Porterville – Folge 1
Porterville – Folge 1
Von draußen
Die 18-teilige Mystery-Serie Porterville ist keine normale Serie, wie du sie kennst. Denn sie funktioniert wie eine Art Puzzle: So ist jede Folge von Porterville wie ein neues Puzzle-Teil. Das bedeutet, die Geschichten beginnen nicht unbedingt da, wo du bei der letzten Folge aufgehört hast. Doch mit jeder neuen Folge erhältst du tiefere Einblicke in die Stadt und ihre Bewohner, bis sich das rätselhafte Gesamtbild immer mehr zusammen setzt und am Ende die Frage geklärt wird: »Was ist das dunkle Geheimnis der Stadt Porterville?«
Raimund Weber
Porterville – Folge 1
Von Draußen
gelesen von LeylaRohrbeck
Prolog: Jürgen Thormann
Mystery, E-Book/Hörbuch, Folgenreich
Die junge Emily lebt in Porterville. Die Stadt ist umzingelt vom sogenannten Draußen. Es heißt, dass dort der Schmerz von allen Seiten angreift. Ein Mensch würde dort keine fünf Minuten überleben. Aber auch Porterville ist nicht mehr sicher. Es sind die Erdbeben. Sie reißen Lücken in die Struktur der Stadt. Meistens sind sie nur groß genug, um Greybugs durchzulassen. Graue Käfer ohne Kopf und sichtbare Sinnesorgane. Aber manchmal reichen sie auch für mächtigeren Besuch. Emily folgt ihrem Freund in längst vergessene Geheimgänge. Sie führen ins Draußen …
Hörbuch: MP3, 10 Tracks, 89:35 Minuten, 3,99 Euro
E-Book: 68 Seiten, 1,49 Euro
Über den Autor
Geboren in Unna. 1998 legte Raimon Weber seinen ersten Kurzgeschichtenband vor. Bis 2005 als Autor der Jugendhörspielreihe Point Whitmark und der Hörspielserie Gabriel Burns. Heute ist er als Autor, Medientrainer und Produzent tätig. Außerdem bearbeitet er als Storydoktor Fremdtexte wie Drehbücher oder Prosa. Natürlich anonym. 2003 startete Raimon Weber mit Wir waren unsterblich die erfolgreiche Krimireihe Ruhr.Tod.Roman. Seit dem Start im Jahre 2002 ist Raimon Weber an Europas größtem Krimifestival Mord am Hellweg beteiligt. Seine Recherchen treiben ihn in die geschlossene Forensische Psychiatrie, auf hohe Fabrikschornsteine oder in Verbrennungsanlagen für amputierte Gliedmaßen. 2010 verfasste er mit einem Autorenkollektiv die mehrfach preisgekrönte Hörbuch-Thrillerserie Darkside Park. Die wegen des großen Erfolges auch als dreibändige Print-Ausgabe erschien. Seit Februar 2013 erscheint als Fortsetzung der Serie Darkside Park die E-Book-Reihe Porterville.
Hörprobe:
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Leseprobe:
Prolog
»Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger von Porterville! Im Angesicht nie gekannter Gefahren ist es mein unumstößliches Ziel, die Freiheit und Sicherheit unserer wunderschönen Stadt zu bewahren. Und ich gelobe feierlich: Ich werde jeden Einzelnen von euch, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, wieder heil nach Hause bringen.«
Angus Hudson
Bürgermeister von Porterville
1
Porterville ist Geborgenheit und Glück!
Draußen bedeutet Verlust und Chaos!
Ich fixiere die Leitsätze unter dem Porträt des Bürgermeisters Takumi Sato, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Es hätte auch jeder andere Punkt im Klassenzimmer sein können. Ein winziger Schmutzfleck oder ein vergessener Klebestreifen, an der einst ein Poster mit gut gemeinten Ratschlägen hing.
Ich kann mich noch genau an die bunten Poster erinnern, die damals im monatlichen Rhythmus wechselten. Wenn sie von der Klassenleiterin an die Wand geheftet wurden, folgte im Anschluss stets eine zweistündige Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema. Dabei ging es um Körperhygiene, Energieeinsparung oder Mülltrennung. Oder, wie vor drei Jahren, um Partnerschaft. Das Motiv habe ich mir eingeprägt. Das Poster war durch eine rote Linie in zwei Hälften geteilt. Auf der linken betrieb eine Gruppe junger Mädchen Gymnastik, in dem sie überaus geschickt bunte Bänder durch die Luft wirbeln ließen. Die rechte Seite zeigte vier Jungen mit verbissenen Gesichtern, die um einen Football rangen. Drei von ihnen lagen bereits am Boden, der vierte, ein mächtiger Bursche mit Kriegsbemalung, warf sich gerade auf sie. Er war inmitten des Sprungs festgehalten worden, sodass er trotz seines massigen Körpers wie schwerelos wirkte.
Über den gegensätzlichen Szenen prangte die Losung: Lebt eure Jugend! Lasst euch Zeit!
Unsere damalige Klassenleiterin hatte uns klargemacht, dass man die kostbare Zeit der Jugend nicht mit Schwärmereien für das andere Geschlecht vertun soll. Dafür wäre im späteren Leben noch genügend Zeit. Außerdem seien flüchtige Emotionen ohnehin nicht dazu geeignet, um eine Partnerschaft einzugehen. Die städtische Instanz für Lebensgemeinschaften würde in jedem Einzelfall erkennen, wer füreinander bestimmt ist. Und auch den richtigen Zeitpunkt mitteilen. Bis dahin hat all unser Streben dem Wohl der Stadt Porterville zu dienen.
Damals, als Zwölfjährige, klang das für mich plausibel. Wer, wenn nicht die zuständige Instanz, sollte wissen, was richtig ist. So ist es doch in allen Bereichen. Doch als ich Jonathan vor drei Monaten kennenlernte, wuchsen in mir Zweifel an der Richtigkeit.
Während ich die Leitsätze anstarre, denke ich nur an Jonathan. Mrs. Gratschow referiert monoton über ethische Grundlagen der Gemeinschaft. Ihre Sätze zerfasern in meinem Kopf zu einem monotonen Rauschen.
»Miststück!«, kreischt Carmen neben mir.
Ich blicke zur Seite. Ein Greybug, ein besonders fettes Exemplar mit mindestens drei Zentimeter Durchmesser, krabbelt vor ihr über die Tischplatte.
Carmen schlägt mit der Faust auf den Tisch. Die Vibration lässt den Greybug auf der Stelle verharren. Carmen zückt ihr Cuttermesser und schneidet das Ding in der Mitte durch. Dabei muss sie einige Kraft aufwenden. Ein Greybug ist sehr zäh. Eine gelbliche Masse dringt aus den Körperhälften. Zum Glück ist sie absolut geruchlos. Greybugs stinken nicht, sie fressen dafür aber alles Mögliche an. Kunststoff, Holz, Kleidung und natürlich Lebensmittel. Es heißt, sie würden auch nicht vor hilflosen Menschen zurückschrecken. Kranke und Säuglinge verbringen die Nächte daher unter einem Netz aus Leichtmetall.
»Gut gemacht!«, vernehme ich Mrs. Gratschows Stimme. Sie eilt mit einer Sammelbox herbei. Die Lehrerin streift sich Latexhandschuhe über, lässt die beiden Hälften des Greybugs in der metallenen Box verschwinden und reicht meiner Nachbarin ein Papiertuch, um den Tisch abzuwischen.
Mrs. Gratschow schüttelt den Kopf. »Die Viecher werden immer aufdringlicher«, murmelt sie und schaut kurz in die Sammelbox. Ich vermute, dass sich darin schon mehrere Dutzend Exemplare befinden müssen. Das Ergebnis von weniger als einer Woche.
Ein Gongschlag beendet in diesem Moment den Unterricht. Alle Mädchen stehen wie in einer einzigen Bewegung auf, verharren kerzengerade und sehen zu, wie Mrs. Gratschow sich dem Bild des Bürgermeisters zuwendet und eine Verbeugung andeutet. Dann sind wir an der Reihe, Takumi Sato unsere Ehrerbietung zu erweisen.
Was wird der Bürgermeister dazu sagen, wenn er erfährt, dass ich mich ausgerechnet in seinen Enkel verliebt habe? Entgegen allen Vorschriften.
Beim Verlassen des Klassenraums treffe ich auf dem Flur den Hausmeister. Er ist das einzige männliche Wesen in diesem Teil der Schule. Mädchen und Jungen werden getrennt unterrichtet.
Der Hausmeister sprüht etwas aus einer grellroten Flasche in einen schmalen Spalt auf dem gefliesten Fußboden. Gift gegen die Greybugs, vermute ich. Manchmal bebt die Erde. Erst in der letzten Nacht wurde ich durch eine Welle von Erschütterungen wach. Fundamente verschieben sich, Risse entstehen auf Straßen und an Gebäuden. Daraus kommen dann die widerlichen Greybugs hervor. Ovale, graue Käfer ohne Kopf und sichtbare Sinnesorgane. Sie sind extrem widerstandsfähig. Wenn man versucht, sie zu zertreten, glaubt man nachgiebiges Gummi unter der Schuhsohle zu spüren. Anschließend flitzen sie völlig unversehrt davon. Man muss sie vergiften, zerschneiden oder verbrennen.
Ich habe jetzt einige Stunden Freizeit, die ich bei meinem Großvater verbringen möchte. Er ist der einzige Verwandte, den ich habe. Ich glaube, dass er nur mir zuliebe noch nicht gestorben ist. Obwohl er sehr krank ist und unter ständigen Schmerzen leidet. Meine Besuche, so betont er immer wieder, sind die einzigen Lichtblicke in seinem ansonsten so tristen Dasein. Manchmal, von einem Moment zum anderen, beginnt er zu weinen. Wenn ich ihn nach dem Grund frage, gibt er mir keine vernünftige Antwort.
An meine Eltern kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich war keine zwei Jahre alt, als sie durch das Draußen getötet wurden. Wie alle aus ihrer Generation.
Im Bedarfs-Center werde ich ein kleines Geschenk für Großvater besorgen.
2
Die Bedarfs-Center sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Das Größte befindet sich zum Glück in der Nähe der Schule. Hier kann man sicher sein, fast alles Notwendige zu bekommen. Das Center ist im Parterre eines riesigen Gebäudes untergebracht. Von außen wirkt es mit seinen Erkern und Verzierungen, umrahmt von quadratischen Wohn- und Verwaltungsblöcken, völlig deplatziert. Ich will gerade die ausladenden Treppenstufen erklimmen, als ein riesiger Schatten über den Himmel gleitet. Ich richte den Blick reflexartig in die Höhe. Doch was immer da über die Stadt gleitet, ist zu schnell, um von mir erfasst zu werden. Normalerweise gibt es nichts Ungewöhnliches am Himmel zu entdecken. Wolken und Sonne am Tag, unzählige Sterne und einen blassen Mond in der Nacht. Und den Regen. Aber der kann uns nicht erreichen. Die Tropfen prallen am Schutzschild ab.
Jetzt bemerke ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder den Spruch über dem Eingang des Bedarf-Centers.
»Beurteile den Tag nicht nach dem, was du geerntet hast, sondern danach, was du ausgesät hast.«
Die einzelnen Wörter sind verblasst. Irgendwann in naher Zukunft werden sie vollständig verschwunden sein. Sie passen so gar nicht an diesen Ort. Vielleicht weiß Großvater etwas über den Ursprung der Worte.
Im Eingangsbereich stehen noch mehrere Einkaufswagen. Würden alle benutzt, müsste ich warten, bis ein Kunde seinen Wagen nicht mehr benötigt und ihn wieder abstellt. Manchmal bilden sich so lange Warteschlangen, aber dafür herrscht im Inneren des Centers nie ein Gedränge.
Heute ist der hintere Teil des Centers unbeleuchtet und durch gelbe Bänder abgesperrt. Das bedeutet, dass es weder Fleisch, noch Obst oder Gemüse gibt. Bei diesen Nahrungsmitteln kommt es immer wieder zu Engpässen, da sie von Tieren und Pflanzen stammen, die innerhalb der Stadt gezüchtet werden. Nahrung von außerhalb ist, so haben Untersuchungen in der Vergangenheit gezeigt, ungenießbar und nicht selten sogar hochgiftig.
Die Regale sind mäßig gefüllt. Nur die Dosen mit der gelben Beschriftung Supreme sind allgegenwärtig. Sie enthalten eine hellbraune, halbfeste Masse, die durch Erhitzen ein entfernt nussig schmeckendes Aroma entwickelt. Supreme enthält alle lebensnotwendigen Nährstoffe. Nimmt man zusätzlich ausreichend Flüssigkeit zu sich, benötigt man eigentlich keine anderen Lebensmittel. Aber der Bürgermeister und seine Mitarbeiter setzen natürlich alles daran, den Menschen Abwechslung, ja, sogar ein wenig Luxus zu ermöglichen. Letzte Woche gab es jeden Tag Speiseeis.
Zu meiner Freude entdecke ich in einer Regalreihe eine kleine Schachtel Schokomints. Ich weiß, dass Großvater sie ganz besonders mag. Sie kostet nur noch acht Mac-Kingsley-Punkte. Früher lag der Preis bei einem nahezu unerschwinglichen Boy. Ich hole die Karten aus meiner Jackentasche: drei Zweier, zwei Vierer. Das ist nicht viel. Normalerweise würde ich mit den Karten an der Kasse ein Spielchen wagen. Gewinne ich die Partie, gibt es die Schokomints umsonst und vielleicht sogar ein paar Extrapunkte. Aber heute will ich das Risiko nicht eingehen. Auf dem Schulhof habe ich bereits zwei wertvolle Neuner verloren. Ausgerechnet an Debra, die Klassenzicke. Nach meiner Niederlage hat sie ein so hämisches Gesicht gezogen, dass ich ihr am liebsten die Nase gebrochen hätte.
An der Wand hängt ein riesiges Plakat. Darauf ist natürlich Bürgermeister Sato abgebildet. Er tätschelt einer Kuh den mächtigen Schädel. Diese Tiere kenne ich nur aus dem Biologie-Unterricht. Ich habe keine Ahnung, wo das Foto gemacht wurde. Tier und Bürgermeister scheinen auf einer Wiese zu stehen. Im Hintergrund sind weitere Kühe zu erkennen. Im blauen Plakathimmel prangt in schwungvollen Lettern der Slogan Trinkt mehr Milch!
Ich kann mich schwach an dieses Getränk erinnern. Im Kinderhort bekamen wir es manchmal. Damals muss ich etwa vier Jahre alt gewesen sein.
Der Kassierer, ein schlaksiger junger Bursche mit enormen Ohren, erwartet mich an der Kasse.
Ich deute auf das Plakat. Es ist selbst von hier nicht zu übersehen. »Wo steht denn die Milch?«
Er blickt völlig desinteressiert. »Haben wir nicht. Vielleicht kommt sie irgendwann.«
Ich reiche dem Kassierer meine beiden Vierer-Karten.
»Oh, schade«, macht er. »Das könnte doch heute dein Glückstag sein.« Wie alle in Porterville liebt er das Spiel mit den Mac-Kingsleys.
»Oder deiner!«, erwidere ich und versuche, dabei nicht auf seine abstehenden Riesenlauscher zu starren.
Schade, denke ich, Großvater hätte sich bestimmt über etwas Milch zu den Schokomints gefreut.
Quellen: