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Jack Lloyd Folge 3

Jack Lloyd – Im Auftrag Ihrer Majestät

Dem Wind voraus

Vier Stunden waren vergangen, seit die Mannschaft der White Swallow durch Jacks verwegenes Wendemanöver den spanischen Jägern ein Schnippchen geschlagen hatte. In den Männern wuchs die Hoffnung, dass sie die rettende Küste erreichen könnten, bevor die Kriegsgaleone sie einholte. Die Bark fuhr unter vollen Segeln, die sich im Wind blähten. Jack und Joe standen am Steuer und suchten den Horizont nach der ersehnten Küste ab. In südlicher Richtung sah man noch immer das spanische Kriegsschiff in weiter Ferne als drohendes Mahnmal der lauernden Gefahr. Jacks Plan war soweit aufgegangen, dass die Spanier tatsächlich eine Weile gebraucht hatten, um ein Wendemanöver durchzuführen. Als sie auf Verfolgungskurs gegangen waren, hatte die Bark bereits einen beträchtlichen Vorsprung herausgeholt. Doch als die Kriegsgaleone einmal ihren Kurs gefunden hatte, blieb der Abstand zwischen den Spaniern und der White Swallow gleich. Noch immer war kein Land in Sicht, und Jack spürte, dass sich Fieber in seinem Körper breitmachte. Die Wunde an seinem Arm war notdürftig gesäubert und verbunden worden. Außer ihm hatten noch drei andere Männer schwerere Verletzungen davongetragen. Sie würden in den nächsten Tagen einen Arzt aufsuchen müssen, ansonsten bestand die Gefahr, dass das Fieber schaffte, was den Spaniern nicht gelungen war.

Plötzlich hatte Jack das Gefühl, etwas hätte sich verändert. Irritiert sah er sich auf dem Schiff um. Auch den anderen Männern war die Veränderung aufgefallen, doch niemand konnte auf den ersten Blick sagen, was es war.

Nur der alte Joe erkannte sofort, was vor sich ging. Mit bleichem Gesicht und einem Zug von Verzweiflung um die Lippen murmelte er: »Der Wind wird weniger. Wir verlieren an Fahrt.«

Kurze Zeit darauf kam die Bestätigung vom Heck.

»Nur noch sechs Knoten!«, rief einer der Seemänner.

Jack starrte stumm auf den Horizont, als könnte er die Landmasse Hispanolas durch bloße Gedankenkraft heranzaubern. Leise murmelte er: »Das verschafft ihnen einen Vorteil.«

»Sie werden die Ruder nutzen«, erwiderte Joe nachdenklich.

»Uns bleibt nicht viel anderes übrig, als zu beten«, brummte ein anderer Seemann.

»Wir könnten auch versuchen, uns an Bord der Beiboote in Sicherheit zu bringen. Sie sind durch die Ruder nicht vom Wind abhängig«, versuchte ein weiterer eine Lösung zu finden.

Jack schüttelte den Kopf. »Ich werde die White Swallow nicht im Stich lassen.«

»Gut gesprochen, mein Junge.« Joe klopfte Jack auf die rechte Schulter. Dieser quittierte die Geste mit einem gezwungenen Lächeln.

»Das könnte bedeuten, dass wir noch einmal kämpfen müssen.«

»Einen weiteren Kampf können wir nicht überstehen«, erwiderte Jack nachdenklich den Einwurf eines seiner Männer.

»Wir müssen das verdammte Festland erreichen.«

»Sie kommen näher!«, erklang die mahnende Stimme aus dem Ausguck. Doch im nächsten Moment kam der Mut machende Ausruf: »Land in Sicht! Da vorn ist das Festland!«

Jack kratzte sich am Hinterkopf. Es musste doch einen Weg geben, das Schiff noch etwas zu beschleunigen. Da zog ein Grinsen über die Züge des alten Joe.

»Hey Steuermann, ich hätte da eine Idee, wie wir es schaffen könnten.«

»Lass hören«, brummte Jack, der in diesem Moment wieder eine Schmerzwelle spürte, die durch seinen Arm stieg.

»Wir müssen uns beeilen. Ich weiß nicht, ob es funktioniert, aber es ist eine Möglichkeit, mehr Segel zu setzen«, erklärte Joe hastig.

»Wir können nicht mehr Segel setzen, als wir schon haben. Alle Masten sind voll bestückt. Und wenn wir die Segelbahnen verlängern, riskieren wir einen Mastbruch.«

»Ja, mein Junge. Da hast du wohl recht. Aber wir haben doch Ersatzsegel.« Lächelnd wandte Joe sich an die Mannschaft.

»Holt die Ersatzsegel aus dem Lagerraum und die Maststämme aus drei Beibooten. Komm Jack, wir wollen versuchen, den Spaniern noch einmal eines auszuwischen.«

 

Jack machte das Steuerrad fest, sodass die White Swallow auch ohne Steuermann ihren Kurs hielt. Dann traten die beiden Männer an die Heckseite des Schiffes und warteten auf die Matrosen, die Joes Aufträge ausführten. Als die Mastbäume und die Segeltücher da waren, stellte Joe drei Männer am Heck des Schiffes auf, über die gesamte Fläche von Back- bis Steuerbord. Jedem der drei Männer drückte er einen der Mastbäume in die Hand. Diese waren, da sie nur für die Rettungsboote ausgelegt waren, relativ klein und leicht im Vergleich zu den Masten der Bark. Dann begann er das Segeltuch an den aufrecht stehenden Masten zu befestigen. Nachdem er das Segeltuch mehrmals um den einen Mast gewickelt hatte, zog er es zu dem mittleren Mast und wickelte es ebenfalls um dieses herum. Das Segeltuch durfte nicht zu stark gespannt sein, damit es noch Wind fangen konnte. Schließlich befestigte er das Tuch am dritten Mast. Als der Wind begann, die Segel zu blähen, brauchten die Männer einige Anstrengung, um die Mastbäume weiterhin zu halten.

Jack und Joe beschlossen, in welcher Reihenfolge die Männer die Masten halten sollten. Es dauerte einen Moment, bis die kleinen Extrasegel einen Effekt erzielten. Doch als dieser endlich zu spüren war, gab er den Seeleuten neue Hoffnung. Unter dem Jubel der kleinen Mannschaft verkündete einer der Seeleute lauthals: »Sieben Knoten! Es hat funktioniert!«

Jack zog das Fernglas aus dem Gürtel und warf einen Blick in Richtung des spanischen Kriegsschiffes. Die Galeone war in der Zwischenzeit um einiges näher gekommen. Und er hatte noch immer das Gefühl, dass die Spanier schneller waren als sie. Mit einer Mischung aus Wut und Bewunderung für die Genialität der Bauweise des feindlichen Schiffes beobachtete er für einen Moment, wie die Ruderriemen der Kriegsgaleone sich im Takt einer unsichtbaren Trommel hoben und wieder ins Wasser sanken. Zum wiederholten Mal an diesem Tag fragte Jack sich, welches Interesse die Spanier daran haben konnten, einen kleinen englischen Handelsfahrer aufzubringen. Er fand keine befriedigende Antwort.

»Es wird noch bestimmt eine halbe Stunde dauern, bis wir in sicheren Gewässern sind«, riss Joe den Steuermann aus seinen trüben Gedanken.

»Wenn sie uns bis dahin nicht eingeholt haben«, erwiderte Jack und reichte dem alten Seemann das Fernglas. Dieser warf einen Blick hindurch und murrte: »Wenn wir auch Ruder hätten, wären wir längst weg.«

»Unwahrscheinlich. Wer sollte rudern?«, erwiderte Jack trocken. Das Festland war noch immer nicht mehr als eine dunkle Linie am Horizont. Sie mussten weiter warten und hoffen.

 

Nach fast einer halben Stunde war das Land in greifbare Nähe gerückt. Langsam machte sich in Jack echte Hoffnung breit, dass sie seichtere Gewässer erreichen könnten, ohne vorher abgefangen zu werden. Mitten in diese hoffnungsschwangere Stimmung rief der Ausguck lautstark: »Sie kommen näher! Bald werden die Spanier in Schussweite sein!«

»Das geht noch immer zu langsam«, brummte Jack daraufhin grimmig.

»Das Wasser wird seichter!«, rief einer der Männer vom Heck des Schiffes.

»Vielleicht können sie uns hier schon nicht mehr folgen.«

»Ein Optimist vor dem Herrn, unser Steuermann«, murmelte Joe.

»Sie drehen ab!«, kam die erhoffte Auskunft aus dem Ausguck. »Sie gehen auf Parallelkurs zum Festland!« Jack atmete sichtbar durch. Die Männer ließen ihrer Freude einen Moment lang freien Lauf.

»Jack, du bist der Größte!«, jubelte Joe ausgelassen. Für einen Moment waren die Ängste und Anstrengungen der letzten Minuten vergessen. Das Donnergrollen von Kanonenschüssen beendete die Jubelstürme der Männer abrupt. Einen Moment, nachdem sie das Geräusch gehört hatten, schlug eine Kanonenkugel am Heck ein. Einige andere pfiffen über das Deck. Doch eine Kugel scharrte über die Holzplanken, riss einem der Männer das Bein weg, durchbrach das Deck und riss ein Loch in die Steuerbordseite des Schiffes. Holzsplitter schossen über das Deck. Der Mann schrie lautstark auf, starrte auf den Stumpf des Beines, aus dem stoßweise das Blut schoss. Innerhalb kürzester Zeit war das Deck, das die Männer gerade erst von den Kampfspuren befreit hatten, mit dem Blut ihres Kameraden besudelt. Der Mann lag am Boden und schrie aus Leibeskräften. Sofort waren zwei andere bei ihm und versuchten, den Rest des Beines, das am Kniegelenk abgerissen war, abzubinden. Doch der Seemann verlor zu viel Blut. Nach wenigen Minuten schloss er mit einem leisen Stöhnen für immer die Augen.

Die sieben noch Überlebenden waren außer sich vor Wut. Sie hatten im Verlauf der letzten Stunden die Leichen der Spanier achtlos über Bord geworfen und ihre toten Gefährten in eine Reihe gelegt, um ihnen vor der Küste ein würdiges Wasserbegräbnis zuteil werden zu lassen. Dass noch einer von ihnen sich zu den Toten gesellen würde, hatten sie nicht erwartet.

Wieder erklang Kanonendonner von der Kriegsgaleone aus. Doch dieses Mal sanken die Kugeln hinter dem Heck der White Swallow ins Wasser. Ein Blick über die Reling zeigte Jack, dass das Loch in der Bordwand über der Wasserlinie lag. Ebenso wie das Loch, welches die andere Kugel im Heck gerissen hatte. Es bestand keine Gefahr, dass sie sanken, aber sie würden anlegen müssen und versuchen, das Schiff zu reparieren.

Fortsetzung folgt …

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