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Jack Lloyd Folge 4

Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät

Auf Messers Schneide

Die Mannschaft der White Swallow hatte sich eine Weile darüber beraten, wohin sie jetzt segeln sollten. Schließlich hatte sich Jack durchgesetzt. Sie befanden sich mehrere Meilen westlich von Santo Domingo. Wenn sie versuchten, nach St. Kitts zu gelangen, mussten sie an der spanischen Stadt vorbei. Im Umfeld der Stadt bot ihnen die Nähe zum Festland aber keinen Schutz vor der Galeone mehr, denn hier war das Meer so tief, dass auch große Schiffe bis in den Hafen einlaufen konnten. Also blieb nur die andere Richtung. In zwei Tagen konnten sie bei gutem Wind Port Royal erreichen. Dabei stellte die letzte Strecke eine Gefahr dar, da die White Swallow sich für die letzten Stunden der Fahrt auf die Wasserstraße zwischen Hispanola und Port Royal hinauswagen musste. Da die spanische Kriegsgaleone vor der Küste kreuzte und auch den Rest des Tages nicht aus dem Sichtfeld der Mannschaft verschwand, war klar, dass die Feinde sie weiter verfolgen würden. Zwar konnten die Kontrahenten sich gegenseitig nur mit Ferngläsern beobachten, doch das Verhalten der Spanier zeigte deutlich, dass sie mit der White Swallow noch nicht fertig waren.

Die Männer um Jack Lloyd waren noch eine Weile in westlicher Richtung vor der Küste entlanggesegelt. Danach gingen sie in einer kleinen Bucht vor Anker. Jack, Joe und drei andere Seemänner waren an Land gegangen. Sie hatten einige Stämme geschlagen und Steine gesammelt, die sie dann wieder an Bord der White Swallow brachten. Bis spät in die Nacht sägten die Männer aus den Stämmen Bretter und nagelten diese schließlich von innen auf die Löcher, welche die Kanonenkugeln in den Rumpf des Schiffes gerissen hatten. In Port Royal würde das Schiff erst einmal richtig repariert werden müssen. Auch das Loch im Deck der White Swallow flickten die Männer provisorisch. Dann begannen sie die Leichen ihrer Kameraden zu beschweren, indem sie ihre Kleidungsstücke mit den Steinen füllten, die sie vom Festland mitgebracht hatten. Schließlich warfen sie diejenigen, mit denen sie manche Fahrt durch die Karibik unternommen hatten, über Bord und übergaben ihre Leiber dem Meer. Nicht nur der alte Joe hatte dabei Tränen in den Augen. Die Racheschwüre der Männer lagen dunkel über der White Swallow, als die Nacht langsam den ersten Sonnenstrahlen wich.

Mit dem Morgen versammelte sich der Rest der kleinen Mannschaft auf dem Deck des Schiffes. Hier sprach Joe aus, was den Männern die ganze Nacht hindurch in den Köpfen herumgegangen war.

»Die Diskussion des gestrigen Abends war hitzig und es hat lange gedauert, bis wir ein gemeinsames Ergebnis gefunden haben. Wenn wir zusammenbleiben und das Schiff nicht aufgeben wollen, kann es so nicht weitergehen. Eine Mannschaft braucht einen Kapitän, einen Mann, der vorangeht und auf den die anderen hören. Ich selbst möchte diese Position nicht haben. Einer von euch wird die Verantwortung übernehmen müssen.«

»Wir sollten einen Kapitän wählen«, rief einer der Männer.

»Wozu wählen? Es könnte keinen besseren Kapitän als Joe geben«, erwiderte ein anderer. Doch der alte Seebär hob abwehrend beide Hände in die Höhe. »Ihr werdet mich nicht dazu kriegen, diese Wahl anzunehmen. Aber es ist jemand unter uns, der diese Position mehr als gut ausfüllen würde.«

Die Blicke von Joe und dem jungen Steuermann trafen sich. Jack schüttelte für einen Moment unmerklich den Kopf. Dann sagte Joe laut: »Wir sollten Jack zum Kapitän machen. Er war es, der uns vor den Spaniern gerettet hat. Ohne sein Manöver würden wir längst auf dem Boden des Meeres liegen.«

Die Männer nickten einer nach dem anderen. Jack schaute stumm auf den Boden des Decks. Dann fragte er leise: »Ist die Wahl einstimmig?«

Einer nach dem anderen antworteten die Männer voller Inbrunst: »Aye Käpt’n.«

Jack spürte, dass er eine Gänsehaut bekam. Leise erklärte er: »Dann soll es so sein.«

Nach einem Moment des Schweigens erklärte der Steuermann: »Wir sind alle übermüdet. Einer wird den Ausguck besetzen, damit die Spanier uns nicht mit einer Entermannschaft überraschen. Jeder wird zwei Stunden Wache halten. Mit dem Sonnenuntergang setzen wir unsere Fahrt fort.«

Die Wachen wurden eingeteilt, danach begaben sich die Männer, die erst später Wache hielten, unter Deck. Joe lächelte Jack an und erklärte: »Dir steht die Kapitänskajüte zu.«

Leise, damit die anderen ihn nicht hörten, erwiderte Jack: »Wenn ich aufgepasst hätte, hätten die Spanier uns nicht überraschen können.«

»Ich saß im Ausguck, mein Junge. Meine Aufgabe war es, Wache zu halten. Ich bin eingeschlafen, es ist nicht deine Schuld, das solltest du dir klarmachen.«

»Meine Hängematte ist unter Deck, bei den Männern. Zumindest bis Port Royal werden wir es so belassen.«

»Das werden wir nicht«, erwiderte Joe bestimmt. »Sowohl du als auch die Männer sollten sich schnell mit der neuen Situation anfreunden. Ansonsten wird deine Autorität nicht lange halten.«

Widerwillig nickte Jack. Dann zog er sich in die Kapitänskajüte zurück.

 

Am Abend, als die Mannschaft sich ausgeruht wieder an Deck versammelte, gab Jack Befehl, die gerafften Segel zu hissen. Er hatte beschlossen, die Laternen der White Swallow dunkel zu lassen, um die Spanier nicht unnötig auf ihre Abfahrt aufmerksam zu machen. Die Nacht hindurch schafften sie eine gehörige Strecke. Der Wind hatte gedreht und blies jetzt aus nordöstlicher Richtung. Unter vollen Segeln pflügte die White Swallow an der Südseite Hispanolas entlang.

Am Morgen erreichten sie die Landzunge, die in südlicher Richtung ins Meer hinausragte. Nach fast zwei Tagen kam das Schiff am südwestlichen Zipfel der Insel Hispanola an. Vor ihnen lag die Wasserstraße zwischen Hispanola und Port Royal. Nur ein halber Tag trennte sie noch vom rettenden Hafen. Seit jener Nacht, als sie im Dunkeln gesegelt waren, hatten sie die spanische Kriegsgaleone nicht mehr gesehen. Sie ankerten nun schon etwas mehr als eine Stunde und suchten den Horizont nach dem feindlichen Schiff ab. Endlich gab Jack den Befehl, die Segel zu setzen. Die White Swallow verließ die seichten Gewässer vor der Küste. Die Anspannung der kleinen Mannschaft wuchs mit jeder Minute. Jack hatte das Gefühl, sein Herz würde für einen Moment stehen bleiben, als aus dem Ausguck der Ruf zu vernehmen war, den sie alle fürchteten: »Sie sind wieder da!«

»Wie weit sind sie noch weg?«, fragte Jack nach, der sich langsam an das Befehlegeben gewöhnte.

»Sie nähern sich mit großer Geschwindigkeit. Wenn sie diese beibehalten, haben sie uns in einer Stunde in Schussweite.«

Ohnmächtig starrte Jack in die Richtung, aus der die Feinde kamen.

Joe schüttelte wütend den Kopf. »Was haben diese Hunde an einem kleinen Handelsschiff gefunden? Sie wollen uns offensichtlich nicht in Frieden lassen.«

Jack atmete tief durch. Dann rief er laut: »Macht die Kanonen klar! Vielleicht werden wir sie noch benötigen.«

 

Die White Swallow segelte mit höchstmöglicher Geschwindigkeit auf ihr Ziel zu. Doch die Spanier waren bedeutend schneller. Die Kombination aus vollen Segeln und ununterbrochener Anstrengung der Ruderer war offensichtlich mehr, als die kleinen Segel der White Swallow bewirken konnten.

Als die Spanier in Schussweite waren, war Jamaika noch in einiger Entfernung.

Jack griff zum Steuer und bellte Befehle über das Deck. Die Männer hielten sich in der Nähe der Kanonen, stets bemüht, in Deckung zu bleiben.

Die erste Salve, die ihnen die Kriegsgaleone aus einiger Entfernung hinterher sandte, bestand aus Kettenkugeln. Und dieses Mal gab es kein Manöver, das die White Swallow noch hätte retten können. Die Kugeln senkten sich, wie von Geisterhand geführt, über die Bark, zerfetzten die Segel und schlugen einen der drei Masten um. Die nächste Salve war weniger gut gezielt, die Kugeln fielen größten Teils rund um die White Swallow herum ins Meer. Nur zwei Geschosse fanden ihr Ziel und rissen Löcher in das Deck des englischen Handelsschiffes. Jack Lloyd hielt krampfhaft das Steuerrad fest. Er würde mit diesem Schiff untergehen. Als die Kriegsgaleone sich in einem guten Winkel zur White Swallow befand, rief Jack laut: »Backbordkanonen Feuer!«

Die beiden Kanonen spien ihre tödliche Ladung in Richtung des spanischen Schiffes. Die Kugeln trafen die Kriegsgaleone voll. Wutgeschrei wurde laut. Die Spanier hatten offensichtlich nicht damit gerechnet, dass die wenigen Überlebenden an Bord der White Swallow sich wehren würden.

Doch die Antwort der Spanier fiel schrecklich aus. Eine Salve Kanonenkugeln aus allen Rohren gefeuert fiel auf die White Swallow herab. Das Schiff knarrte und ächzte. Das Geräusch von Wasser, das in einen der Lagerräume eindrang, war deutlich zu hören. Die White Swallow hatte mittlerweile nur noch den Hauptmast. Die Segel waren zerfetzt, sodass nur eine geringe Grundgeschwindigkeit möglich war. Es war ein Wunder, dass noch keiner der Männer von einer Kugel getroffen worden war. Aber für die Mannschaft des Handelsschiffes stand fest, dass ihr letzter Tag angebrochen war.

Jack und Joe standen nebeneinander am Steuer. Der alte Mann murmelte leise: »Es wäre mir eine Freude gewesen, länger unter dir zu segeln.«

Jack sah den alten Mann einen Moment lang an. Dann nickte er langsam. Alles, was er dazu sagen konnte, war: »Danke.«

Schweigend starrten sie auf die quälend langsam näher rückende Insel. Port Royal war nur noch wenige Meilen entfernt. Und doch für die Mannschaft der Bark in diesem Augenblick unerreichbar.

Plötzlich rief der Mann, der im Ausguck saß: »Sie drehen ab! Sie drehen ab!«

Jack riss sein Fernglas heraus und starrte völlig verwirrt in Richtung des Feindes. »Das kann nicht … warum?«

Die Antwort kam ebenfalls aus dem Ausguck.

»Eine Fregatte, auf 180 Grad. Sie segelt unter englischer Flagge!«

»Dem Herrn sei gedankt«, murmelte Joe leise.

Jack atmete tief durch. Dann trat er einen Schritt vom Steuerrad zurück. Joe anlächelnd sagte er: »Kurs Port Royal. Hol mich aus meiner Kajüte, wenn wir den Hafen erreicht haben.«

Grinsend antwortete der alte Seebär: »Aye Käpt’n.«

Fortsetzung folgt …

Copyright © 2011 by Johann Peters