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Mahpiya-win – Die Entscheidung – Teil 9


Der Winter hielt sehr früh Einzug. Das Leben im Dorf verlief in gemächlicheren Bahnen. Die Frauen befreiten die Tipis von den Schneemassen und reinigten die Felle im Schnee, damit sich kein Ungeziefer darin einnistete. An schönen Tagen herrschte reges Treiben zwischen den Zelten, während der Stürme verbrachten sie die Zeit in ihren Tipis. Man besuchte sich gegenseitig und beschäftigte sich mit Gesellschaftsspielen, Frauen und Männer getrennt voneinander. Bald wusste Mahpiya-win, dass sie ein Kind erwartete und brauchte das Ischnatipi nicht mehr aufsuchen. Je länger der Winter anhielt, desto kleiner wurde der Nahrungsmittelvorrat. Die Krieger blieben während der Jagden lange aus und kehrten oft mit wenig Beute zurück, die aufgeteilt wurde. Wakteka versorgte Mahpiya-win mit frischem Wild so gut er es vermochte. Die Ponys magerten ab. Bevor sie nutzlos verendeten, wurden sie von den Kriegern geschlachtet. Viel Zeit verbrachten sie damit, die Umgebung des Dorfes von Raubtieren zu sichern. Einige ereilte die Winterkrankheit, woran zwei Kleinkinder und drei alte Menschen starben. Eine alte Frau verabschiedete sich von ihrer Familie und lief während eines Schneesturms hinaus. Sie hatte ein langes Leben hinter sich und wollte als letzte Geste der Anerkennung an ihre Familie als zusätzlicher Esser nicht zur Last fallen. Solche Wünsche wurden respektiert, auch wenn es schwerfiel.
Jeder sehnte den Frühling herbei.
Der Aufbruch in das Sommerlager war wie der in einen neuen Lebensabschnitt.
Mahpiya-win strich erschöpft über ihren gewölbten Bauch. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatte sie es mit Wacinyanpi-wins Hilfe geschafft, ihr Zelt aufzubauen. Sie waren in das Sommerlager zurückgekehrt. Die Frühlingssonne hatte den Boden bereits getrocknet und die ersten Grashalme sprießten. Obwohl Mahpiya-win nun ihr eigenes Zelt mit Wakteka bewohnte, war ihr Wacinyanpi-win eine großartige Lehrmeisterin. Bald wuchsen wieder köstliche Beeren und Pflanzen, das Feuerholz wurde trocken. Doch die Krieger machten sich Sorgen. Sie fürchteten das Ausbleiben der Büffel. Immer mehr Weiße strömten ins Land, schlachteten die Büffel ab, ohne sie zu verwerten, die Eisenbahnlinie dehnte sich erschreckend weit übers Land. In manchen Gruppen waren Krankheiten ausgebrochen, die die Weißen einschleppten. Wenn sie so etwas hörte, schämte sich Mahpiya-win, eine von den verhassten Weißen zu sein. Wacinyanpi-win beschwichtigte sie, sie sei eine aus dem Volk.
Lächelnd beobachtete sie die herumtollenden Kinder. Bald würde auch ihr Kind auf der Welt sein und in einigen Jahren herumtoben. Einige Krieger, darunter Wakteka, machten sich auf den Weg, um zwei Mädchen zu suchen, die seit dem Morgen unterwegs waren, um Feuerholz zu sammeln. Die Mütter sorgten sich, denn es war ungewöhnlich, dass sie so lange weg waren.
Mahpiya-win war gewohnt, viele Nächte alleine zu verbringen, wenn ihr Mann mit den anderen Kriegern auf der Jagd war oder sich im Land umsah. In diesen schwierigen Zeiten war es gut zu wissen, wer sich in ihren Jagdgründen aufhielt.
Zwei Tage später kehrten die Krieger mit ernsten Gesichtern zurück. Wie alle anderen ging Mahpiya-win ihnen entgegen. Doch diesmal begrüßten die Frauen sie nicht mit dem trillernden Lauten, die Freude ausdrückten. Die Mütter der vermissten Mädchen stürzten zu den beiden Bündeln, die in Decken eingewickelt auf einem Pony befestigt waren.
»Wir bringen euch die Mörder eurer Töchter«, erklärte Wakteka, glitt vom Pferderücken und zeigte auf die beiden Männer, die erschöpft zu Boden fielen. Er löste die Stricke der Weißen, die an die Ponys gebunden waren. Beide bluteten aus mehreren Wunden, ihre Kleidung war zerrissen und die Haut stellenweise abgeschürft. Unbarmherzig waren sie mitgeschleift worden, wenn sie nicht schnell genug rannten. Die Frauen stürzten sich auf die Mörder, schlugen unter lautem Gekreische mit Stöcken, Steinen und Fäusten auf sie ein. Trotz der vielen Blessuren erkannte Mahpiya-win die beiden. Sie versuchte nicht, Hass und Abscheu zu unterdrücken.
Wakteka las in ihrem Gesicht. »Du kennst die Männer?«
Mahpiya-win schluckte. »Es sind die Männer, die mich entführten und verkauften. Ein einziges Mal hatte sie Wakteka knapp ihre Vergangenheit geschildert.
»Nach der Totenzeremonie hast du die Gelegenheit dich zu rächen.«
»Nein«, flüsterte sie. Ich mache mir nicht die Hände schmutzig.« Sie unterdrückte den Wunsch ihm zu erklären, dass Rache nicht Gottes Wille sei und es nicht recht war, die Mörder zu foltern. Als die Frauen von den beiden abließen, nutzte Mahpiya-win die Gelegenheit, an sie näher heranzutreten. Die Männer sahen schlimm aus. Ausgerissene Haarbüschel bewegten sich im Wind, feine Blutrinnsale aus vielen Wunden sickerten in den Boden. Die rechte Hand des blonden Mannes war mit Steinen bearbeitet worden und nur noch eine blutige, fleischige Masse. Ein kurzer Anflug von Mitleid überkam sie, der schnell verflog. Er war der Jüngste der Bande, doch auch er musste für seine Taten bezahlen.
»Erinnert ihr euch an die Ranch in Montana, damals im Winter?« Ihre Stimme kam ihr seltsam fremd vor, als ob eine alte Frau spräche.
Der Schwarzhaarige mit der Narbe, der damals der Anführer war, drehte sein zerschlagenes Gesicht zu ihr. Mahpiya-win sah das Aufblitzen des Erkennens in seinen Augen, doch er blieb stumm.
»Madam.« Der Jüngere stöhnte. »Bitte helfen Sie uns«, näselte er und spukte Blut.
»Spar dir deinen Atem, Glen«, murmelte der andere. »Erkennst du sie nicht?«
»Ich war in der Hölle, ihr habt sie noch vor euch«, flüsterte Mahpiya-win.
Krieger zerrten die beiden unsanft hoch und schleppten sie vom Lager weg.
»Madam, Madam, bitte«, gellte schrill die Stimme des Blonden so lange, bis ihn einer der Krieger mit dem Totschläger bewusstlos schlug. Ein Stück vom Lager entfernt rammten die Krieger Pfähle in den Boden und banden die Mörder mit gespreizten Armen und Beinen fest.
Die beiden geschändeten und ermordeten Mädchen wurden unter Klagen und Weinen rituell bestattet. Am nächsten Morgen begann das langsame Sterben der Mörder. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihnen den Tod wünschte, und versuchte sich bei der Suche nach Feuerholz abzulenken, doch die schrecklichen Schreie der Gemarterten verfolgten sie weithin. Es waren unmenschliche Laute wie die eines gequälten Tieres, das instinktiv wusste, dass es sterben wird. Bei dem Gedanken, dass ihnen Körperteile abgeschnitten wurden, musste sie würgen. Sie spürte Magensäure, die drohend hochstieg. Sie atmete flach und wartete, dass das Gefühl nachließ. Die Männer hatten viele schreckliche Taten verübt und sicher den Tod verdient, doch besaß jemand das Recht, sie zu foltern?
»Du willst dich nicht rächen?« Wakteka war ihr gefolgt.
»Nein, es ändert nichts an Geschehenem.«
Er betrachtete sie nachsichtig. »Rache mindert den Hass im Herzen.«
»Niemand hat einen so schrecklichen Tod verdient.« Sie hielt sich die Ohren zu. »Ich kann die Schreie nicht mehr hören.«
»Du bist zu weichherzig. Die Frauen werden bald das Interesse an ihnen verlieren.«
Wakteka ging ohne ein weiteres Wort weg. Mit ihm zu diskutieren war schlicht unmöglich. Erst am Abend verstummten die Schreie. Die Leichen der beiden wurden weit entfernt vom Lager den Raubtieren überlassen.
Je mehr Weiße ins Land kamen, desto mehr Händler kamen auch in die Dörfer, um ihren billigen Tand gegen wertvolle Felle zu tauschen. Die Frauen waren ganz wild auf die wertlosen Perlenschnüre, die sie sich umhängten. Mahpiya-win versuchte manchmal zu vermitteln, da sie merkte, dass jeder Händler betrog, doch die Lakota waren fasziniert von den Dingen, die sie früher nicht kannten. Der Einzug des Alkohols brachte viel Schlimmes mit sich. Betrunkene Krieger torkelten herum, waren gewalttätig ihren Frauen gegenüber. Waren sie wieder nüchtern, gingen sie mit vor Scham gesenktem Kopf umher. Achtung konnten sie sich von ihren Frauen dadurch nicht erlangen.
Mahpiya-win spürte Waktekas Unruhe und auch Enapay, ihr Führer, blickte oft sehr nachdenklich in die Ferne. Die Älteren machten sich Sorgen und spürten die Veränderung, die wie ein Sturm über dem Land hing. Meldungen über Gräueltaten der Soldaten, die friedliche Dörfer überfielen, häuften sich. Auch die Frauen unterhielten sich untereinander über ihre Sorgen und Ängste. Männer zogen in den Krieg, Frauen und Kinder mussten es büßen. Schlimm waren die Krankheiten, welche die Weißen einschleppten. Ganze Gruppen wurden durch Pocken dahingerafft. Mahpiya-win fühlte drohende Schatten auf sich und ihre Familie zukommen.

Fortsetzung folgt …