Jimmy Spider – Folge 30
Jimmy Spider und die mordende Blume
Die Natur zeigte sich wieder einmal von ihrer schönsten Seite. Die Strahlen der kühlen Herbstsonne brachen sich in den letzten noch vorhandenen Blättern der Bäume. Ein leichter Wind ließ das Laub leise rascheln.
Ein Waldspaziergang konnte bei diesem Wetter ein echter Genuss sein, wären da nicht die überdimensional großen Blätter der Ahornbäume, die vor Feuchtigkeit triefend sich gemächlich zu Boden sinken ließen – leider stand ihnen dabei ausgerechnet mein Kopf im Weg. Blatt auf Blatt klatschte wahlweise auf meine Haare oder gar in mein Gesicht
Dummerweise hatte ich mit solcherlei Angriffen nicht gerechnet und deshalb auf einen Mantel mit Kapuze verzichtet. Auch ein Regenschirm gehörte nicht zu meinem Waffenarsenal.
Ich spielte schon mit dem Gedanken, den handlichen Mini-Flammenwerfer aus meinem Einsatzkoffer zu holen und ihn gegen die ungebetenen Tiefflieger einzusetzen. Allerdings würde dies bei der schieren Masse an umher segelnden Blättern schnell dazu führen, dass dem Gerät der Saft ausging. Und für das, was noch vor mir lag, würde ich diese Waffe sicher anderweitig einsetzen müssen.
Neben dem bereits erwähnten Flammenwerfer befanden sich in meinem Einsatzkoffer noch eine automatische Heckenschere, zwei Handgranaten und eine Flasche Wodka. Die übliche Ausrüstung eines Gärtners eben.
Der Grund, weshalb ich mich zur schönsten Zeit des Herbstes in diesem Wald in der Einsamkeit Cornwalls aufhielt, war ebenso simpel wie mysteriös. Eine Gruppe von Pilzsammlern war bei der Suche nach mehr oder weniger schmackhaften Schirmträgern auf eine riesige gelbe Blüte gestoßen. Als wäre diese Entdeckung nicht schon famos genug, mussten die arglosen Sammler auch noch feststellen, dass diese Blume sich vorzugsweise von Menschenfleisch zu ernähren schien. Drei von ihnen wurden von den Wurzeln der Pflanze gepackt und von der riesigen Blüte verschluckt. Ein wahrhaft blumiges Ende.
Den anderen vier arglosen Gesellen war hingegen die Flucht gelungen. Zufällig hatte sich unter den Glücklichen auch der Vater eines hohen Geheimdienstoffiziers befunden, welcher wiederum sofort die TCA alarmierte.
Und nun befand ich mich auf der Suche nach jenem mordlüsternen Ungetüm. Immerhin hatte ich eine ungefähre Wegbeschreibung erhalten, wo die Blume zu finden war. An der dritten Eiche links, hatte es geheißen. Zwei hatte ich bereits passiert.
Zumindest bisher hatte ich mit dem Zustand des Weges Glück gehabt. Offensichtlich hatte bereits der eine oder andere Traktor diesen Schleichweg genutzt. Wenigstens meine Füße waren wetterfest angezogen, obwohl die Wanderschuhe ihre besten Tage schon hinter sich hatten.
Nach einigen Minuten hatte ich auch die dritte Eiche erreicht. Die mächtigen Äste des Baumes waren recht einseitig gewachsen, als würden sie mir den Weg nach links in den Wald hinein weisen wollen.
Gerade wollte ich mich in Richtung Dickicht wenden, da ließ mich eine Stimme zusammenzucken. »Kann ich Ihnen helfen, Mister?«
Sofort drehte ich mich um die eigene Achse, um den Sprecher ausfindig zu machen. Die Stimme war aus Richtung der Eiche aufgeklungen. Und tatsächlich trat plötzlich hinter dem mächtigen Stamm ein Mann hervor. Sofort fielen mir seine zerschlissen wirkenden Klamotten auf. Sowohl Jacke als auch Hose sahen aus, als hätte jemand eine Kettensäge mit einem Bügeleisen verwechselt.
Sein Gesicht war von einem dichten schwarzen Bart bedeckt. Die zerzausten buschigen Haare hatten die gleiche Farbe. Seine Mundwinkel waren zu einem leicht arroganten Grinsen verzogen. Auffällig war zudem der äußerst stechende Blick, mit dem mich der Mann fixierte.
»Wenn es möglich ist, Mister …«, antwortete ich. »… könnten Sie mir vielleicht den Weg zu dieser riesigen Blume zeigen. Meine Frau freut sich immer über ausgefallene Sträuße.«
»Da muss ich Sie leider enttäuschen«, drang es gepresst aus dem Mund des Fremden hervor. »Sie werden Ihrer Frau keinen Blumenstrauß mitbringen können. Nie wieder.«
Dieses Gespräch verlief in eine recht unangenehme Richtung. Wie um meine düsteren Gedanken zu bestätigen, schossen plötzlich grüne Stränge aus den Fingern des Mannes hervor. Alle zehn hatten nur ein Ziel – mich.
Geistesgegenwärtig hechtete ich in die entgegengesetzte Richtung, um Zeit zu gewinnen. Noch im Laufen öffnete ich meinen Einsatzkoffer. Als ich einen einigermaßen passablen Abstand zu den mich verfolgenden Strängen gelegt hatte, ließ ich den Koffer zu Boden fallen und zog die Akku-Heckenschere hervor.
Das Gerät besaß ein gut sechzig Zentimeter langes Schwert. Damit würde ich diesem rabiaten Gemüse hoffentlich zu Leibe rücken können.
Schon zuckten zwei der Stränge auf mich zu. Sie hatten sich die letzten Meter bis zu mir über den Boden geschlängelt und schossen nun aus dieser Position nach oben.
Sofort schaltete ich das Gerät an und schlug aus dem Stand heraus zu. Die Klingen der Schere drangen durch die Stränge wie durch warme Butter und kappten sie augenblicklich. Die nun um ihre Spitzen gebrachten Stummel zuckten wild umher.
Nur Sekunden später griffen auch die anderen Stränge an. Ein wild wuselndes Bündel wollte meinen Hals umschlingen, doch erneut schlug ich zu und zerschnitt die Stränge.
Plötzlich wickelten sich zwei der Greifarme um mein linkes Bein. Aber so einfach machte ich es ihnen nicht. Ein Schlag mit der ratternden Heckenschere reichte aus, und die Verbindung zu dem Fremden war gerissen. Die Stränge, die mein Bein umwickelt hatten, verdorrten augenblicklich und zerfielen zu Staub.
Vor mir schienen sich die verletzten Würmer neu zu formieren. Doch bevor sie einen geordneten Angriff starten konnten, schlug ich erneut zu. Pflanzenfasern und grünlicher Saft flogen mir förmlich um die Ohren.
Bevor mein Gegner reagieren konnte, sprintete ich mit erhobener Heckenschere auf ihn zu.
Der Mann schien von meiner Aktion kein bisschen geschockt zu sein. »Das war ein Fehler«, hauchte er mir zu, bevor er seinen Mund weit aufriss.
Eine armdicke Wurzel, die wohl mal eine Zunge gewesen war, schoss mir förmlich entgegen.
Offenbar hatte man den Typen aber nicht mit Zielwasser gegossen, denn ein kleiner Sprung nach rechts reichte aus, um dem Strang zu entgehen. Die Zunge flog meterweit an mir vorbei.
Bevor sich die Wurzel auf die neue Situation einstellen konnte, ging ich selbst zum Angriff über.
Ich verabschiedete mich von dem Gedanken, noch einen Menschen vor mir zu haben. Möglicherweise war er einer der Pilzsammler gewesen, die der Monsterblume zum Opfer gefallen waren.
Ein Hechtsprung brachte mich auf etwa einen halben Meter an den Veränderten heran. Mit aller Kraft schlug ich von rechts nach links zu. Die Klingen der Heckenschere drangen spielend leicht in den Hals des Fremden ein. Grünes Blut spritzte mir entgegen, während die Schere den Kopf vom Körper des Mannes kappte.
Der Schädel schlug links neben dem Torso auf, der sich noch immer auf den Beinen hielt. Man sagt ja oft ‚Unkraut vergeht nicht!‘, aber dass ich mal die leibhaftige Bestätigung dafür erhalten würde, hätte ich auch nicht für möglich gehalten.
Aus dem Stumpf des Halses drangen weitere Pflanzenstränge hervor.
Auf einen noch längeren Kampf wollte ich mich nicht einlassen. Deshalb schlug ich sofort drei Mal zu. Den Buchstaben, den ich dabei in das Fleisch des Pflanzenmonsters schnitt, hätte einem legendären mexikanischen Maskenmann alle Ehre gemacht. Dummerweise befand sich kein Publikum in der Nähe, um meine Kunstfertigkeit entsprechend zu würdigen.
Immerhin reichten meine Schläge aber aus, um meinem Gegner endgültig den Rest zu geben. Die zerschnittenen Reste der Mutation fielen in sich zusammen, zuckten noch kurz, bis sie auf dem Waldboden liegend verdorrten.
Ich atmete einmal tief durch, bevor ich die Heckenschere wieder abstellte und mich auf den Weg zu meinem Einsatzkoffer machte.
Dabei stellte sich mir die Frage, was bloß mit den Pilzsammlern geschehen war. Ein Mann und zwei Frauen waren gefressen worden – zumindest war ich davon ausgegangen. Jetzt aber schien es, als wären sie … verändert worden. Mit was also hatte ich es hier zu tun? Öko-Zombies? Wer-Blumen?
Schließlich erreichte ich meinen Einsatzkoffer, schloss ihn wieder und hob ihn an. Nun würde mich hoffentlich nichts mehr von der Suche nach der Quelle allen Übels in diesem Wald abhalten.
Oder doch? Plötzlich raschelte etwas vor mir in den Büschen. Die Heckenschere schlagbereit erwartete ich den Ankömmling.
Aus den Büschen trat – eine nackte Frau. Dass ich hier auf ein geheimes Nudistencamp gestoßen war, bezweifelte ich. Bei der Dame musste es sich um eine der beiden Vermissten handeln. Doch die Frau schien mir nicht so, als würde sie mir ein Bündel Pflanzenstränge entgegen schicken.
Ich blickte ihr in die Augen und sah Furcht in ihnen schimmern.
»Bitte … bitte …«, flüsterte sie, als sie mir entgegen torkelte.
Bevor sie zu Boden stürzen konnte, fing ich die Frau auf und lehnte sie an einen Baumstamm.
»Beruhigen Sie sich, Miss. Es wird alles gut.«
Mit großen Augen blickte sie mich an. »Wer … sind Sie?«
»Ich heiße Jimmy Spider. Ich bin Polizist und hier, um Ihnen zu helfen.« Von meiner Tätigkeit als Mitarbeiter einer Geheimbehörde musste sie nicht unbedingt erfahren. Außerdem hätte sie das nur zusätzlich verwirrt. »Und mit wem habe ich die Ehre?«
»Loreen … Del … Monte.«
»Okay, Loreen, können Sie mir sagen, was passiert ist?«
Die Frau zitterte am ganzen Körper. Ich zog meine Jacke aus und legte sie ihr um. Ihre Stimme klang schwach, doch schließlich gelang es ihr, mir zu antworten. »Wir … wir waren zusammen Pilze sammeln. Tom, Julie und ich … wir wurden von dieser riesigen Blume gepackt und … verschluckt. Ich dachte, ich müsste sterben, doch dann … dann drang etwas in mich ein. Es … es muss eine Pflanze gewesen sein. Sie hat versucht, mich zu verändern … böse zu machen. Ich … ich verspürte schreckliche, mörderische Gedanken. Den anderen erging es genauso. Tom und Julie … sie haben sich schon verändert. Ich … habe mich gewehrt, aber es ist so schwer. Es … es tut so weh.«
Ich versuchte, beruhigend auf die Frau einzuwirken. »Es wird sich alles richten, Loreen. Bitte, Sie müssen sich zusammenreißen. Wenn Sie mich zu der Blume führen, kann ich dem ganzen Spuk vielleicht ein Ende setzen.«
Nach kurzem Zögern nickte mir die junge Frau vorsichtig zu. Erst jetzt erkannte ich, dass sie höchstens Mitte Zwanzig sein konnte. Ihr langes blondes Haar ließ sie zwischen dem welken Laub wie eine märchenhafte Fee wirken.
Langsam richtete sie sich auf. Dass sie mir nackt gegenüber stand, schien ihr nicht allzu viel auszumachen. Wahrscheinlich hatte sie das Erlebte zu sehr verstört, als dass sie sich über irgendwelche Vorschriften bezüglich Nudismus in der Öffentlichkeit Gedanken machen konnte.
Ein sanftes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie sich langsam herumdrehte und wieder in die Büsche trat. Ich hob die Heckenschere und den Koffer an und folgte ihr.
Dieser Wald war im Gegensatz zu vielen anderen noch sehr naturbelassen. Wild wucherten Büsche, junge Triebe und dicke Wurzeln zwischen den mächtigen Stämmen der alten Bäume. Ein Flecken beinahe unberührter Natur, durch den wir uns langsam einen Weg bahnten. Immer wieder scheuchten wir dabei kleine Vögel, Eichhörnchen und weiteres Getier auf.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass der Wald immer dichter wurde, je näher wir der Monster-Blume kamen. Ich spielte schon mit dem Gedanken, mit der Heckenschere etwas nachzuhelfen, als wir plötzlich auf eine kleine Lichtung traten.
Als hätte die Natur einem ihrer ungewöhnlichsten Abkömmlinge einen besonderen Raum geschaffen, thronte mitten auf der Lichtung, umgeben von hohen Grashalmen, eine riesige gelbe, geschlossene Blüte. Um sie herum wuchsen gewaltige Wurzeln und Stränge, die dieser Pflanze etwas Majestätisches gaben.
Wie angewurzelt blieb meine Begleiterin stehen. »Dort ist sie«, flüsterte sie mir zu.
Ich bat Loreen, sich etwas zurückzuziehen. Vorsichtig trat sie einige Schritte hinter mich.
Mit der rechten Hand öffnete ich meinen Einsatzkoffer. Zunächst steckte ich mir die beiden Handgranaten ein, dann ergriff ich den Mini-Flammenwerfer. Mit ihm und der Heckenschere in der linken Hand würde ich dem Ungetüm zu Leibe rücken können.
Bevor ich irgendetwas in diese Richtung unternehmen konnte, reagierte die Blume. Allerdings nicht so, wie ich erwartet hatte. Fast schon provozierend langsam öffnete sich die Blüte. Als die gelben Blätter nach unten gesunken waren, erkannte ich, was sie die ganze Zeit verborgen gehalten hatten: Eine weitere nackte Frau. Das musste diese Julie sein, über die mir Loreen berichtet hatte.
Langsam aber sicher kam ich mir im Angesicht derart viel nackter Haut vor wie in einem Porno. Allerdings schienen, wie ich aus einigen Gesprächen mit Mitgliedern der Dämonenjäger-Abteilung der TCA erfahren hatte, solche monströsen Gestalten ein Faible für unbekleidete Damen zu haben. Einerseits konnte ich es den Monstern nachfühlen, aber andererseits kam es mir schon recht merkwürdig vor.
Für einen Moment fragte ich mich, was wohl Tanja Berner zu meiner Begegnung mit diesen Damen sagen würde – falls ich ihr etwas davon erzählte.
Auch Julie trug dieses arrogante Grinsen zur Schau, das ich bereits bei dem bärtigen Mann (wahrscheinlich ihr Begleiter Tom) erlebt hatte.
»Das, was du getan hast, Fremder, war ein großer Fehler«, zischte mir die Nackte entgegen.
»Da erzählen Sie mir nichts Neues.«
Die Frau ignorierte meine Antwort. »Das, was du hier siehst, ist mehr als ein Wunder der Natur. Es ist ein lebendes Geschöpf, eine selbständig denkendes Wesen. Und wir sind nun ein Teil von ihm. Durch deine Tat hast du nicht nur einen von uns vernichtet, du hast auch dem, dem wir all dies zu verdanken haben, großen Schaden zugefügt. Diesen Frevel wirst du mit deinem Leben bezahlen müssen!«
Das hatte ich mir bereits selbst zusammenreimen können. Gespräche mit bösen Mächten verliefen meist in eine ähnliche Richtung, insbesondere, wenn ich diesen Mächten zu sehr auf die Pelle rückte. Oder wie in diesem Fall auf die Wurzel.
Statt weitere große Reden zu schwingen, griff Julie an. Diesmal schossen keine grünen Stränge aus den Fingern der Veränderten, dafür veränderten sich die gesamten Arme. Die Haut zog sich zusammen, die Finger verschmolzen, und schließlich entstanden aus den beiden Armen zwei dicke Wurzelstränge.
Sofort schossen die Greifarme auf mich zu.
Ich machte keine Anstalten, ihnen auszuweichen. Stattdessen aktivierte ich die elektrische Heckenschere und lief ihnen entgegen.
Mit einem Hieb durchtrennte ich den linken Wurzelstrang. Grüner Saft verteilte sich auf dem Waldboden, während meine Gegnerin schmerzerfüllt aufschrie.
Gleichzeitig reagierte auch die Blume. Ihre Wurzeln gerieten in Bewegung und walzten sich mir entgegen. Die veränderte Frau wurde fast zu Boden geworfen, als sich unter ihr die Blüte erhob und halb schloss.
Die Nackte sprang herab und damit auf mich zu. Diesmal reagierte ich zu langsam. Ihr zweiter Arm schoss auf mich zu und umschlang in Bruchteilen von Sekunden meine Beine.
Ein Ruck genügte, um mich zu Boden stürzen zu lassen. Lachend zog mich die Mutantin näher zu sich. Zugleich glitten die Wurzeln der Blume gefährlich nahe an mich heran.
Die ersten Ankömmlinge konnte ich noch mit ein paar Schlägen mit der Heckenschere abwehren, doch schließlich gelang es einem Strang, sich um meinen Brustkorb zu wickeln.
In diesem Moment setzte ich auch meinen Mini-Flammenwerfer ein. Ich brauchte nur auf einen kleinen Abzug zu drücken, und schon schoss der Frau eine gewaltige Feuerlohe entgegen.
Schreckliche Schreie erklangen, während die Nackte lichterloh brannte. Das Feuer sorgte dafür, dass ihr Körper förmlich zerschmolz, während sich ihr Arm von meinen Beinen löste.
Dies schien die Blume noch wütender zu machen. Die Wurzel, die meine Brust umwickelt hatte, riss mich empor und drückte unbarmherzig zu.
Der Schreck und die Schmerzen sorgten dafür, dass ich meine beiden Waffen fallen ließ.
Die Blüte schien nun ihre große Chance zu sehen. Sie schob sich immer weiter in die Höhe, umwallt von ihren zahlreichen Wurzelsträngen. Mittlerweile hatte ihr Körper bereits die Größe eines Einfamilienhauses erreicht.
Als die Blüte schon weit über mir schwebte, öffnete sie sich erneut und drang mir entgegen. Es schien, als wollte sie mich ebenso verschlingen wie die drei Pilzsammler. Allerdings hatte ich keine Lust, als lebender Komposthaufen zu enden.
Mit meinen Händen griff ich mir in die Hosentaschen und zog die beiden Handgranaten heraus. Die Abreißzünder biss ich in Ermangelung weiterer Hände einfach ab. Glücklicherweise besaßen die beiden Eier keine Aufschlag-, sondern Zeitzünder.
Mit aller Kraft warf ich sie dem herannahenden Ungetüm entgegen. »Guten Appetit!«, schrie ich dabei.
Und tatsächlich schnappten die Blütenblätter zu, als sie von den Granaten getroffen wurden. Die geschlossene Blüte schien unschlüssig, was sie mit dieser vermeintlichen Vorspeise anfangen sollte. Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, war es für sie bereits zu spät.
Mit einer gewaltigen Explosion wurde die riesige Blüte zerrissen. Der nun kopflose Pflanzenkörper zuckte orientierungslos umher und ließ mich schließlich einfach fallen. Zum Glück dämpfte der weiche Waldboden meinen Aufschlag etwas.
Sofort sammelte ich meine verlorenen Waffen auf, um der Mörderblume den Rest zu geben. Doch das war nicht mehr nötig. Die Zuckungen der Wurzeln wurden schwächer und schwächer, bis die letzten Bewegungen schließlich ganz erstarben. Die einst dicken Pflanzenstränge dünnten immer mehr aus und verdorrten schließlich vollständig.
Das also war geschafft. Ich legte den Flammenwerfer und die Heckenschere wieder ab.
Da fiel mir Loreen wieder ein. Sie hatte ich bei dem Kampf gegen das Ungetüm völlig vergessen. Augenblicklich drehte ich mich zu ihr um. Die nackte Frau stand noch immer an derselben Stelle, an er ich sie zurückgelassen hatte.
Lächelnd ging ich auf sie zu. »Es ist geschafft, Loreen. Sie brauchen keine Angst mehr zu haben.«
Die Frau reagierte nicht. Wie eine Statue stand sie vor mir. In ihrem ausdruckslosen Gesicht konnte ich keinerlei Emotionen ablesen. Erst, als ich ihr tief in die Augen blickte, erkannte ich so etwas wie … Trauer. Diesen Blick kannte ich von mir selbst. Wie oft hatte ich mir selbst im Spiegel in die Augen geschaut, in der Zeit, nachdem meine Eltern ermordet worden waren.
Was war nur mit ihr geschehen? Trauerte sie um die vernichtete Blume – oder gar über sich selbst?
Plötzlich veränderte sich die Frau. Ihre Haut schien sich aufzuspalten, doch statt dass sie vor meinen Augen zerfiel, verwandelte sie sich in etwas anderes – in zahllose, eng verbundene Pflanzenstränge.
Der Verbund stürzte mir entgegen. Vor meinen Füßen schlugen die Stränge auf. Ich hatte mich schon auf einen Angriff eingestellt, doch ich hatte mich getäuscht. Die Stränge drangen sanft in den Waldboden ein und verschwanden nach und nach, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war.
Ein äußerst unbefriedigendes Ende. Da hatte ich noch nicht einmal Lust, mir eine Siegerzigarre anzustecken. Stattdessen wollte ich nach der Wodka-Flasche greifen – und musste feststellen, dass sie zerbrochen war. Ein Schlag der mächtigen Wurzeln musste den Einsatzkoffer getroffen haben.
Man gönnte mir aber auch gar nichts …
Copyright © 2012 by Raphael Marques