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Kybele

Kybele

Erde fiel dumpf auf das Holz. Panik stieg in Sabelina auf. Sie wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Wieder erklang das bedrohliche Geräusch, als weitere Erdbrocken niederprasselten.
Sabelina wollte nicht sterben!
Sie wollte sich bemerkbar machen und mit bloßen Händen gegen den Sargdeckel hämmern. Doch sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ihr Körper versagte ihr den Dienst. Wie so oft in diesem schrecklichen Albtraum, der sie Nacht für Nacht heimsuchte. In dem sie lebendig begraben wurde und der nun wahr wurde.
Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Der Sauerstoff wurde allmählich knapp. Ein fester Ring legte sich um ihren Brustkorb und zog sich immer enger zu. Langsam schwanden ihr die Sinne. Doch noch nicht völlig – so wie sie es erhoffte, damit sie endlich erlöst war.
Ein stummer Schrei durchzog sie und löste die Verkrampfung in ihr. Endlich konnte sie die Hände bewegen, sie einige Zentimeter heben und gegen das Holz, das sich feindselig über ihr erhob, schlagen. Verzweifelt kratzte sie mit den Fingernägeln daran entlang. Immer heftiger, bis ihre Nägel brachen und blutige Spuren hinterließen … und ihr die Sinne schwanden …
… es Nacht wurde. Um sie und in ihr.
Endlich!
Der Tod griff nach ihr.
Umarmte sie sanft und zog sie mit sich.

Mit einem lauten Aufschrei fuhr Sabelina aus den Kissen empor. Die Hände fest gegen den Brustkorb gepresst. Noch immer raubte ihr der vermeintliche Ring den Atem. Röchelnd schnappte sie nach Luft, fühlte, wie sich ihre Lungen wieder mit Sauerstoff füllten, und schrie gepeinigt auf. Schmerzpfeile durchschossen sie. Sabelina stöhnte leise. Mephisto, ihr schwarzer Perserkater, fuhr fauchend vom Fußende auf und verschwand unter dem Bett.
Sabelina setzte sich auf die Bettkante und betrachtete ihre nackten Füße, die vom Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, beschienen wurden. Benommen bewegte sie die Zehen.
Sie lebte!
Sie war nicht tot.
Es war alles nur ein Traum gewesen. Wieder einmal. Wie jede Nacht. Seit …
Ihre Gedanken verschleierten sich. Plötzlich fühlte sie bleierne Müdigkeit in sich. Schlafen, sie wollte nur noch schlafen. Doch zuvor tastete sie sich durch die Dunkelheit in die Küche und trank dort hastig etwas Wasser. Warum sie es dabei vermied, Licht zu machen, wusste sie nicht.
Es störte sie einfach.
Ihre Füße bewegten sich zielstrebig über die kühlen Bodenfliesen. Zurück ins Bett, das für viele Zuflucht war. Für Sabelina nicht. Nicht mehr. Für sie war es die Heimsuchungsstätte eines dunklen immer wiederkehrenden Traums. Seit Monaten fragte sie sich, warum er ausgerechnet sie heimsuchte, fand darauf aber keine Antwort.
Seufzend ließ sie sich zurücksinken, schloss die Augen und schlief ein.
Kybele, flüsterte es in ihr, Kybele …
Sabelina wollte die Augen öffnen. Doch es gelang ihr nicht. Die Lider lagen wie gelähmte Vogelschwingen über ihren Augäpfeln.
Kybele, wisperte wieder die Stimme in ihr. Jene, die sie seit dem ersten Traum begleitete. Sabelina wehrte sich längst nicht mehr gegen sie. Die Stimme war bereits fester Bestandteil ihres Seins. Schwieg sie einmal, fehlte Sabelina etwas.
Der innere Antrieb.
Die Motivation.
Das entscheidende Stück ihrer Seele.
Die Stimme trieb sie voran. Veränderte ihr Denken und Handeln. Auch dagegen wehrte sich Sabelina nicht. Viel mehr wartete sie auf die geflüsterten Befehle, die sie oft ängstigten, verunsicherten, gar quälten. Ohne die sie aber nicht mehr leben konnte. Oftmals kostete das, was ihr die Stimme, die sie immer Kybele nannte, abverlangte, so viel Kraft, dass Selina ihr Schlafzimmer tagelang nicht verließ. Teils aus Verunsicherung, was sie getan hatte, teils aus seelischer Erschöpfung. Aber auch um nicht mehr den neugierigen Blicken und Fragen ihrer Freunde ausgeliefert zu sein, die mit Sorge ihre Veränderung beobachteten: ihre Rastlosigkeit, ihr teils plötzlich maskulineres Wesen und die Bleichheit ihrer Haut, die Abgezehrtheit ihrer Züge.
Die Stimme in ihr erklang wieder.
Kybele, komm … komm zu mir!
Sabelinas Körper verkrampfte sich. Dann begann er sich kaum wahrnehmbar zu verändern – erhielt männlichere Züge. Wurde zweigeschlechtlich – eine Zwittergestalt der Nacht.
Sabelina glitt aus dem Bett und ging an den Kleiderschrank. Wieder ohne das Licht anzuschalten. Ihre Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt. Mehr noch – nur dann konnte Sabelina ohne Schmerzen sehen. Tageslicht war für sie unerträglich geworden. Daher verbarg sie ihre katzig-grünen Augen, sobald die Sonne aufging, hinter dunklen Brillengläsern.
Sabelina zog einen dunklen Männeranzug an, band sich das lange Haar zu einem straffen Zopf zurück und verließ das Haus.

Schrilles Rasseln und Klappern klangen durch die Nacht. Kündigte ein neues Blods an. Kybele wusste, dass ihre Anhänger das Opferfest für sie abhielten, und lächelte zufrieden. Die Luft roch nach Weihrauch und war geschwängert von dem süßlichen Duft frischen Blutes. Kybele betrachtete ihre Gefolgschaft, die in berauscht-fließenden Bewegungen um einen Altar tanzten, auf dem ein frisch geschlachtetes Lamm lag. Kybeles Blick wanderte weiter zu dem jungen Mann, der inmitten der Tanzenden auf dem Opfertisch stand. Hochaufgerichtet und stolz – das Gesicht dem Mond zugewandt.
Die Tanzenden stimmten einen monotonen Gesang an, der sich wellenartig steigerte. Kybeles Lächeln wurde eine Spur arroganter. Sie wusste, dass ihre Anhänger in einen beinahe religiösen Wahn verfallen würden, dessen Höhepunkt Kybeles Hochzeit mit ihnen sein würde.
Ihr Blick blieb wieder an dem halb nackten Mann haften: Attis, ihr Sohn und Geliebter, der von einem Ziegenbock gesäugt, ihr verfallen war. Der ihre Gefolgschaft anführte und sie zusammenhielt. Es war Kybeles Verbindung zur Welt der Toten. Die ihr, der Erdgöttin, verwehrt geblieben wäre. Doch durch ihn war es ihr möglich, sich mit des Todes bleiche Kinder, wie sie ihre Anhänger oft spöttisch nannte, in einer Zwischenwelt zu bewegen. Durch ihn und die Frauenkörper, in die sie schlüpfte. Frauen, durch deren Seelen und Energien sie am Leben blieb.
So wie Sabelina, mit/in der sie nun im Dunkel der Nacht zu der neuerlichen Hochzeit eilte. Bedauern stieg in Kybele auf. Wenn die Vereinigung vollzogen war, musste sie sich von Sabelina lösen, deren Energie dann verbraucht war, und sich nach einem anderen Frauenkörper umsehen, der sie bewirtete.
Kybele löste sich von dem Gedanken und betrachtete wieder die Tanzenden. Das Mondlicht erhellte deren bleiche, unbewegte Gesichter. Kybele betrachtete ihre plötzlich abgehackten Bewegungen, ihre weißen Leiber. Sie waren alle wunderschön – doch ohne Leben.
Bis zu der Hochzeit!
Kybele wusste, dass es wieder all ihre Kraft – und Sabelinas dazu – kosten würde, um den Toten neues – anderes – Leben einzuhauchen. Um sie hinaus in die Welt zu schicken, um Kybeles Gefolgschaft zu mehren und ein neues Volk zu gründen.
Der Rauch um den Altar verdichtete sich. Der aus den Tongefäßen emporsteigende Flammenmantel hüllte die Tanzenden ein.
Kybele ging auf sie zu. Freudig erregt spürte sie wie sich Sabelinas Seele aufbäumte. Sich angstvoll zur Wehr setzte. Doch Kybele war stärker und zwang Sabelina weiterzugehen. Die geistigen Fühler der Göttin hatten sich längst um den Willen der junge Frau gelegt.
Kybele durchbrach den Kreis der tanzenden Toten und erklomm den Altar. Die Bleichgesichter fassten sich an den Händen und bildeten einen Kreis um Kybele und Attis, die sich eng umschlungen hielten. Sie sahen, wie die Tanzenden einen Becher mit dem Blut des Lamms herumreichten und es tranken. Dabei bewegten sie sich zu einer imaginären Musik – schneller, immer schneller.
Kybele schloss die Augen und spürte, dass sich Attis’ Körper hart und fordernd an sie presste.
Ihre Hochzeit stand kurz bevor.
Doch es würde keine Vereinigung im herkömmlichen Sinne sein. Wie sie es sonst vollzogen. Er würde ihr Blut trinken und sie das seine, und mit ihr die Bluthochzeit eingehen. Stellvertretend für die um sie herum Tanzenden.
Kybele lächelte erregt, als seine Lippen ihren Hals berührten und sie seine Zähne spürte. Ihre Augen öffneten sich für einen flüchtigen Moment und sogen sich an dem Blick der jungen Frau fest, die sie, dank ihrer mentalen Kraft, hergerufen hatte.
Sabelina wollte sich dem entziehen und aus diesem neuerlichen Traum erwachen, doch es gelang ihr nicht. Völlig bewegungslos ließ sie es geschehen, dass sich Kybele über sie beugte, und spürte, wie das Leben aus ihrer Seele wich – Tropfen für Tropfen. Doch da war noch etwas anderes. Etwas, das ihre schwindende Lebensenergie ersetzte. Das sie aber auch hinabzog – ins Nirgendwo.

Mae, die junge Polizistin, beugte sich über die leblose Frauengestalt, die in gekrümmter Haltung auf der altarähnlichen Steinformation lag.
»Schon wieder eine schwarze Messe«, murmelte sie und blickte ihren Kollegen an.
Der nickte und deutete erst auf die Frauenleiche und dann auf den daneben liegenden Tierkadaver. »Aber dieses Mal sind sie zu weit gegangen. Dieses Mal entgehen sie uns nicht. Und wenn ich jeden Erdklumpen auf diesem Friedhof umdrehen muss!«
Mae nickte und blickte in Sabelinas bleiches Antlitz. »Sie sieht aus, als wäre nicht ein einziger Blutstropfen mehr in ihr«, stellte sie mit einem Schaudern fest.
»Lass uns gehen!« Die Stimme ihres Kollegen klang tonlos zu ihr herüber. »Dieser Platz ist mir nicht geheuer.«
Mae nickte erneut und wollte ihm folgen. Doch dann drehte sie sich noch einmal herum und schloss Sabelinas starre Augen. »Ruhe in Frieden!”, flüsterte sie.
Ein Windhauch streifte sie, als sie flüchtig die Wange der Toten berührte.
»Kybele«, erklang es.
Mae fuhr herum. Doch sie war allein.
»Kybele«, erklang es erneut – eindeutig hinter Maes Stirn. Die Polizistin fuhr herum und rannte ihrem Kollegen hinterher und verließ mit ihm fluchtartig den Friedhof, um möglichst rasch Abstand zwischen sich und den Altar mit der Toten zu schaffen.

Erde fiel dumpf auf das Holz. Panik stieg in ihr auf. Mae wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Wieder erklang das bedrohliche Geräusch, als weitere Erdbrocken niederprasselten.
Mae wollte nicht sterben!
Sie wollte sich bemerkbar machen und mit bloßen Händen gegen den Sargdeckel hämmern. Doch sie war nicht in der Lage, sich zu bewegen. Ihr Körper versagte ihr den Dienst. Wie so oft in diesem schrecklichen Albtraum, der sie Nacht für Nacht heimsuchte. In dem sie lebendig begraben wurde und der nun wahr wurde.
Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft. Der Sauerstoff wurde allmählich knapp. Ein fester Ring legte sich um ihren Brustkorb und zog sich immer enger zu. Langsam schwanden ihr die Sinne. Doch noch nicht völlig – so wie sie es erhoffte, damit sie endlich erlöst war.
Ein stummer Schrei durchzog sie und löste die Verkrampfung in ihr. Endlich konnte sie die Hände bewegen, sie einige Zentimeter heben und gegen das Holz, das sich feindselig über ihr erhob, schlagen. Verzweifelt kratzte sie mit den Fingernägeln daran entlang. Immer heftiger, bis ihre Nägel brachen und blutige Spuren hinterließen … und ihr die Sinne schwanden …
… es Nacht wurde. Um sie und in ihr.
Endlich!
Der Tod griff nach ihr.
Umarmte sie sanft und zog sie mit sich.
Mit einem lauten Aufschrei fuhr Mae in ihrem Bett auf, griff sich an die Brust und setzte sich benommen auf. Erst nach Minuten fasste sie sich, bemerkte, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung war.
»Es war alles nur ein Traum«, murmelte sie. Hielt auch das Lachen hinter ihrer Stirn für eine Halluzination ihrer überreizten Nerven …

Copyright © 2007 by Alisha Bionda