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Fantomas – Kapitel 4-2

Der Sergent kam allein zurück und sprach den Gendarmen an.

»Der andere Mann ist entlassen worden«, sagte er. »Bezüglich Bouzille ist Monsieur de Presles der Auffassung, dass es nicht mehr notwendig ist, ihn zu verhören.«

»Bin ich dann auch aus der Sache raus«, erkundigte sich der Landstreicher mit Bestürzung, als er besorgt in Richtung des Fensters sah, gegen dessen Glas der Regen peitschte.

Der Sergent konnte ein Lächeln nicht zurückhalten.

»Nun, ich glaube nicht, Bouzille«, sagte er freundlich, »wir müssen dich einsperren. Es gibt da noch die kleine Angelegenheit mit dem Karnickel, weißt du. Komm jetzt, marsch, marsch! Bringen Sie ihn nach Saint-Jaury, Morand!«

Der Sergent ging in die Bibliothek zurück, um dem Richter zur Verfügung stehen zu können. Der Gendarm und Bouzille liefen raschen Schrittes durch den sintflutartigen Regen in Richtung Dorf. Allein in der Küche gelassen, löschte Louise ihre Lampe, da es trotz des widrigen Wetters etwas heller geworden ist, und führte Selbstgespräche.

»Ich habe das Gefühl, sie hätten besser daran getan, den anderen Mann festzuhalten. Er war ein schurkisch dreinschauender Kerl!«

Der traurige, deprimierende Tag verlief ohne weitere nennenswerte Ereignisse.

 

Charles Rambert und sein Vater verbrachten zusammen mit Thérèse und der Baronne de Vibray den Nachmittag damit, um große schwarz umrandete Briefe an die Verwandtschaft und Freunde der Marquise de Langrune zu adressieren und sie für den nächsten Tag zur Beerdigung einzuladen. Ein schnell zubereitetes Abendessen war serviert worden, an welchem die Baronne de Vibray teilnahm. Es war belastend, ihren Kummer mit anzusehen. Nach außen hin schien es fast unmöglich zu sein, Contenance zu wahren, doch hatte diese Frau im Innern ein sehr freundliches und weiches Herz. Für sie war es ganz selbstverständlich, Thérèse zu beschützen und zu trösten, mit dem Kind den ganzen vorherigen Tag in Brives zu verbringen und sich in den ortsansässigen Geschäften nach Trauerbekleidung umzusehen. Durch den schrecklichen Tod ihrer Großmutter, welche sie sehr liebte, war Thérèse furchtbar schockiert. Sie legte jedoch eine charakterliche Stärke an den Tag und hielt ihre Trauer dermaßen im Griff, da sie sich zum ersten Mal als Hausherrin um die Gäste kümmern und sie unterhalten musste. Die Baronne de Vibray scheiterte in ihrem Versuch, Thérèse davon zu überzeugen, die Nacht auf Querelles zu verbringen. Thérèse hatte ihre Absage damit begründet, auf das Chàteau zurückzukehren, um auf ihren Posten zu bleiben, wie sie es nannte.

»Marie wird bei mir sein«, versicherte sie der freundlichen Baronne, »und ich verspreche Ihnen, genügend Mut aufzubringen, um heute Abend schlafen zu gehen.«

So ging ihre Freundin um neun Uhr abends allein zu ihrem Wagen und fuhr zu ihrem Haus zurück. Thérèse ging mit Marie, der treuen Dienerin zu Bett, die wie die Köchin Louise seit ihrer Geburt bei ihr war.

 

***

 

Nach der Lektüre der Tagespresse mit ihren Nachrichten und häufig falschen Darstellungen der Beaulieu-Tragödie – für jedermann auf dem Schloss war es ersichtlich, dass es am Vortag von Reportern und Vertretern verschiedener Presseagenturen regelrecht belagert worden war – sagte Monsieur Etienne Rambert einfach zu seinem Sohn, aber mit deutlichem Ernst: »Lass uns nach oben gehen, mein Sohn. Es ist an der Zeit!«

An der Tür zu seinem Zimmer bot Charles seine Wange respektvoll seinem Vater an, doch dieser schien zu zögern. Dann, als ob einen überraschenden Entschluss fassend, ging er in das Zimmer seines Sohnes, anstatt sein eigenes aufzusuchen. Charles schwieg und ließ es bleiben, irgendwelche Fragen zu stellen. Er hatte bemerkt, dass sein Vater seit dem gestrigen Tag in Gedanken versunken zu sein schien.

Charles Rambert war sehr müde. Er begann sich auszuziehen. Er legte sein Jackett und seine Weste ab, schaute in einem Spiegel, um seine Krawatte zu lösen, und drehte sich um, als sein Vater zu ihm trat. Mit einer abrupten Bewegung legte dieser seine beiden Hände auf die Schultern seines Sohnes und sah ihm direkt in die Augen. Mit unterdrücktem, aber bestimmenden Tonfall sagte er: »Gestehe jetzt, unglücklicher Junge! Gestehe deinem Vater!«

Charles wurde leichenblass.

»Was?«, murmelte er.

Etienne Rambert fixierte ihn mit seinen Augen.

»Du warst es, der den Mord begangen hat!«

Die schallende Leugnung, welche der junge Mann auszusprechen versuchte, blieb ihm im Halse stecken. Er streckte seine Arme aus und tastete mit seinen Händen, um etwas zu finden, worauf er sich in seiner Ohnmacht abstützen konnte. Danach riss er sich zusammen.

»Einen Mord begangen? Ich? Du beschuldigst mich, die Marquise getötet zu haben? Das ist infam, gemein, furchtbar!«

»Leider, ja!«

»Nein, nein! Gütiger Gott, nein!«

»Doch!« Etienne Rambert beharrte darauf.

Die beiden Männer standen sich keuchend gegenüber. Charles gelang es, seine Emotionen in den Griff zu bekommen, blickte ununterbrochen auf seinen Vater und sagte vorwurfsvoll: »Und das ist wirklich mein eigener Vater, der das sagt, der mich verdächtigt!«

Tränen sammelten sich in den Augen des jungen Mannes, Schluchzer raubten ihm den Atem. Im Gesicht wurde er zunehmend fahler und schien einem Kollaps sehr nahe zu sein, sodass ihn sein Vater zu einem Stuhl begleiten musste, auf dem er vollkommen niedergeworfen für mehrere Minuten verharrte.

Monsieur Rambert lief im Zimmer auf und ab, nahm danach einen anderen Stuhl und setzte sich vor seinen Sohn. Eine Hand über seine Stirn streichend, als ob er einen schrecklichen Albtraum, welcher ihn heimgesucht hatte, wegwischen wollte, sprach er erneut.

»Komm schon, mein Junge, mein armer Junge, lass uns darüber leise reden. Ich kann nicht sagen, wie es war. Doch gestern Morgen, als ich dich am Bahnhof gesehen habe, hatte ich von alldem eine Vorahnung: Du warst verstört, erschöpft, und deine Augen wirkten müde …«

»Ich sagte dir bereits«, antwortete Charles ausdruckslos, »dass ich eine schlechte Nacht gehabt hatte. Ich war sehr aufgeregt und habe nicht geschlafen. Ich war die ganze Nacht wach.«

»Beim Jupiter, ja!«, stieß sein Vater hervor. »Ich glaube dir dies! Aber wenn du nicht geschlafen hast, wie kannst du es erklären, dass du nichts gehört hast?«

»Thérèse hat auch nichts mitbekommen«, sagte Charles, nachdem er kurz überlegt hatte.

»Thérèses Zimmer liegt weiter weg«, erwiderte Monsieur Rambert, »während es nur eine dünne Wand zwischen deinem und das der Marquise gibt. Du musst etwas gehört haben. Du hast etwas gehört! Mehr als das … oh, mein Junge, mein unglücklicher Junge!«

Charles spielte nervös mit seinen Händen, große Tropfen kalten Schweißes standen ihm auf der Stirn.

»Du bist die einzige Person, die denkt, dass ich so ein schreckliches Verbrechen begangen habe«, sagte er, halb fragend.

»Die einzige?«, murmelte Etienne Rambert. »Vielleicht! Bis jetzt! Aber du solltest wissen, dass du während des Abends vor dem Verbrechen tatsächlich einen sehr schlechten Eindruck auf die Freunde der Marquise gemacht hast, nachdem Président Bonnet die Einzelheiten eines Mordes gelesen hatte, der in Paris begangen worden war, durch … jemanden. Ich habe es leider vergessen, wer es war.«

»Verflixt nochmal«, schrie Charles vor lauter Empörung. »Ich habe nichts Falsches gesagt. Willst du damit behaupten, nur weil ich an Geschichten von großen Verbrechern wie Rocambole und Fantômas interessiert bin, dass ich …«

»Du hast einen erbärmlichen Eindruck hinterlassen«, wiederholte sein Vater.

»Du verdächtigst mich auch. Ist das so?«, fragte Charles. »Du kannst mir doch deswegen keine Vorwürfe machen«, sagte er erwärmend. »Du musst Tatsachen und Beweise haben.« Er sah seinen Vater an und erhoffte sich von ihm Verständnis und Zuneigung. »Hör mir zu, Papa, ich weiß, dass du mir glauben wirst, wenn ich dir schwöre, dass ich unschuldig bin. Aber du glaubst den anderen Leuten …«

Monsieur Etienne Rambert saß mit dem Kopf zwischen seinen Händen in Gedanken versunken einfach nur da. Nach kurzem Schweigen antwortete der unglückliche Vater. »Leider gibt es Beweise gegen dich», sagte er endlich. »Und auch erdrückende Beweise!«, fügte er mit einem kurzen Blick auf seinen Sohn hinzu, der ihn zu pulverisieren schien.

»Schreckliche Beweise! Bedenke, Charles: Die Richter haben infolge ihrer Untersuchungen befunden, dass niemand in der verhängnisvollen Nacht in das Schloss kam. Du warst der einzige Mann, der dort schlief. Und nur ein Mann wäre in der Lage, ein solch schreckliches Verbrechen, solch ein ungeheuerliches Stück Gemetzel zu begehen!«

»Möglicherweise könnte jemand von außen eingedrungen sein«, drängte der unglückliche Junge, als ob er versuchen würde, aus dem Netz zu entkommen, in welches er sich verstrickt hatte.

»Niemand hat dies getan«, beharrte Etienne Rambert darauf. »Außerdem, wie willst du es beweisen?«

Charles schwieg. Er stand mit schlotternden Beinen und eingefallenen Augen in der Mitte des Raumes, scheinbar verblüfft und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, seinen Vater anstarrend. Mit gesenktem Kopf und die Schultern gebeugt, als ob er eine schwere Last zu tragen hätte, zog ihn Etienne Rambert in Richtung des Ankleidezimmers, das sich unmittelbar neben dem Schlafzimmer befand.

»Komm«, sagte er mit fast unhörbarer Stimme, »folge mir.«

Er trat ins Ankleidezimmer, hob die Handtücher an, welche im untersten Fach des Waschtisches lagen, suchte ein sehr zerknittertes aus und hielt es seinem Sohn hin.

»Schau dir das an!«, sagte er in einem leisen, schroffen Ton.

Als er das Handtuch gegen das Licht hielt, sah Charles Rambert rote Blutflecke. Der Junge war im Begriff, in einige Beteuerungen auszubrechen, doch Etienne Rambert bremste ihn gebieterisch.

»Leugnest du es noch? Unglücklicher, elender Junge, das ist der überzeugende, unwiderlegbare Beweis für deine Schuld! Diese Blutflecke erklären es. Etwas wird immer übersehen! Wie erklärst du dir das Vorhandensein von blutbesudelter Bettwäsche in deinem Zimmer? Willst du immer noch abstreiten, dass dies für deine Schuld Beweis genug ist?«

»Aber ich streite es ab, ich streite es ab! Ich verstehe es nicht! Ich weiß nichts darüber!« Einmal mehr sank Charles Rambert in den Sesel nieder. Der unglückliche Junge war nichts als ein menschliches Wrack, ohne Stärke zu zeigen oder ein Wort von sich zu geben.

Die Augen seines Vaters ruhten auf ihm, beseelt von unendlicher Zuneigung und tiefstem Mitleid.

»Mein armer, armer Junge!«, murmelte der unglückliche Etienne Rambert und fügte hinzu, als ob er nur zu sich selbst sprechen würde: »Ich wüsste gern, ob du dafür nicht verantwortlich bist. Falls die Umstände dies hergeben, werde ich mich für dich einsetzen!«

»Bezichtigst du mich immer noch, Papa? Glaubst du wirklich, dass ich der Mörder bin?«

Etienne Rambert schüttelte hoffnungslos seinen Kopf.

»Oh, ich wünschte mir … ich wünschte mir«, rief er aus, »dass für die Ehre unserer Familie und im Interesse derer, die uns lieben, ich beweisen könnte, dass du angeborene, erbliche Tendenzen hast, für welche du nicht verantwortlich gemacht werden kannst. Warum konnte ich nicht auf deine Erziehung achten? Warum hat das Schicksal verfügt, dass ich meinen Sohn nur drei Mal in achtzehn Jahren zu Gesicht bekam und nach Hause komme, um ihn als Kriminellen vorzufinden? Oh, wenn die Wissenschaft doch die Tatsachen beweisen könnte, dass das Kind einer verdorbenen Mutter …«

»Verdorben?«, rief Charles aus. »Was meinst du damit?«

»Mit einer schrecklichen und geheimnisvollen Krankheit behaftet.« Etienne Rambert fuhr fort: »Eine Krankheit, vor der wir macht- und waffenlos sind – Wahnsinn!«

«Was?», rief Charles, mehr und mehr bestürzt und verwirrt. »Was heißt das, Papa? Bin ich noch bei Verstand? Meine Mutter verrückt?« Und dann fügte er verzweifelt hinzu: »Mein Gott! Du musst recht haben! Oftmals war ich von ihrem seltsamen, rätselhaften Aussehen und Verhalten erstaunt! Aber ich … ich habe all meine Sinne beisammen. Ich weiß, was ich tue!«

»War es vielleicht eine erschreckende Sinnestäuschung«, schlug Etienne Rambert vor, »ein Moment der Verantwortungslosigkeit?«

»Nein, nein, Papa! Ich bin nicht verrückt! Ich bin nicht verrückt! Ich bin nicht verrückt!«

In seiner großen Aufregung kam es dem jungen Burschen nicht in den Sinn, den Klang seiner Stimme zu mäßigen, sondern er schrie das heraus, was in seinem Kopf vorging, schrie es in die Stille der Nacht, ungeachtet dieser schrecklichen Diskussion mit seinem Vater, den er geliebt hatte.

Auch Etienne Rambert senkte seine Stimme nicht. Der leidenschaftliche Protest seines Sohnes presste eine scharfe Antwort aus ihm heraus: »Wenn du recht hast, Charles, dann kann deine Tat nicht vergeben werden! Mörder! Mörder!«

Die zwei Männer schreckten zurück, als ein leises Geräusch im Korridor ihre Aufmerksamkeit erregte. Eine Stille umhüllte sie, welche sie nicht brechen konnten. Sie standen einfach nur sprachlos, nervös und überreizt da.

Ganz langsam öffnete sich die Tür des Zimmers und eine weiße Gestalt kam von draußen aus der Dunkelheit des Korridors zum Vorschein.

In einem langen Nachtkleid stand Thérèse da, die Haare zerzaust, mit blutleeren Lippen und vor Entsetzen geweiteten Augen. Das Kind zitterte am ganzen Körper. Als ob ihr jede Bewegung wehtun würde, hob sie schmerzvoll ihren Arm und zeigte auf Charles.

»Thérèse!« Etienne Rambert murmelte: »Thérèse, du warst draußen?«

Die Lippen des Kindes bewegten sich ein wenig. Es schien, als ob sie etwas mehr als nur menschliche Kraft aufbrachten. Ein Flüstern kam über ihre Lippen: »Ja …«

Mehr konnte sie nicht sagen. Sie rollte mit den Augen, ihr Körper begann zu schwanken. Und dann, ohne ein Zeichen oder einen Schrei, fiel sie starr und ohnmächtig zu Boden.

Ende des 4. Kapitels

Eine Antwort auf Fantomas – Kapitel 4-2