Stiche: Erinnerungen
David Small
Stiche: Erinnerungen
Graphic Novel, Softcover, Carlsen, Hamburg, Mai 2014, 328 Seiten, 14, 90 Euro, ISBN: 978355113735, ab 14 Jahren
Autor David Small, geboren 1945, beleuchtet in seinem Comic seine Jugend in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts. Und diese Jugend war alles andere als einfach: eine verrückte Großmutter, die ihn misshandelt und seinen Stiefgroßvater beinahe verbrannt hätte, ein Vater, der als Arzt kaum zuhause war und David als Kind regelmäßig mit Röntgenstrahlen »behandelte«, um Davids schwache Atemwege zu kräftigen, eine Mutter, die voll schweigendem Zorn war. Und insgesamt ein Zuhause, in dem alle wichtigen Dinge totgeschwiegen wurden – wie Davids Kehlkopfkrebs, der sich über die Jahre entwickelte, und von dem seine Eltern annahmen, dass er für ihren Sohn tödlich enden würde. Bittere Ironie des Schicksals: David hätte Jahre früher operiert werden können, wenn seine Eltern es nicht vorgezogen hätten, nach der Gehaltserhöhung seines Vaters erst einmal im Luxus zu schwelgen. Und Davids Mutter warf ihm auch noch vor, dass Ausgaben für ihn Geldverschwendung seien. David überlebte die Operation, verlor aber seine Stimme. Aus diesem lieblosen Zuhause flüchtete der kleine David in seine Zeichnungen. Der erwachsene Mann verarbeitet in dem vorliegenden Comic seine schwierige Beziehung zu seinen Eltern und beleuchtet den Hintergrund, wie es zu diesen Familienverhältnissen kam. Denn auch die Kindheit seiner Mutter war schwierig: Sie wurde mit einem Herzen auf der falschen Seite und nur einem funktionierenden Lungenflügel geboren. Außerdem wurde sie außerhalb der Ehe gezeugt, was Schwierigkeiten mit ihren Großeltern vorprogrammierte. Um alles noch komplizierter zu machen, musste sie ihre lesbische Ausrichtung geheim halten. Das gelang ihr auch, bis ihr Sohn sie eines Tages bei einer Liebelei überraschte.
Die in sich abgeschlossene Biografie ist bitter zu lesen – mehr als einmal habe ich schlucken müssen, wie unmenschlich man ein Kind behandeln kann. Umso bewundernswerter, dass der Autor anscheinend seinen Frieden mit seinen Eltern schließen konnte. Im Anhang präsentiert Small Fotos und zusätzliche Infos zu seinen Eltern und sich selbst, in denen man merkt, dass er sich intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinander gesetzt hat und v.a. seiner Mutter daraufhin verzeihen konnte. Auch im Comic selbst klingt eine mögliche Versöhnung am Sterbebett seiner Mutter an. Die Zeichnungen selbst sind zuweilen recht grob und düster, bringen aber die jeweiligen Situationen und Gefühle sehr gut rüber. Ab und an fühlt man sich durch die Zeichnungen und Storyführung an Alice im Wunderland erinnert: Davids Psychiater ist ein weißes Kaninchen und er selbst taucht durch ein Loch seines Zeichenpapieres in die Welt seiner (nicht immer schönen) Fantasie ein, womit der Comic einen Touch von Phantastik erhält. Ein weiteres Thema ist die Sprache bzw. die Sprachlosigkeit, die sich durch eine andere Art Sprache zeigt: das wütende Scheppern seiner Mutter mit dem Geschirr, die belanglosen Sätze seines Vaters am Familientisch, Davids Krankheiten, Davids sprachlicher Ausdruck in seinen Zeichnungen v.a. nach seiner Krebsoperation.
Insgesamt ein tiefgründiger Comic, der die Abgründe einer Familiengeschichte und die Gefühle eines Kindes und Jugendlichen in so einer Situation sehr gut rüberbringt.
(ud)