Paraforce Band 12
Sie starrte auf die Gestalten, die sich dort im scheinbaren Freizeitvergnügen am Strand tummelten. Umschwärmt von einer Schar Möwen, deren Gekreische sich mit dem Tosen des Meeres vermischte. Ein merkwürdiger, unwirklicher Mond stand am Firmament und blinkte wie aus einer anderen Welt durch die Nebelbank.
Doch das war es nicht, was Amanda Harris so erschreckte.
Sie befand sich hier mitten in den Yorkshire Dales und … es gab hier weit und breit keinen Strand.
Ihre rechte Hand fuhr unkontrolliert zur 45er, die sie als private Waffe immer mit sich führte. Wohl in selber Sekunde wissend, dass sie ihr in dieser Situation kaum etwas helfen würde.
Also haben alle Zeugen wirklich keine Halluzinationen!, durchzuckte es sie und ihre Gedanken spulten sich zurück bis zu jenem Montag vor zwei Monaten …
***
September, ein Montag in London
»Und was sagen die Psychologen dazu?«
Amanda Harris schaute ihr Gegenüber in dem kleinen Café aufmerksam an.
Sir Miles lehnte sich zurück und starrte auf den von der Septembersonne durchfluteten Platz draußen.
»Nichts! Die Aussagen der beiden Menschen sind unabhängig voneinander völlig identisch. Obwohl diese sich vorher nie gesprochen haben.«
Er begann langsam seine Pfeife zu stopfen, ohne das Rauchverbot zu beachten.
Amanda Harris nahm einen Schluck Cappuccino. Ein winziger Sahnetropfen blieb an ihrer fein geschwungenen Oberlippe hängen. Sie wischte ihn mit der Zungenspitze ab.
»Sie schreiben hier in dem Protokoll, diese Miss Carnable habe Automobile gesehen, die es in den Fünfzigern gegeben habe. Wie kommt sie darauf?«
Der Scotland Yard-Beamte wandte der Sprecherin den Kopf zu. »Sie hat uns die Fahrzeuge – also die Umrisse, es war ja dicker Nebel – genau beschrieben. Unsere Spezialisten haben sie als Bedford und Sunbeams aus der Zeit um 1958 identifiziert.«
»Und die Straße?«
Der Aristokrat hob leicht die Hände. »Blaupflaster vor dem Trafalgar Square. Wurde 1971 durch Asphalt ersetzt.«
Amanda Harris schloss kurz die Augen. »Also ein Szenarium aus der Vergangenheit.«
Sir Miles schlug mit der flachen Hand auf die polierte Tischplatte. »Unsinn!«
Nun musste die junge Frau lächeln. »Welche Erklärung gibt es dann?«
Der Leiter des Yard blies die Backen auf. »Ich weiß es nicht!«, zischte er verzweifelt.
Amanda Harris hob leicht die Augenbrauen. »Wieso denken Sie, dass ich etwas herausfinden könnte?«
Sir Miles beugte sich vor und schob einen braunen Schnellhefter über den Tisch. »Weil Sie angeblich eine super Paraforce-Agentin sind.« Er grinste verunglückt. »Sagt Blackstone und hat mich beauftragt, Ihnen die Akte zu übergeben.«
Sir Miles kannte Amanda Harris seit langer Zeit. Sie war wie eine Tochter für ihn.
Ihre besonderen Denkfähigkeiten erregten einst die Aufmerksamkeit des Yard-Chefs und brachten ihn dazu, sie mit einigen besonderen Aufgaben zu betrauen, die sonst niemand – vor allem nicht offiziell – erledigen konnte.
Lady Amanda wurde im Laufe der Zeit zu einer unverzichtbaren Geheimwaffe des Yard.1 Blackstone hatte sie dazu überreden können, für Paraforce tätig zu sein. Obwohl man in der Einsatzleitung wegen ihrer Eigenwilligkeiten die Augen verdrehte.
»Also«, begann Amanda leise, »ich rekapituliere: Zu sechs verschiedenen Zeiten an teils verschiedenen Orten wurden unterschiedliche Zeugen mit einer sich plötzlich aufbauenden Nebelwand konfrontiert. In diesem Nebel sahen sie die Schatten mehrerer Personen und – wie hier in London – auch Fahrzeuge. Haben diese Menschen gesprochen? Sich den Beobachtern genähert?«
Sir Miles runzelte die Stirn. »Nein«, meinte er dann. »Davon ist nichts bekannt.«
»Wie lange hielt das Szenario jeweils an?«
Der Aristokrat zuckte mit den Schultern. »Die Zeugen gingen einfach weiter und traten dann irgendwann aus dem Nebel wieder heraus. Danach verhielt sich alles normal. Bis auf einen Fall.« Er griff zu dem braunen Hefter und schlug eine Seite auf.
»Mrs. McFarny war mit ihrer Nachbarin unterwegs. Eine Miss Olson. Sie kamen von einem Kinobesuch. Sie unterhielten sich über den ungewöhnlichen Nebel, dann war ihre Begleiterin verschwunden. Sie ist bis heute nicht aufgetaucht. Durch ihre Anzeige kam die Sache ja ins Rollen.«
Amanda Harris strich sich eine der langen pechschwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht. Die junge Frau hätte eher auf das Titelbild der VOGUE gepasst denn in einen Geheimdienst.
»Was ist mit den Überwachungskameras am Trafalgar?«
»Hm«, machte Sir Miles. »Das ist ja das Merkwürdige … Die Kameras zeigen ein ganz normales abendliches Straßenbild.«
Amanda Harris runzelte die Stirn. »Wo ist Mrs. McFarny jetzt?«
Der Scotland Yard-Mann stieß leicht pfeifend die Luft aus. »Da ihre Begleiterin, Miss Olson, verschwunden ist und der Kassierer des Kinos aussagte, die beiden hätten sich fürchterlich gestritten, hat die City Police sie in Gewahrsam genommen und nach der ›Nebelgeschichte‹ in die Psychiatrie eingewiesen.«
»Moment mal …« Amanda beugte sich weit vor. Ihre Augen schienen Sir Miles zu sezieren. »Sie wollen mir jetzt nicht sagen, dass man Mrs. McFarny in eine Klinik eingewiesen hat?«
Der Gesichtsausdruck der jungen Frau drückte Ungläubigkeit aus.
Der Aristokrat wand sich etwas verlegen. »Reine Routine der City Police, Lady Amanda.«
»Was ist mit dieser Miss Carnable?«
»Eine verschrobene alte Lady. Ich glaube, die Polizei nimmt sie nicht ernst.«
Die junge Frau ergriff den Ordner, sprang auf und sagte kurz – auf Sir Miles herabblickend: »Ich will einen Besuchstermin für Mrs. McFarny! Morgen früh!«
Damit rauschte sie aus dem Café.
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