Jackson – Teil 34
Bildlich gesprochen betrug die Entfernung zwischen Leben und Tod in diesem Moment exakt fünf Schritte. Ich bekomme noch heute Schweißausbrüche, wenn ich nur daran denke, was passiert wäre, wenn dieser Vogel in seiner blauen Faschingsuniform damals tatsächlich auf den gelben Knopf gedrückt hätte.
Eine Metallwand wäre wie ein Fallbeil von der Decke gefallen und hätte sich binnen eines Herzschlags luftdicht mit dem Boden verbunden und unserer Flucht damit ein jähes Ende gesetzt. Man hätte den Gang mit Giftgas gefüllt und dann …
Game over! Linda und ich wären Geschichte gewesen.
Im Nachhinein betrachtet hatten wir es nur unserer rücksichtslosen Vorgehensweise zu verdanken, dass wir allem hätte und wäre zum Trotz überlebten.
Mit ein, zwei großen Sätzen sprang ich auf den Uniformierten zu, packte ihn am Oberarm und riss ihn von der Tastatur fort. Der Wachmann stieß einen wütenden Schrei aus. Seine Augen funkelten wütend, während er sich sofort mit rudernden Armen auf mich stürzte. Ich parierte seinen ersten Schlag und blockte gleich darauf den zweiten ab. Ehe der Mann noch einmal ausholen konnte, riss ich das Knie hoch.
Obwohl ich noch immer nicht im Vollbesitz meiner Kräfte war, entpuppte sich die Muskulatur meines Oberschenkels inklusive meiner Kniescheibe dennoch robuster als seine »Kronjuwelen«. Die Wache wurde weiß im Gesicht wie ein frisch gestärktes Leintuch, klappte zusammen und taumelte stöhnend zur Seite.
Inzwischen hatten sich die beiden Weißkittel von ihrer Überraschung erholt und rückten zusammen ebenfalls gegen mich vor. Einer der Wissenschaftler, es war eine Frau, fauchte dabei wie eine wütende Katze und streckte mir ihre Fingernägel entgegen.
Bevor sie mir damit die Augen auskratzen konnte, wurde hinter mir plötzlich eine Waffe repetiert.
Ein Schuss krachte.
Das Echo der Detonation rollte tausendfach durch den Gang. Keine Handbreit vor den heranstürmenden Weißkitteln stanzte die Kugel ein hässliches Loch in den Boden. Mit Pasquales Gewehr im Anschlag bewegte sich Linda langsam an mir vorbei.
»Keiner bewegt sich«, sagte sie kalt. Dann trat sie auf die in die Wand eingelassene Tastatur zu und drückte den immer noch wie wild aufblinkenden gelben Knopf. Augenblicklich wurde der Mechanismus zum Verschließen des Gangs in Kraft gesetzt. Nachdem die Metalltür mit einem dumpfen Laut eingerastet war, herrschte für einige Sekunden eine beinahe unwirkliche Stille.
Erst da realisierte ich, dass es uns gelungen war, den Kopf wieder einmal aus der Schlinge zu ziehen. Das tödliche Gas, der tobende Mob der Kreaturen, die Angst, hier am Ende des Weges angelangt zu sein, all das war nun hinter der Stahltür geblieben. Wir hatten wieder einmal überlebt, wenn es auch knapp gewesen war. In Gedanken blies ich geschätzte einhundert Kubikmeter Luft durch die Backen.
»Was zum Teufel soll das?«
Die Wissenschaftlerin, die vor wenigen Sekunden noch versucht hatte, mir die Augen auszukratzen, schien ihre Stimme als Erste wiedergefunden zu haben.
Sie war etwa Anfang vierzig, kaum mittelgroß und etwas hager. Ihr asketisch geschnittenes Gesicht wurde beherrscht von einer schwarz gefassten Brille und einer unglaublich spitzen Nase. Ihr dunkles, inzwischen von unzähligen grauen Strähnen durchzogenes Haar war streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf zusammengebunden. Bekleidet war sie mit einem dunklen Rock, der bis zu den Waden reichte, schwarzen Strümpfen und einem Pullover, der die Farbe von erkalteter Asche besaß. Zusammen mit dem offen stehenden weißen Kittel, der ihr mindestens zwei Nummern zu groß war, und ihren Halbschuhen, die vielleicht einmal vor einhundert Jahren modern gewesen sein mochten, ergab sie ein Bild, das genau meinen Vorstellungen von einer weltfremden, verknöcherten Wissenschaftlerin entsprach, die zwar fachlich eine Koryphäe sein mochte, aber vom wirklichen Leben soviel Ahnung wie eine Kuh vom Sonntag hatte.
Außerdem war sie garantiert entweder Jungfrau oder Kampflesbe, anders war ihre schroffe, abweisende Art Männern gegenüber kaum zu erklären.
***
Ich versuchte eine Erklärung, als mir die Tante sofort über den Mund fuhr.
»Ihr Geschwafel können Sie sich sparen, das interessiert mich nicht. Sie sind weder Wissenschaftler noch gehören Sie zu den Sicherheitsleuten. Ergo ist es besser, wenn Sie einfach die Klappe halten, solange sich Leute unterhalten, die wirklich kompetent sind.«
Der Blick, mit dem sie mich dabei musterte, war eine Mischung aus Ekel, Desinteresse und Verachtung. Ich war kurz davor, ihr die Meinung zu geigen, mir lag bereits eine Bemerkung in Richtung Minderwertigkeitskomplexe oder chronisch untervögelt auf den Lippen, als sich Linda in den Disput einmischte.
»Ich weiß zwar nicht, was Sie in diesem Teil der unterirdischen Anlage zu suchen haben, aber ich weiß, dass wir schleunigst nach oben gehen sollten.«
Der Kopf der eisernen Jungfrau ruckte sofort herum.
»Wer sind Sie eigentlich?«
Linda zückte einen Ausweis, so eine Art eingeschweißte Plastikkarte, die sie aus irgendeiner Falte ihrer Kleidung hervorgezaubert hatte, und erklärte ihren Status. Ich weiß heute nicht mehr, was sie alles an Argumenten vorbrachte, ich weiß nur noch, dass einige Worte darunter waren, bei denen ich nur Bahnhof verstand. Jedenfalls entspannte sich die Situation augenblicklich.
Emma Wayne, die Jungfrau, und ihr Kollege Bob Sheridan, die Namen erfuhr ich, während sich die beiden mit Linda unterhielten, zeigten sich ziemlich überrascht von den Vorgängen, die ihnen Linda schilderte.
Auch meiner einer spitzte bei Lindas Ausführungen die Ohren. Der Einzige von uns fünf, den das Ganze nicht zu interessieren schien, war Hopkins, der Wachmann. Er hatte noch immer mit seinen, nennen wir es einmal dicken Eiern, zu kämpfen.
»Soll das etwa heißen, dass die Forschungsobjekte der unteren Ebenen eine Art Eigeninitiative entwickelt haben und sich auf dem Weg hierher befinden?«
Linda zuckte mit den Schultern. »So könnte man es auch umschreiben. Wir wissen zwar nicht, wie viele von ihnen die automatischen Sicherheitseinrichtungen überlebt haben, aber wir wissen, dass es Dutzende sind, die irgendwo in den hinter uns liegenden Gängen frei herumlaufen.«
»Das bedeutet also, dass zumindest Ebene D und E nicht mehr unter Kontrolle sind.« Sheridans Stimme klang dabei derart nüchtern und emotionslos, als hätte er uns gerade mitgeteilt, dass bei Woolworth Socken im Angebot waren.
»Ich halte es daher für unabdingbar, dass wir uns sofort auf den Weg zu Ebene A machen.«
»Das kommt überhaupt nicht infrage!«, erwiderte Emma scharf. »Zuerst werden wir unsere Kollegen hier informieren, um dann gemeinsam mit denen auf der Ebene B Vorbereitungen zur Evakuierung zu treffen. Sie wissen doch, dass auf B das Adamprojekt kurz vor der Vollendung steht. Wir dürfen kein Risiko eingehen, nachher will es der Zufall, dass diese Ungeheuer vor der Wachmannschaft auf B eintreffen.«
»Blödsinn«, wiegelte Sheridan ab. »Es gibt keine Lücken im Sicherheitssystem auf den unteren Ebenen. Diese Monster werden weder die eisernen Stahltüren überwinden können, noch das Gas überleben. Also keine Panik, wir können weiterarbeiten wie bisher, um den Rest kümmern sich die Wachen.«
»Das haben Sie nicht zu entscheiden, Sheridan. Noch bin ich in der Hierarchie zwei Stufen über Ihnen. Was wir also gegen diese Bestien unternehmen, entscheide immer noch ich.«
Mein Magen stülpte sich um.
Monster hatten die beiden Wissenschaftler die bedauernswerten Kreaturen genannt, die in den unteren Gängen gefangen gehalten wurden, Bestien, Scheusale oder Ungeheuer. Dabei waren es doch sie, die durch ihre Forschungen und Experimente die armen Teufel erst dazu gemacht hatten. Meine Ansichten über Linda und ihre Konsorten wurden immer dunkler. Trotzdem hütete ich mich davor, mich in ihren Dialog einzumischen. Während ich einfach nur dastand und ihrem Kompetenzgerangel scheinbar teilnahmslos lauschte, erfuhr ich beinahe mehr von dieser seltsamen Welt, als mir Linda zusammengenommen in den letzten Tagen unseres Beisammenseins erzählt hatte.
Allmählich tauchten immer mehr Dinge aus dem Nebel der Geheimnisse dieser Welt vor mir auf. So erfuhr ich ganz beiläufig, dass dieses Hauptquartier anscheinend aus fünf hermetisch abgeriegelten Ebenen bestand, die nach den ersten Buchstaben des Alphabets benannt waren. Auf einer davon stand ein Projekt kurz vor dem Abschluss, das anscheinend von größter Wichtigkeit war. Egal, was es auch war, irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mehr darüber wissen sollte.
***
Meine Gedanken überschlugen sich.
Zwei Ebenen also und ich war wieder an jenem Punkt angelangt, an dem ich mit Linda den ersten Versuch gestartet hatte, diese Welt zu verlassen. Damals blieb es bei dem Versuch, deshalb wollte ich diesmal nicht wieder dieselben Fehler machen.
Was ich zuerst benötigte, war wieder eine Waffe. Am besten eine, die ich am Körper verstecken konnte. Ich war mir plötzlich sicher, dass mir dieser Umstand noch einmal sehr nützlich sein würde.
In diesem Moment meldete sich neben mir der Wachmann, Sie wissen schon, der mit den lädierten Kronjuwelen.
Er richtete sich auf, röhrte dabei wie ein waidwunder Hirsch und nestelte mit der Rechten umständlich an dem Halfter an seiner Hüfte.
Meine Blicke saugten sich förmlich an seiner Hand fest, die sich um den graumelierten Griff einer Pistole legten, huschten kurz zu dem Wissenschaftlertrio, das sich immer noch über irgendwelche Weisungsbefugnisse stritt, um dann wieder zu dem Wachmann zurückzukehren.
Sorry Kollege, dachte ich noch, das ist heute nicht dein Tag.
Dann schenkte ich ihm ein Lächeln voller Mitleid und hämmerte ihm gleichzeitig die geballte Faust an die Schläfe.
Der Kerl machte »Mmmh« und fiel um wie ein nasser Sack.
Ich beugte mich über ihn, nahm die Pistole an mich und durchsuchte ihn flüchtig. Wer solange wie ich im Sicherheits- und Wachgewerbe tätig ist, weiß, wo man suchen muss. Als ich mich wieder aufrichtete, zählte ein Reservemagazin und ein Lima One Survival Messer zu meinem Eigentum. Ich hatte die Waffen kaum in der Hosentasche und in meinem Rücken hinter dem Gürtel versteckt, als Emma Wayne mich fixierte.
»Was machen Sie da?«
Ich zuckte mit den Schultern und setzte eine Miene auf, als könnte ich kein Wässerchen trüben. »Ich kümmere mich um den Wachmann. Er hat anscheinend einen Schwächeanfall.«
Fortsetzung folgt …