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Fantomas – Kapitel 3-2

Monsieur de Presles folgte Dollon in die Bibliothek im Erdgeschoss, wo sich sein geschäftstüchtiger Gerichtsschreiber bereits eingerichtet hatte. Der Richter nahm hinter dem großen Tisch Platz und rief den Gendamerie-Sergeant.

»Ich muss Sie bitten, während meiner Ermittlungen anwesend zu sein, Sergeant. Die ersten Untersuchungen werden Ihnen übertragen. So wird es leichter für uns sein, alle Zeugen vernehmen und Details in Erfahrung bringen zu können. Ich nehme an, dass Sie diesbezüglich noch keine Schritte unternommen haben?«

»Ich bitte um Verzeihung, Monsieur. Ich habe meine Männer in alle Richtungen ausgesandt, mit dem Befehl, alle Landstreicher zu verhören und diejenigen, welche kein zufriedenstellendes Alibi für letzte Nacht nachweisen können, zu verhaften.«

»Gut! Apropos, haben Sie das Telegramm, welches ich Ihnen nach meiner Ankunft gab, aufgegeben? Darin bat ich das Polizeipräsidium in Paris, mir einen Detektiv zur Unterstützung zu schicken.«

»Ich habe es persönlich zum Telegrafenamt gebracht, Monsieur.«

Diesbezüglich sichtlich zufrieden wandte sich der junge Richter an Dollon.

»Würden Sie bitte Platz nehmen, Monsieur?«, sagte er. Abgesehen von den missbilligenden Blicken seines Gerichtsschreibers, der eine besondere Vorliebe für lange Umschreibungen und eine buchstabengetreue Umsetzung von Gesetzen hatte, ließ er die üblichen Fragen zu Name, Alter und Beruf des Zeugen und begann sofort mit der Befragung des alten Verwalters. »Wie ist der exakte Plan des Château?«, lautete seine erste Frage.

»Sie wissen es bereits fast so gut wie ich, Monsieur. Der Korridor von der Eingangstür führt in das Haupttreppenhaus, über welches wir bereits in den ersten Stock gelangten, wo sich das Schlafzimmer der Marquise befindet. Im ersten Stock sind eine Reihe von Räumen, die durch einen Gang getrennt sind. Auf der rechten Seite ist das Zimmer von Mademoiselle Thérèse, und dann kommen die Gästezimmer, die jedoch zurzeit nicht belegt sind. Auf der linken Seite befindet sich das Schlafzimmer der Marquise, unmittelbar daneben ihr Ankleidezimmer. Es schließt sich ein weiteres Ankleidezimmer an. Und dann folgt ein Schlafzimmer, welches von Monsieur Charles Rambert derzeit genutzt wird.«

»Gut. Und das Stockwerk darüber? Wie ist dieses aufgeteilt?«

»Das zweite Stockwerk ist ähnlich dem ersten aufgeteilt, Monsieur. Dort befinden sich die Gesindestuben. Diese sind jedoch schmaler als die Zimmer der Herrschaften und damit in ihrer Anzahl etwas mehr.«

»Welche Diener sind im Haus untergebracht?«

»Im Allgemeinen, Monsieur, die zwei Dienstmädchen, die Hausmagd Marie, die Köchin Louise und der Diener Hervé. Jedoch schlief Hervé letzte Nacht nicht im Schloss. Er hatte die Erlaubnis der Herrin, um ins Dorf gehen zu können. Sie gab ihm diese unter der Bedingung, dass er in der Nacht nicht zurückkommen sollte.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte der Richter ziemlich überrascht.

»Die Marquise war ziemlich nervös, Monsieur, und mochte es nicht, wenn jemand des Nachts ins Haus kam. So achtete sie immer darauf, dass die Haus- und Küchentür jede Nacht doppelt abgeschlossen war. Jede Nacht ging sie durch alle Zimmer und sorgte dafür, dass die die eisernen Fensterläden ordnungsgemäß festgemacht waren und es unmöglich war, ins Haus zu gelangen. Wenn Hervé abends ausgeht, schläft er jedes Mal im Dorf und kehrt erst am folgenden Morgen zurück, wie er es heute tat, oder er bittet den Kutscher, die Hoftür aufzuschließen, um in einer Stube über den Ställen schlafen zu können, die in der Regel nicht genutzt wird.«

»Das ist dort, wo die anderen Knechte schlafen, nehme ich an?«

»Ja, Monsieur, die Gärtner, der Kutscher und die Tierpfleger leben alle in den Nebengebäuden. Hinsichtlich meiner selbst habe ich nicht weit von hier im Park ein kleines Häuschen.«

Monsieur de Presles schwieg für einen Moment und dachte nach. Das einzige Geräusch im Zimmer war das lästige Quietschen des Federkiels, da der Gerichtsschreiber alles niederschrieb, was der Hausverwalter aussagte. Schließlich blickte Monsieur de Presles auf.

»Also, in der Nacht des Verbrechens waren die einzigen Personen, die im Schloss schliefen, Madame de Langrune, ihre Enkelin Mademoiselle Thérèse, Monsieur Charles Rambert und die zwei Dienstmädchen. Ist das so?«

»Ja, Monsieur.«

»Dann scheint es ausgeschlossen zu sein, dass die Tat von jemandem begangen wurde, der im Schloss lebt?«

»So ist es, Monsieur. Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand in das Schloss ging. Nur zwei Menschen hatten einen Schlüssel für die Haustür – die Marquise und ich. Als ich an diesem Morgen zum Haus kam, fand ich die Tür offen vor, da Mademoiselle Thérèse bereits frühzeitig mit Monsieur Charles Rambert zum Bahnhof ging, um dort Monsieur Rambert Senior abzuholen. Sie öffnete die Tür mit den Schlüsseln, welche die Marquise ihr einen Abend zuvor gegeben hatte. Sie sagte mir persönlich, dass die Tür verschlossen war, bevor sie sich um 05:00 Uhr auf den Weg zum Bahnhof machte. Mademoiselle Thérèse hatte ihre Schlüssel unter ihr Kopfkissen gelegt, und ich trage meine ständig bei mir und gebe sie nicht aus der Hand.«

»Ist es nicht möglich«, deutete der Richter an, »dass jemand im Laufe des Tages ins Schloss kam, sie dort versteckte und das Verbrechen beging, als es Nacht wurde? Bedenken Sie, Monsieur Dollon, die Innenschrauben der Türverriegelung an Madam de Langrunes Schlafzimmertür wurden herausgerissen. Dies bedeutet, dass sich der Mörder mit Gewalt Zutritt verschaffte.«

Der Verwalter schüttelte den Kopf.

»Nein Monsieur, niemand könnte sich während des Tages im Schloss verbergen. Immer wieder gehen Leute in die Küche, sodass die Hintertür ständig im Auge behalten wird. Bis gestern Nachmittag arbeiteten die Gärtner auf dem Rasen vor dem Haupteingang. Wenn sich ein Fremder dort aufgehalten hätte, wäre er sicherlich gesehen worden. Und schließlich gab Madame de Langrune die Anweisung, alle Türen bis zu den Kellern hinter mir wieder zu verschließen. Somit konnte sich der Mörder im Keller nicht verborgen gehalten haben, und wo sonst hätte er sich verstecken können? Nicht in den Räumen im Erdgeschoss, denn dort war gestern Abend eine Gesellschaft zum Diner, und alle Zimmer wurden mehr oder weniger genutzt. Die Marquise oder einer der Gäste hätten ihn sicher entdeckt. So hätte er nach oben gehen müssen, entweder in den ersten oder zweiten Stock. Das ist jedoch höchst unwahrscheinlich. Es wäre sehr riskant gewesen, denn der große Haushund lag die ganze Zeit angebunden am Fuße der Treppe. Er hätte einen Fremden niemals passieren lassen. Entweder muss der Hund den Mann kennen oder dieser muss ihm etwas Fleisch zugeworfen haben. Doch es gibt keinerlei Spuren, die meine Vermutung bekräftigen.«

Der Richter war sehr verblüfft.

»Dann ist das Verbrechen unerklärlich, Monsieur Dollon. Sie haben mir gerade gesagt, dass niemand außer Madame de Langrune, die beiden jungen Leute Thérèse und Charles sowie die beiden Dienstmädchen im Schloss waren. Es ist jedenfalls niemand von ihnen, die auf eine solche Art und Weise die Straftat begangen haben könnten. Denn das kraftvolle Ausüben der Schläge weist darauf hin, dass es sich in der Tat um einen professionellen Mörder handeln muss. Er muss von außen eingedrungen sein. Kommen Sie schon, haben Sie keinen Verdacht!«

Der Verwalter hob die Arme und ließ sie in völliger Niedergeschlagenheit fallen.

»Nein«, antwortete er schließlich, »ich verdächtige niemanden! Ich kann niemanden verdächtigen! Aber, Monsieur, soweit ich es beurteilen kann, bin ich mir sicher, dass, obwohl der Mörder nicht einer von denjenigen sein kann, die sich gestern Abend im Schloss aufhielten, er dennoch nicht von außen gekommen ist. Die Türen waren verschlossen und verriegelt.«

»Dennoch«, bemerkte Monsieur de Presles, »da jemand einen Mord begangen hat, müssen wir normalerweise von der Tatsache ausgehen, dass sich jemand innerhalb des Schlosses verborgen gehalten hat, als Madame de Langrune die Haustür selbst verschloss, oder dass er während der Nacht hineingelangte. Sehen Sie dies nicht so, Monsieur Dollon, dass eine dieser Hypothesen zutreffen muss?«

Der Verwalter zögerte.

»Es ist ein Mysterium, Monsieur«, erklärte er schließlich. »Ich schwöre Ihnen, Monsieur, dass niemand hereinkommen konnte, und dass es vollkommen klar ist: Weder Monsieur Charles, noch Mademoiselle Thérèse, noch die zwei Dienstmädchen, noch Marie und Louise sind der Mörder.«

Für ein paar Minuten saß der Richter gedankenversunken da und ließ durch den alten Verwalter die zwei Dienstmädchen holen.

»Kommen auch Sie zurück«, fügte er hinzu, als der alte Mann sich abwendete. »ich könnte noch weitere Details von Ihnen benötigen.«

Dollon verließ den Raum, und Gigou, der Gerichtsschreiber, beugte sich nach vorn in Richtung des Richters. Taktgefühl gehörte nicht zu Monsieur Gigous Qualitäten.

»Wenn Sie Ihre Befragung beendet haben, mit Verlaub, Monsieur, müssen wir noch den Bürgermeister von Saint-Jaury aufsuchen. Dies steht in Übereinstimmung mit den üblichen Verfahrensweisen. Und wenn wir schon mal dort sind, kann er uns zum Diner einladen!«

Fortsetzung folgt …