nächsten Augenblick in ein Bündel unnützer Holzsplitter verwandeln, und so geschah an jenem verdammten Tag, was jeder insgeheim schon lange befürchtet hatte. Der Tod hielt reiche Ernte unter den Männern des Dorfes. Als ich kaum sechs Winter zählte, kehrte Bork, mein Onkel, als Einziger von der Jagd nach den Gralphs zurück.
Als ewig rechthaberischer und im Dorf schon immer als uneinsichtig geltender Mann bekannt, hatte er damals noch zu Beginn der Jagd damit geprahlt, die Gralphs, wenn es sein musste, nur mit einem Holzprügel bewaffnet anzugreifen. Aber am Ende dieser verhängnisvollen Jagd war aus ihm ein zutiefst verbitterter Fischer geworden, der mit sich und seinem Schicksal haderte. Von dem Moment an, als er seinen rechten Arm und fast alle seine Gefährten irgendwo da draußen auf dem Meer den scharfen Zähnen dieser Raubfische überlassen musste, war irgendetwas tief in seinem Innern zerbrochen.
Nach seiner Genesung begann Bork zunächst noch ohne zu Murren wieder seinen Pflichten als Oberhaupt der Familie nachzukommen. Aber nach und nach begann er zu resignieren. Schließlich wurde er zum Dauergast in der Dorfschenke und fing damit an, das Wenige, was der Hof und unser bescheidener Fischfang im nahen Meer noch abwarfen, in Alkohol umzusetzen.
Irgendwann kam dann der Zeitpunkt, als das Geld zum Weiterleben, mit dem inzwischen alltäglich gewordenen Schnaps dazu, einfach nicht mehr ausreichte. Bork begann, seine Frau um deren Erspartes willen zu schlagen. Die Wände im Haus waren dünn und ich lag manche Nacht wach und presste mir beide Hände auf die Ohren, um nicht mehr miterleben zu müssen, wie mein Onkel sich betrank. Dabei wurde sein Geschrei immer lauter und es endete schließlich jedes Mal damit, dass seine harte Hand immer und immer wieder auf den Körper seiner Frau klatschte. Seit dieser Zeit hatte ich das Weinen verlernt und ich begriff allmählich, dass ich stark sein musste, dass ich keine Eltern mehr hatte und das nur ich alleine mit meinem Leben fertig werden konnte.
Das war der Zeitpunkt, als ich anfing, meinen Onkel zu hassen.
Bis jetzt hatte ich noch stillgehalten und geschwiegen, aber irgendwann einmal hatte alles ein Ende. Viel zu lange hatte ich die Beschimpfungen und die strenge Hand meines Onkels über mich ergehen lassen müssen.
Aber jetzt war das Maß endgültig voll.
Bei den Göttern, ich war fünfzehn Jahre alt, gut sechs Fuß groß und gestählt von der mörderischen Schinderei auf dem Hof.
Beinahe verächtlich musterte ich meinen Onkel, der mir selbst auf Zehenspitzen nur noch bis auf Augenhöhe heranreichte. Instinktiv spürte ich, dass hier und heute eine Entscheidung fallen würde und irgendwie ahnte auch Bork meinen Unwillen.
»Was stehst du da herum und starrst Löcher in die Luft? Beweg gefälligst deinen faulen Hintern ins Haus und mach endlich Feuer.«
»Du könntest mir ja helfen«, erwiderte ich trotzig. »Oder endlich mal nach dem Dach sehen. Der Schnee kommt bereits durch jede Schindel, und wenn es so weitergeht, holen wir uns alle noch den Tod in diesem jämmerlichen Loch.«
Ärgerlich schnaubend blies ich eine widerspenstige Strähne meines fast blauschwarzen Haares aus dem Gesicht. Voller Verachtung und erfüllt von aufrührerischem Stolz starrte ich meinem Onkel direkt in die Augen. Innerlich war ich eiskalt und mit jedem Wort wurde ich sicherer und gefasster. Bork schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, sein Gesicht verzerrte sich und er starrte mich beinahe entgeistert an.
»Ich hör wohl nicht recht, du undankbarer Bengel. Was glaubst du eigentlich, wen du hier vor dir hast? Anstatt nur große Reden zu schwingen, solltest du mir besser öfter mal zur Hand gehen. Dann wäre mein Tagewerk eher vollbracht und ich hätte Zeit, wieder mehr nach dem Hof zu sehen.«
»Ich glaube nicht, dass ich dir in der Dorfschenke so eine große Hilfe wäre. Schnaps trinken gehört nicht zu meinen Stärken«, entgegnete ich mit ausdrucksloser Stimme, während das Gesicht meines Onkels bei diesen Worten puterrot anlief.
Urplötzlich schlug Bork zu.
Ich hatte das Gefühl, als ob mir durch die Ohrfeige fast der Kopf abgerissen wurde. Bunte Sterne tanzten vor meinen Augen, ich schmeckte Blut im Mund und der Schmerz trieb mir das Wasser in die Augen. Wie durch einen Schleier hindurch sah ich das Gesicht meines Onkels vor mir. Idiotischerweise redete ich mir gerade in diesem Moment ein, auf keinen Fall die Holzscheite fallen zu lassen. Die rechte Backe und mein rechtes Ohr brannten nun wie Feuer. Aber noch mehr brannte der Hass in mir.
»Du Rotzlöffel machst mir hier keine Vorhaltungen, pass nur auf, ich werde dich …«
Bork hob den Arm und versuchte, mir erneut ins Gesicht zu schlagen. Aber diesmal sprang ich einfach zur Seite.
»Hör auf damit, Onkel, du schlägst mich nicht mehr!«
Genau in diesem Moment kam meine Tante aus dem Haus gelaufen. Einst war sie sicherlich eine reizvolle Frau gewesen, aber das Schicksal ihres Mannes und all die bitteren Jahre danach hatte ihr Haar schon früh ergrauen lassen. Ihr verhärmtes Gesicht war bereits von unzähligen Falten durchzogen.
»Was ist denn hier los?«
»Halt dein Maul, du dummes Weib. Verschwinde lieber wieder in deiner Küche«, zischte Bork gereizt und schlug seine Frau, diesmal sogar vor meinen Augen. Seine Hand zuckte einfach instinktiv nach oben, seine knochigen Finger knallten klatschend auf ihren aufgerissenen Mund und augenblicklich lief ihr das Blut über die schmalen Lippen.
Als ich mit ansah, wie meine Tante blutend zurücktaumelte, dauerte es einen Moment, bis mir das Geschehen so richtig bewusst wurde. Ein Gefühl stieg in mir hoch, das ich bis heute nicht beschreiben kann. Eine eiskalte Hand schien sich um mein Herz zu legen und eine nie gekannte Wut erfüllte mich. In ohnmächtigem Zorn ließ ich die zurechtgehauenen Holzkloben, die ich noch immer in den Händen hielt, bis auf ein armlanges Stück einfach fallen. Instinktiv schlossen sich die Finger meiner Rechten um das kantige Holz und ohne zu denken, schlug ich ansatzlos zu.
Bork taumelte, stolperte rücklings und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen ungläubig an.
Erneut schlug ich mit aller Kraft zu.
Dabei legte ich meine ganze Wut und all den aufgestauten Zorn der vergangenen Jahre in diesen nächsten Schlag und das Kantholz in meiner Hand zerplatzte geradezu am Kinn meines Onkels.
Ich konnte die Knochen krachen hören.
Die Wucht des Aufschlages riss den Kopf meines Onkels mit elementarer Gewalt in den Nacken. Bork verdrehte die Augen und fiel wie ein nasser Sack einfach zu Boden. Das Gesicht meiner Tante war vor Entsetzen jäh verzerrt und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen.
»Was hast du getan? Um Gottes willen, sieh zu, dass du sofort von hier verschwindest! Wenn dein Onkel wieder zu sich kommt, wird er versuchen, dich zu töten.«
»Nein! Ich lasse dich hier nicht alleine zurück.«
Meine alte Tante schüttelte müde den Kopf und musterte mich dabei aus unendlich traurigen Augen.
»Lass gut sein, Thorak, aber von jetzt an bist nur noch du wichtig. Du musst weg von hier, du bist jung und für dich gibt es in dieser Welt da draußen tatsächlich noch eine Zukunft.«
»Und du?«
»Ich habe meine Zukunft damals, an jenem Tag begraben, als dein Onkel durch die Zähne der grausamen Gralphs seinen rechten Arm verlor. Mein Weg ist hier zu Ende, aber dir steht die Welt noch offen. Geh fort, pack deine Sachen und versuche dein Glück irgendwo in den tausend Königreichen von Kitani. Hier hast du nichts mehr zu erwarten. Aber bevor du gehst, folge mir noch ein letztes Mal. Komm mit ins Haus, ich denke, es ist nun an der Zeit, das ich dir ein Geheimnis verrate. Seit Jahren habe ich unten im Keller eine Truhe aufbewahrt, deren Inhalt dich interessieren wird.«
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