Fantomas – Kapitel 2-2
Es war noch sehr dunkel, das blasse Licht der Morgendämmerung im Osten ließ vage vermuten, wie der anbrechende Tag werden würde. Kein einziger Laut durchbrach die Stille der Umgebung. Charles und Thérèse gingen zügig voran und hörten ihre Schritte auf dem hart gefrorenen Boden.
»Du musst riesig erfreut sein, deinen Vater wieder zu begegnen«, sagte Madam de Langrunes Enkeltochter halb fragend. »Es ist eine lange Zeit her, als du ihn das letzte Mal gesehen hast, nicht wahr?«
»Drei Jahre«, antwortete Charles Rambert, »und auch nur für wenige Minuten. Er kam von Amerika nach Hause, bevor er für längere Zeit nach Spanien reiste.«
»Er war die ganze Zeit unterwegs, als du noch ein Kind warst, nicht wahr?«
»Ja, immer; entweder in Kolumbien, um seine Kautschukplantagen aufzusuchen oder in Spanien, wo er gute Geschäfte mit Immobilien machte. Wenn er in Paris war, pflegte er zur Schule zu kommen und nach mir zu fragen. Im Salon sah ich ihn für eine Viertelstunde.«
»Und deine Mutter?«
»Oh, Maman war ganz anders. Wie du weist, Thérèse, verbrachte ich den größten Teil meiner Kindheit im Schulinternat, so wie ich mich erinnern kann. Ich mochte die Lehrer, hatte gute Kameraden und war dort sehr glücklich. Um die Wahrheit zu sagen, freute ich mich nicht besonders auf die Ferien, die ich in meinem Elternhaus verbrachte. Ich fühlte mich immer wie ein Fremder unter ihnen, mein eigentliches Zuhause war die Schule, dort hatte ich meinen Schreibtisch und konnte meinen Interessen nachgehen. Ich verstand nicht viel von den Dingen innerhalb der Familie und hatte das Gefühl, dass man auch mich nicht verstand.«
»Aber du hast doch deine Mutter sehr geliebt?«
Thérèse stellte die Frage etwas sorgenvoll, und es war offensichtlich, dass sie es für entsetzlich empfunden hätte, wenn ihr Begleiter eine echte Zuneigung zu seiner Mutter nicht gehabt hätte.
»Oh ja, ich liebte sie«, antwortete Charles Rambert, »doch habe ich sie kaum gekannt.«
Als Thérèse sich überrascht zeigte, fuhr er fort, ihr etwas von dem Geheimnis seiner einsamen Kindheit zu erzählen. »Siehst du, Thérèse, jetzt, wo ich ein Mann bin, denke ich über viele Dinge nach, bei denen ich damals einen Verdacht hegte. Mein Vater und meine Mutter kamen nicht sonderlich miteinander aus. Sie waren das, was man ein ungleiches Paar nennt. Sie waren beide sehr gut, aber ihre Charaktere harmonisierten nicht miteinander. Als ich noch klein war, sah ich oft meine Maman still und traurig, Papa hingegen lebhaft, aufgeweckt und mit lauter Stimme redend. Ich glaube fast, dass er Maman verängstigte! Und dann war mein Vater ständig weg, wohingegen Maman fast nie ausging. Wenn mich ein Diener donnerstags nach Hause holte, fand ich sie, um ihr einen guten Morgen zu wünschen, immer in ihrem Zimmer auf dem Sofa liegend, die Jalousien heruntergelassen, sodass der Raum fast dunkel war. Sie berührte mich bloß mit ihren Lippen und stellte mir ein oder zwei Fragen. Danach musste ich sie wieder verlassen, da ich sie ermüdete.«
»War sie denn krank?«
»Maman ist schon immer krank gewesen. Ich nehme an, Thérèse, du weißt, dass ich vor drei Monaten mein Diplom machte und in Deutschland verweilte, währenddessen sie in eine psychiatrische Anstalt gesteckt wurde? Ich nehme an, dass mein Vater, um sie einer sorgfältigen Behandlung unterziehen zu können, mit ihr darüber sprach. Aber sie wollte nicht.«
Thérèse schwieg für ein paar Minuten.
»Du wärst auch nicht sehr glücklich gewesen«, sagte sie sogleich.
»Oh, es war nur, nachdem ich erwachsen wurde, dass ich mich unglücklich fühlte. Als ich noch ein kleiner Junge war, dachte ich nicht darüber nach, wie traurig es wäre, keinen richtigen Vater oder keine Mutter zu haben. Die letzten vier oder Jahre hat es mir wehgetan, als er einmal in die Schule kam, um mich zu sehen. Papa sagte mir, dass er mich mitnehmen würde, sobald ich meinen Abschluss gemacht hätte und erwachsen wäre. Nach meinem Examen im Oktober letzten Jahres schrieb er mir und bat darum, mich noch ein wenig zu gedulden. Er wolle sich mit der Abwicklung seiner Geschäfte beeilen und zurück nach Frankreich kommen. Dies gab mir Hoffnung, welche mir die letzten Monate im besseren Licht erschienen ließ. Nun verstehst du sicherlich, warum ich so froh darüber bin, dass heute Morgen mein Vater ankommt. Es scheint mir, dass ein neues Leben beginnen wird.«
Der Tag brach an: ein schmutziger Dezembertag mit leicht durchschimmerndem Licht durch schwere graue Wolken, die der Wind über den Boden trieb, die sich hinter dem Horizont versteckten, die sich an den niedrigen Hügeln klammerten, plötzlich von einer scharfen Brise in Strähnen auseinandergerissen wurden und den Staub auf dem hart gefrorenen Boden aufwirbeln ließen.
»Ich bin nicht sehr glücklich«, sagte Thérèse, »denn ich habe meinen Vater verloren, als ich sehr klein war. Ich kann mich nicht einmal mehr an ihn erinnern, und Maman muss tot sein.«
Die Doppeldeutigkeit der Redewendung des Kindes erregte Charles Ramberts Aufmerksamkeit.
»Was bedeutet das, Thérèse? Du weißt nicht, ob deine Mutter tot ist?«
»Ja, oh ja, Großmutter sagte es so. Aber immer, wenn ich sie nach Einzelheiten frage, wechselt sie das Thema. Ich werde wiederholen, was du vorhin gesagt hast: Wenn du klein bist, brauchst du nichts darüber zu wissen und dich auch nicht zu wundern. Seit Langem nehme ich keine Notiz von ihrer plötzlichen Verschwiegenheit, aber jetzt frage ich mich manchmal, ob etwas von mir nicht zurückgehalten wird – ob es wirklich wahr ist, dass Maman nicht mehr auf dieser Welt ist.«
Während dieser Unterhaltung schritten Thérèse und Charles zügig voran und kamen zu den wenigen Häusern, welche um die Station Verrières gebaut worden waren. Nach und nach wurden Schlafzimmerfenster und Türen geöffnet, Bauern machten sich auf den Weg zu den Ställen, um ihr Vieh auf die Weiden zu bringen.
»Wir sind sehr früh dran«, äußerte Thérèse und wies auf die Bahnhofsuhr. »Der Zug mit deinem Vater ist um 06:55 Uhr fällig, und jetzt ist es erst 06:40 Uhr, wir haben noch eine Viertelstunde zu warten, und vielleicht mehr, wenn der Zug nicht pünktlich ist«!
Fortsetzung folgt …