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Der silberne Bilderrahmen

Der silberne Bilderrahmen

I

Es klingelte. Martha Weiser ging zur Haustür und öffnete.

»Guten Tag, Frau Weiser! Mein Name ist Mertes, und dies ist Frau Czerny von der Allgemeinen. Ich selber bin Hauptkommissar bei der hiesigen Polizei. Dürfen wir reinkommen?«

Martha Weiser schaute sich die beiden Leute, die sich gerade vorgestellt hatten, genauer an. Hauptkommissar Mertes war etwa fünfundvierzig Jahre alt, groß, schlank, trug eine Nickelbrille und kurzes angegrautes Haar. Frau Czerny von der Zeitung hatte langes braunes Haar, war mittelgroß, schlank, hatte braune Augen und war höchstens fünfunddreißig Jahre alt.

»Bitte!«, antwortete die Hausfrau und führte die Ankömmlinge ins Wohnzimmer, das am Ende des Flurs im Erdgeschoss ihres Hauses gelegen war.

Nachdem sich alle auf die Couch, beziehungsweise einen der Sessel gesetzt hatten, fragte Martha: »Was führt Sie zu mir?«

»Liebe Frau Weiser, ich kann mir gut vorstellen, dass Sie keine guten Erinnerungen an die Tätigkeit meiner Kollegen von der Polizei haben«, ergriff Hauptkommissar Mertes wieder das Wort.

»Das ist richtig«, sagte Martha Weiser. »Ihre Kollegen waren vor drei Jahren so von der Schuld meines Mannes überzeugt, dass sie ihn sofort verhaftet hätten, wenn …!«

»Wenn er nicht damals spurlos verschwunden wäre«, ergänzte Bernd Mertes lächelnd. »Die Kollegen waren damals so sicher, dass er Juwelier Marx um Rohdiamanten im Wert von fünf Millionen beraubt und ihn hinterher ermordet hatte, dass ihm keine Möglichkeit blieb, seine Unschuld zu beweisen. Man fahndete im ganzen Land, aber auch im Ausland nach ihm, jedoch ohne Erfolg.«

»Aber mein Mann war unschuldig!«, sagte Martha Weiser aufgeregt. »Davon bin ich noch immer überzeugt. Dann aber verschwand er spurlos, und meine beiden Kinder und ich waren allein.«

»Sie haben recht, Frau Weiser, Ihr Mann war tatsächlich unschuldig«, sagte Bernd Mertes bestimmt. »Ich selbst konnte dies vor einigen Tagen beweisen. Deshalb sind wir nun hier.«

»Genau«, griff die Journalistin in das Gespräch ein. »Der Herr Hauptkommissar möchte, dass Ihr Gatte offiziell rehabilitiert wird, und hat mich deshalb gebeten, einen Artikel über seine Unschuld in unserer Zeitung zu veröffentlichen. Um Ihnen dies mitzuteilen und Sie um ein Foto Ihres Mannes zu bitten, das unsere Fotoabteilung so bearbeiten soll, dass es in unserem Blatt erscheinen kann, sind wir zu Ihnen gekommen.«

»Es ist wunderbar, dass Martins Unschuld jetzt bewiesen ist«, freute sich die Hausfrau. »Ein Bild von ihm können Sie natürlich gern haben. Wie wäre es zum Beispiel mit diesem Foto da?«

Sie deutete auf ein Foto ihres Mannes, das in einem silberfarbenen Aluminiumrahmen über dem Sofa an der Wand hing.

»Das wäre genau richtig«, sagte Pat Czerny.

Martha Weiser nahm das Bild von der Wand, öffnete den Rahmen und hielt der Journalistin das Foto entgegen, die es sofort in ihre Tasche steckte.

Dann unterhielten sich die drei noch einige Minuten, bevor der Kommissar und Pat Czerny das Haus der Weisers wieder verließen.

II

»Carl, schick mir bitte das Foto von Martin Weiser auf meinen Rechner!«, sagte Pat Czerny zu ihrem Kollegen aus der Fotoabteilung, mit dem sie gerade telefonierte.

Pat saß an ihrem Computer in der Redaktion der Allgemeinen und hatte eben den Artikel über Weiser fertig geschrieben.

»Pat, stell dir vor, was passiert ist!«, sagte Carl aufgeregt. »Wir hatten das Foto gerade in der Mache, als der Kerl davon verschwand. Nun haben wir ein Foto vom Garten der Weisers ohne jeden Menschen darauf. Ist das nicht merkwürdig?«

»Allerdings«, sagte die Journalistin. »Das ist ja ganz komisch! Ich rufe mal Mertes von der Polizei an. Mal sehen, was der dazu sagt.«

Sie legte auf, wählte die Nummer des Kommissars und teilte ihm mit, was ihr Kollege Carl gesagt hatte.

»Das ist ja ausgesprochen merkwürdig!«, sagte Bernd Mertes. »Aber warten Sie, Frau Czerny, wie wäre es, wenn ich mal meinen Informanten Thomas Beck frage, wie so etwas geschehen konnte. Er bewegt sich in der Szene der Juwelendiebe und kennt viele von ihnen besser, als sie sich selbst. Vielleicht weiß er auch etwas über Martin Weiser, der sich vor einigen Jahren ebenfalls in der Szene bewegt hat.«

»Tun Sie das!«, sagte Pat Czerny. »Ich werde mir inzwischen ein anderes Foto von Weiser ausleihen und meinen Artikel veröffentlichen. Er ist gut geworden, Herr Hauptkommissar!«

»Sie hören von mir«, sagte Mertes und legte den Hörer auf.

Dann wählte er die Nummer von Thomas Beck.

III

»… und Sie schicken mir die Karte zu, ja?«, fragte der Kommissar, nickte und legte kurz darauf den Hörer auf, als sein Assistent Kruhm sein Zimmer betrat.

»Das war Thomas Beck«, sagte Mertes erklärend zu Kruhm. »Er wird mir mit einem Boten eine Grußkarte schicken, die ihm vor einigen Jahren Martin Weiser gegeben und auf deren Rückseite er einige Sätze geschrieben hat. Weiser hat damals gesagt, wenn Beck davon höre, dass er zum zweiten Mal verschwunden sei, solle er sie der Polizei zukommen lassen. Derjenige Polizist, der sie bekomme, werde dann erfahren, was zu tun sei.«

 

Zwei Stunden später hielt Bernd Mertes besagte Karte in der Hand. Becks Bote hatte sie gerade gebracht. Er schaute sich das Motiv auf der Vorderseite an. Es zeigte eine Brücke in Venedig. Als er dann die Karte umdrehte, konnte er einen unverfänglichen Urlaubsgruß Weisers an Beck lesen. Was zum Teufel sollte er mit einer ganz banalen Grußkarte aus dem Urlaub in Venedig? Aber vielleicht gab es ja eine Geheimschrift. Er kopierte Vorder- und Rückseite der Karte und schickte sie dann zur Spurensicherung, damit ihre Leute nachschauten, ob sich irgendwo darauf eine Geheimschrift verbarg.

Als er sich jedoch Minuten später selber noch einmal die Kopie der Karte anschaute, traute er seinen Augen nicht. Die Schrift auf der Kopie hatte sich nun – wohl durch den Akt des Kopierens – in eine ganz andere verwandelt. Auf der Kopie stand nun das Folgende geschrieben:

»Die Frau von Martin Weiser muss in ihrem silbernen Bilderrahmen im Wohnzimmer immer ein Foto von ihrem Mann aufbewahren. Dann wird kein weiteres Verbrechen ihres Mannes geschehen, das die Polizei verfolgen muss. Wird aber sein Foto aus diesem Rahmen entfernt, so kann für nichts garantiert werden.«

Der Kommissar legte die Kopie beiseite, nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer von Pat Czerny.

IV

Pat Czerny und Bernd Mertes saßen im Büro des Hauptkommissars. Sie waren gerade von Martha Weiser zurückgekehrt. Diese hatte auf ihre Bitte hin ein anderes Foto ihres Mannes in dem silberfarbenen Aluminiumrahmen in ihrem Wohnzimmer aufgehängt, in dem sich ein Foto ihrer Kinder befand, seitdem sie daraus das erste Foto ihres Mannes entfernt hatte.

Als die Journalistin und der Polizist sich angeregt unterhielten, kündigte Mertes’ Assistent eine Frau Liebermann an, die den Kommissar sprechen wollte und sofort nach ihm das Büro betrat.

»Frau Liebermann, nehme ich an, was kann ich für Sie tun?«, fragte Bernd Mertes lächelnd.

»Ich bin die Tochter von Josef Matthes, einem ehemaligen Juwelendieb, der aber schon lange keine krummen Sachen mehr gemacht hat, Herr Hauptkommissar«, sagte die Frau leise. »Ich bin hier, weil ich Ihnen etwas mitteilen möchte, was mir auf der Seele brennt.«

»Nur zu!«, sagte Mertes freundlich.

»Hören Sie zu! – Mein Vater hat früher öfter Juweliere bestohlen, öfter auch zusammen mit anderen und dann manchmal auch dafür im Gefängnis gesessen. Seit etwa drei Jahren sitzt er nun im Rollstuhl und hat diesen Taten abgeschworen. Er war immer noch geistig völlig auf der Höhe, bis er mich vor etwa zwei Stunden anrief und völlig verwirrt war.«

»Was ist geschehen?«, fragte der Hauptkommissar.

»Er stammelte einigermaßen unzusammenhängend und wirr, und ich habe etwa dies verstanden:

Er hat vor etwa drei Jahren zusammen mit Martin Weiser, der in der Szene als bester Safeknacker der Stadt galt, einen Einbruch bei Juwelier Marx gemacht. Weiser hat dessen Safe geöffnet, wohl, weil er Vater noch etwas schuldig war, obwohl er eigentlich nicht mehr als Safeknacker arbeiten wollte. Mein Vater hat dann aus dem Safe Rohdiamanten im Wert von etwa fünf Millionen entwendet, während Weiser das Haus schon verlassen hatte. Marx aber hat ihn erwischt, und so hat mein Vater ihn erschossen.«

»So war das also!«, sagte Bernd Mertes und pfiff durch die Zähne. »Das erklärt vieles. Und was geschah dann?«

»Weiser verschwand spurlos, und meinem Vater gelang es, die Schuld auf ihn zu laden, sodass man Weiser suchte und ihn in Ruhe ließ. Heute Morgen aber ertappte mein Vater den Geist von Weiser dabei, wie er seinen Safe aufbrach, und – ich habe meinen Vater hierbei nicht ganz verstanden – die Juwelen von Juwelier Marx in seine Tasche steckte, die er mitgebracht hatte. Mein Vater fragte, wo er herkomme, und Weiser sagte, er habe sich damals in einen Geist verwandelt und sei auf einem Foto im silbernen Rahmen im Wohnzimmer seiner Frau gefangen gewesen. Aus diesem Rahmen sei er nun befreit worden, weil seine Frau das Foto herausgenommen habe, und so komme er nun als Geist, um ein Sühneopfer von meinem Vater zu fordern.«

»Hatte Ihr Vater denn keine Angst?«, fragte Pat Czerny.

»Und wie!«, antwortete Frau Liebermann eifrig. »Besonders, als der Geist ein langes Messer ergriff und auf meinen Vater zuging, der ihm ja in seinem Rollstuhl in keinster Weise gewachsen war. Als der Geist jedoch sein Messer zum tödlichen Stich erhob, war er im selben Moment plötzlich verschwunden, und das Messer lag auf dem Boden. Mein Vater wurde dann vor Angst verrückt. Wie gesagt, ich musste mir seine Aussage aus wirren und unzusammenhängenden Sätzen zusammenreimen.«

»Vielen Dank, Frau Liebermann, dass Sie damit zu mir gekommen sind!«, sagte Mertes und erhob sich. »Bitte kommen Sie mit mir, wir müssen Ihre Aussage protokollieren!«

Er führte die Dame ins Nebenzimmer, wo ein untergeordneter Kollege das Protokoll aufnahm. Dann kehrte er zu Pat Czerny zurück.

»Und was geschieht nun mit Matthes?«, fragte die Journalistin neugierig.

»Er wird in die Psychiatrie eingewiesen und dort bis zu seinem Lebensende bleiben«, entgegnete der Kommissar.

»Und wo ist Weiser?«

»Fragen Sie das im Ernst? Natürlich wieder in seinem silberfarbenen Rahmen im Wohnzimmer seiner Frau, liebe Frau Czerny.«

Damit war für Hauptkommissar Mertes der Fall erledigt. Die Juwelen jedoch, um das letzte, nicht ganz unwichtige Detail noch zu erwähnen, blieben so lange verschwunden, bis einer der Söhne von Martin Weiser Jahre später eine Nobeldiskothek in New York eröffnete und sie dafür bei einem Hehler zu Geld machte.

(hb)