Mahpiya-win – Die Entscheidung – Teil 10
Die Männer, die ins Lager ritten, waren weder Soldaten noch Händler. Sie sahen auch nicht wie Kundschafter des Militärs aus. Ohne sie genau zu betrachten, spürte Mahpiya-win das Böse, das von ihnen ausging. Alle fünf trugen lange staubbedeckte Ledermäntel und waren ausreichend bewaffnet. Frauen und Kinder brachten sich in Sicherheit.
»Wer ist der Häuptling von dieser Drecksbande?«, fragte der eine.
Auf Mahpiya-wins Kehle legte sich eine eisige Hand. Trotz der Sonne fröstelte sie. Niemals hätte sie gedacht, dass sie diese Stimme noch einmal hören würde. Sie betrachtete den Sprecher genauer. Kein Zweifel, er war es.
Im nächsten Augenblick erschien Enapay. »Die Weißen kommen nicht als Freunde. Sie verletzen die Gesetze der Gastfreundschaft und sollten unser Dorf verlassen.«
»Halt dein Maul, Rothaut, sonst blas ich dir ein Loch in den Schädel. Ich will die weißen Frauen sehen, die ihr gefangen habt.«
Mahpiya-win spürte, dass die Situation zu eskalieren drohte, denn einer der Banditen zog seine Waffe. Sie trat nach vorne. »Was willst du hier?«
Falls er überrascht war, zeigte er es nicht. »Dumme Frage. Ich hab dich gesucht.«
»Das ist sehr …« Sie suchte nach einem passenden Wort. »… nett von dir. Du siehst, es geht mir gut. Reite wieder nach Hause.«
Sein Grinsen erinnerte sie an ein Raubtier. »Du kommst mit mir.«
Sie schüttelte den Kopf. »Hier habe ich meine Familie, hier bin ich glücklich.«
»Ich bin nicht den weiten Weg geritten, um unverrichteter Dinge zurückzukehren. Hast du vergessen, wo dein Platz ist?«
»Erträgst du es nicht, wenn jemand glücklich ist, Vater?«
»Mach dich fertig.«
Genauso hatte sie ihn in Erinnerung. Kaltherzig, ohne jede Gefühlsregung. »Ich bleibe hier.«
»Das Militär wartet nur darauf, weiße Gefangene zu befreien.«
Trotzig schüttelte sie den Kopf.
Ungerührt blickte er auf sie herab, ließ seinen Blick über das Dorf schweifen.
»Morgen Mittag, wenn die Sonne am höchsten steht«, sagte er mit vor Kälte klirrender Stimme, »lasse ich das Lager dem Erdboden gleichmachen. Ich lagere mit den Soldaten eine Meile nördlich von hier.« Sein abfälliger Blick blieb an ihrem gewölbten Bauch hängen.
Unbewusst legte sie schützend ihre beiden Hände drauf.
»Ich hasse dich, du selbstgerechter, alter Mann«, schrie sie mit überschlagender Stimme.
Sie dachte, ohnmächtig zu werden. Wie konnte er das verlangen? Es gab keinen Grund dafür.
Mit einem Kopfnicken befehligte er seine Leute. Stumm wie sie gekommen waren, ritten sie aus dem Dorf. Mahpiya-win starrte ihnen nach, bis sie hinter den Hügeln verschwanden und Tränen ihren Blick trübten.
Enapay trat zu ihr. »Mahpiya-win, ist eine aus dem Volk und Waktekas Frau. Wie deine Entscheidung auch ausfällt, das Volk wird sie akzeptieren.«
Mahpiya-win presste die Hand auf den Mund. Diese Worte waren weit schlimmer, als wenn er sie aus dem Dorf gejagt hätte. Er überließ ihr die Entscheidung zu bleiben oder zu gehen. Blieb sie, würden viele sterben, ging sie, würden sie überleben. Tränenblind stolperte sie in ihr Zelt, wo sie wimmernd zu Boden sank. Warum war er so grausam? Der Schmerz überwältigte sie. Ihr Weinen und Klagen war weithin zu hören. Sie wollte nicht tapfer sein, nicht jetzt.
Irgendwann kam Wakteka. Er legte sich zu ihr, umarmte sie sanft und flüsterte ihr zärtliche Worte ins Ohr. Über die gemeinsamen Zukunft von ihr und dem Baby. An seiner Stimme merkte sie, dass es ihn genauso schmerzte und doch versuchte er ihr Mut zu machen. Die Zärtlichkeiten in dieser Nacht waren anders als bisher, denn es würde das letzte Mal sein. Das Leid in ihrem Herzen drohte sie zu zerreißen.
Die Luft im Zelt war erfüllt von der Hitze der Nacht. Wakteka streichelte zärtlich ihr Gesicht. Das letzte Mal, dass sie seine Hände spürte, das letzte Mal, dass sein Atem ihre Haut streifte. Mit beiden Händen umfasste sie sein Gesicht. Am liebsten hätte sie laut geschrien, doch es würde nichts ändern. Ein letztes Mal ihn küssen, ein letztes Mal seine Haut berühren. Er strich über ihren gewölbten Bauch und wischte sanft ihre Tränen fort. Er würde sein Kind nicht aufwachsen sehen, seine ersten Schritte nicht mit verfolgen und nicht seine Taten, falls es ein Junge wird. Sie musste das Zelt verlassen. Sofort. Sonst schaffte sie es nicht, hochaufgerichtet zu gehen. Er sollte stolz auf sie sein. In seinen Augen sah sie grenzenlose Liebe, doch er musste an sein Volk denken. Ein Akicita stellte das Wohl seines Volkes über sein eigenes. Auch sie hatte sich für das Wohlergehen des Volkes entschieden und deshalb musste sie gehen. Sie sprachen nicht, es bedurfte keiner Worte. Ein letztes Mal berührten sich ihre Lippen, dann trat er vor ihr aus dem Zelt. Draußen hielt ein Junge Waktekas Kriegspony. Alle waren versammelt, die Menschen, mit denen sie in den letzten Monaten gelebt hatte. Sie waren hier, um Abschied zu nehmen. Von Mahpiya-win, der weißen Frau mit dem roten Herz. Jeder konnte in ihrem Gesicht lesen, wie schwer ihr der Abschied fiel. Ihr Blick fiel auf Wacinyanpi-win, die um Fassung rang. Mahpiya-wins Lippen flüsterten »Wopila.«
Wakteka führte sie zu seinem Pony und half ihr hinauf. Sie besaß ein eigenes Pferd, doch dass er ihr sein gutes Kriegspony überließ, zeigte gegenüber seinem Volk die Wertschätzung, welche er Mahpiya-win gegenüber empfand. Sie spürte, wie er ihr den Strick in die Hände legte, mit dem sie das Pferd lenkte, und blickte in seine dunklen Augen. Augen, die sie mit solch großer Liebe ansahen, die die Ewigkeit überdauern würde. Seine Hand streifte ihr Bein. Eine letzte zärtliche Berührung. Nun konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ein sanfter Druck ihrer Füße und das Pony setzte sich in Bewegung. Die Menschen ringsum verschwammen vor ihren Augen. Wie in Trance ritt sie aus dem Dorf in die Richtung, wo die Soldaten lagerten. Eine Weile gestattete sie sich zu weinen, dann trocknete sie ihre Tränen. Sie musste sich beeilen. Hochaufgerichtet, so gut es ihr Zustand erlaubte, erreichte sie das Soldatenlager.
Ihr Vater erwartete sie und blickte zum Himmel. »Du kommst rechtzeitig.«
»Ich wollte nicht, dass meinetwegen unschuldige Menschen sterben. Deswegen bin ich hier. Ich habe meine Familie verlassen, um sie zu schützen.«
»Ich bin deine Familie, du undankbares Geschöpf.«
»Du«, sie zog das Wort verächtlich in die Länge, »wirst niemals meine Familie sein. Für das, was du mir angetan hast, werde ich dich immer verachten. Du weißt nicht, was Liebe ist. Dein Herz ist aus Stein.«
Sie stieß seine Hand zur Seite und quälte sich alleine vom Pferderücken. Ein Soldat wollte das Tier wegführen. »Niemand fasst das Pony an«, zischte sie. Ihre Augen sprühten vor Hass.
Der junge Soldat ließ erschrocken den Strick los. Mahpiya-win führte das Pony ein Stück abseits, umarmte es und schlug ihm auf die Kruppe. Es würde zu seiner Herde zurückkehren, zu Wakteka, seinem Herrn. Einen Augenblick schaute sie in die Ferne, wo sie die geliebten Menschen wusste, biss sich auf die Lippen, um nicht in Tränen auszubrechen. Weinen würde sie später.
Die Soldaten waren bereits damit beschäftigt, den Platz zu verlassen.
Ihr Vater wies auf einen Wagen. »Wir machen uns gleich auf den Weg nach Hause.« Abschätzend maß er ihre Kleidung, fragte nicht nach ihrem Befinden. Mahpiya-win konnte sich schwer vorstellen, dass ihre Mutter diesen kaltherzigen Menschen geliebt haben sollte. Eine Zeit lang begleiteten sie die Soldaten, dann fuhren sie, flankiert von den vier Kumpanen ihres Vaters, weiter. Mahpiya-win sprach kein Wort. Mit jeder Meile hasste sie ihren Vater mehr und mit jeder Meile wuchs ihre Sehnsucht nach Wakteka. Das Wissen, nie wieder in seine dunklen Augen zu blicken, nie wieder seine Hände auf ihrer Haut zu spüren, machte ihr Herz schwer.
Fortsetzung folgt …