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Die abgetrennten Füße

Die abgetrennten Füße
Eine unheimliche, aber wahre Geschichte von der Pazifikküste Kanadas

Es war Mittag.

Der vom Meer herüberwehende Wind strich sanft über das Land. Das bleigraue Wasser des Pazifiks rollte in immer wiederkehrenden Wellen gegen die Felsenküste vor Vancouver Island.

Gischt spritzte über die Steine am Strand, Möwen zogen am Himmel krächzend ihre Kreise und die Sonne tauchte den Morgen in goldenes Licht.

Sandra Malone, die Managerin eines nahegelegenen Zeltplatzes, liebte es, an solchen Tagen am Strand spazieren zu gehen. Hier, inmitten der Abgeschiedenheit der Natur, gelang es ihr stets, neue Energie für ihren kräftezehrenden Job zu tanken.

Aber an diesem Morgen war irgendwie etwas anders.

Sie hatte das Gefühl, als ob die Vögel nervöser waren als sonst, auch das Rollen und Donnern der Wellen schien heute irgendwie bedrohlich zu klingen. Sandra schüttelte unwillig den Kopf und gab der letzten Nacht, in der sie wieder einmal viel zu wenig geschlafen hatte, die Schuld an ihren abstrusen Gedanken.

Aber dann sah sie den Schuh.

Es war ein schwarzer Adidas-Sportschuh.

Zuerst konnte sie nur seine Sohle erkennen, aber dann erreichte die Strömung den Schuh und drehte ihn um.

Sandra Malone hatte Mühe, sich nicht zu erbrechen.

Sie schloss die Augen und stolperte, als käme sie gerade aus einer Achterbahn. Sie drehte sich um und rannte wie von Furien gehetzt in ihr Büro zurück.

Dort rief sie die Polizei.

»Die beiden Knochen ragten noch heraus«, erzählte Sandra später dem kanadischen Sender CBS. »Der Schuh war mit Meeresalgen bedeckt und deshalb habe sie nicht sehen können, ob noch Gewebe vorhanden war. Bein und Fußknochen waren aber noch miteinander verbunden gewesen.«

***

Seit 2007 werden an der kanadischen Pazifikküste zwischen Britisch Columbia und Vancouver Island ständig Leichenteile angeschwemmt.

Immer sind es Füße, immer stecken sie in Turnschuhen.

Aktuell sind zwölf Fälle bekannt.

Die Behörden, allen voran die Forensikerin Gail Anderson, haben hierfür eine auf den ersten Blick stimmige Begründung parat.

Originalton Anderson:

»Wenn eine Leiche über längere Zeit hinweg im Wasser treibt, fällt der Körper auseinander und die Füße lösen sich vom Rest des Beines. Aber während sich die anderen Leichenteile allmählich auf dem Meeresgrund auflösen, treiben die in Sportschuhen steckenden Füße an die Oberfläche.«

Denn diese Theorie wurde auch von einer Forensikerin aus Neuseeland bestätigt, moderne Turnschuhe wirken durch ihre Materialbeschaffenheit wie Schwimmwesten.

Des Weiteren verweisen die Behörden auf die Psychiatrieklinik von White Rock, die in der Nähe der Fundstellen der Leichenteile liegt, da es erwiesen ist, das drei dieser Insassen dort in Selbstmordabsicht von der Fraser Brücke gesprungen waren.

Dennoch bleiben einige Fragen offen.

Der Forensiker und ehemalige Polizist Mark Mendelson aus Toronto zum Beispiel behauptet:

»In diesem Fall gibt es meiner Meinung nach einfach zu viele Zufälle. Trägt wirklich jeder Sportschuhe, der sich von der Fraser Brücke stürzt? Außerdem sind insgesamt nur fünf der zwölf Fälle Selbstmördern oder Psychiatrieinsassen zuzuordnen. Ich bin nach wie vor der Meinung, solange die Pathologen keinen einwandfreien Beweis vorlegen, dass sich die Füße ohne Fremdeinwirkung vom Körper gelöst haben, solange muss man von einem krummen Ding ausgehen.«

Die Tatsache, dass es immer nur Unterschenkel sind, und dass sich die Funde in einem eng begrenzten Gebiet konzentrieren, deuten tatsächlich darauf hin, dass in Vancouver Island seltsame Dinge vorgehen.

Die Bevölkerung spricht inzwischen vom sogenannten Reebok-Ripper und die Behörden veröffentlichen täglich neue Theorien. Mal soll es sich um die Leichen jener Männer handeln, die vor Jahren mit einem Sportflugzeug ins Meer stürzten, mal soll es sich sogar um Leichenteile von Menschen handeln, die 2004 beim großen Tsunami in Südostasien ums Leben kamen und deren Körper hierher angeschwemmt wurden.

Was immer es letztendlich auch sein mag, der Geisterspiegel bleibt auf jeden Fall hier am Ball.

Quellenhinweise:

(s)