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Bloody Piano

Eine Amsel auf dem Dach sang ihre Regenballade, und das Sirren und Summen der Insekten in der sommerlichen Luft verabschiedete den Tag. Die ersten kühlen Schatten des hereinbrechenden Abends krochen durch die offenen Fensterflügel in den edel eingerichteten Wohnraum. Transparente Organzavorhänge wehten in der leichten Brise. Große, mit Blumen befüllte Vasen schmückten das holzgetäfelte Zimmer, dessen Zentrum ein majestätischer, schwarzer Flügel einnahm. Ein Bouquet roter Rosen zierte den glänzenden Lack und bildete einen lebendigen Kontrast zu dem kalten Schwarz.

Wie jeden Tag um 18 Uhr wurde Alicia Morraine von der Haushälterin Katharina in das Musikzimmer gebracht. Ihre schlanken Finger brachten die weißen und schwarzen Tasten zum Klingen. Melodien flossen wie ein unsichtbarer Strom aus den Fenstern hinaus in den parkähnlichen Garten, der die alte Villa umgab. Melodien voller Wärme, Zärtlichkeit und einem lockenden Verlangen.

Alicia war seit einem Reitunfall im 10. Lebensjahr an den Rollstuhl gefesselt. Ihr verstorbener Großvater hatte den Flügel gekauft und ihr als Kind das Spielen beigebracht. Jetzt – mit gerade mal 18 Jahren – war sie eine bildhübsche, junge Frau geworden. Hübsch war sie immer schon gewesen mit den blonden Locken und der vorwitzigen Stupsnase, auf der sich einige Sommersprossen tummelten.

Als kleines Mädchen wollte sie entweder eine berühmte Reiterin oder eine große Pianistin werden. Nachdem ihr Pferd sie bei einem Hindernis abgeworfen hatte, zerplatzte der erste Traum wie eine Seifenblase. Heute galt ihre ganze Liebe diesem großen Instrument, dem sie all die herrlichen Töne entlockte und das ihre Seele zum Schwingen brachte. Hier träumte sie, die großen, veilchenblauen Augen gedankenverloren in die Ferne gerichtet. Hier war sie frei.

Morgen wollte ein berühmter Professor Alicia operieren. Sie hatte Angst vor dem Krankenhaus, doch ihre Furcht wurde ihr in diesen Stunden von der Musik genommen. Katharina, die sie schon von Kindheit an umsorgte, hatte ihr gut zugeredet. Die gutmütige Frau hoffte, dass ihr Zögling bald wieder ein ganz normales Leben würde führen können. Alicia war bereits ohne Mutter aufgewachsen und der Tod ihres Vaters, eines wohlhabenden Diplomaten, der viel auf Reisen war, hatte sie schwer getroffen. Sie lebte nun, völlig zurückgezogen, nur noch für ihre Musik.

Die Operation an ihrer Wirbelsäule verlief gut, und der anschließende Aufenthalt in einer Klinik machte es möglich, dass Alicia zunächst auf Krücken wieder laufen konnte. Sie freute sich maßlos, als sie endlich nach Hause durfte. Der erste Weg führte die junge Frau in das geliebte Musikzimmer. Zum ersten Mal saß sie nicht im Rollstuhl, sondern auf der Klavierbank vor dem Flügel. Sie klappte den Deckel der Tastatur hoch und legte die Hände auf die Tasten, um die ersten Akkorde anzuschlagen. Aber irgendetwas schien nicht zu stimmen. Der Flügel klang nicht wie sonst. Die Töne waren kalt und leblos, als würde ein Anfänger die ersten Etüden spielen. Alicia erschrak im ersten Augenblick, versuchte es noch einmal mit einem anderen Lied. Aber der Flügel war nicht länger ihr Freund, ihr Geliebter. Das Instrument schien sie abzulehnen. Tränen des Zorns stiegen in ihr auf. Sie schlug wütend auf die Tastatur und warf den Deckel wieder zu.

Sie versuchte in den kommenden Tagen wieder und wieder, das Instrument so klingen zu lassen, wie es früher geklungen hatte, doch vergebens. Etwas fehlte. Katharina beobachtete die verzweifelten Bemühungen ihres Mädchens, wie sie Alicia mütterlich nannte. Es tat ihr in der Seele weh, sie so leiden zu sehen. Ihre Gehversuche besserten sich Tag für Tag und sie würde bald wieder ohne Hilfsmittel laufen können. Dennoch war Alicia nicht mehr dieselbe ohne ihre Musik.

Eines Abends beschloss Katharina, der jungen Pianistin eine Geschichte zu erzählen, die sie selbst nur vom Hörensagen kannte. Sie setzte sich zu ihr auf die Klavierbank. »Weißt du, Anfang des 19. Jahrhunderts soll dieser Flügel einem berühmten Komponisten gehört haben. Der schrieb die schönsten Melodien. Doch selbst konnte er nicht so spielen, wie er sich die Stücke vorstellte. Er brauchte immer einen Künstler, der seine Noten zum Leben erweckte. Eines Tages, als er wieder einmal ein neues Stück komponieren wollte, bat er Gott, ihm die Gnade des virtuosen Spiels zu geben. Koste es, was es wolle. Er wollte endlich einmal so spielen können wie seine Musiker. Er setzte sich also vor die Tastatur und schlug die ersten Akkorde an. Und siehe da, der Flügel gehorchte ihm und schenkte ihm die schönste Melodie, die er jemals komponiert hatte. Wenige Tage später erlitt der Komponist einen schweren Unfall, als die Pferde mit seiner Kutsche durchgingen, und verlor sein Augenlicht. So konnte er zwar in Zukunft die Töne hören, die er spielte, aber niemals wieder eine Note sehen oder gar aufschreiben. Das ärgerte ihn dermaßen, dass er den Flügel verfluchte. Es heißt, dieses Piano verlangt für seine Dienste einen hohen Preis.«

Alicia hatte der Geschichte mit ungläubigem Schweigen zugehört. »Soll das heißen …?« Sie ließ die Frage unvollendet.

Katharina zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht, mein Kind, es ist nur eine Geschichte, die mir erzählt wurde. Aber der Flügel hat dir die schönsten Stunden geschenkt, als du unglücklich und allein warst. Jetzt bist du fast wieder gesund, und es hört sich jedes Mal an, wie bei einem Klavierschüler. Für mich sieht das so aus, als wäre dieser Flügel eifersüchtig auf deine Zukunft.«

Alicia stand auf und ging zum Fenster. »Was soll ich denn machen? Ich kann diese Operation nicht mehr rückgängig machen. Aber es stimmt, was du sagst. Vor der Operation habe ich ja ganz ihm gehört.« Dabei sah sie zu dem Flügel hin. Ihre Stimme klang zweifelnd.

»Versuch es einfach mal mit einem neuen Instrument und verkauf diesen alten Flügel hier«, schlug die Haushälterin vor. Die hübsche junge Frau seufzte. Dann fiel ihr plötzlich auf, dass sie ganz ohne Krücken stand und gelaufen war. »Was für ein Wunder. Mein Engelchen kann wieder richtig laufen!«, rief Katharina begeistert aus, als sie sich ebenfalls dessen bewusst wurde. »Bald wirst du sogar wieder im Sattel sitzen können!« Die beiden Frauen fielen sich wie Freundinnen in die Arme.

In den nächsten Wochen ließ Alicia den Flügel unberührt. Dennoch hing sie an dem Instrument, und an manchen Abenden strichen ihre Hände sehnsüchtig über den glänzenden Lack.

»Ich wünschte, du würdest wieder so klingen wie früher«, sagte sie dabei eines Tages zu sich selbst, als sie zur gewohnten Stunde im Musikzimmer stand. »Nur ein einziges Mal möchte ich deinen wirklichen Klang noch einmal hören.« Dieser Wunsch kam aus ihrem innersten Herzen.

Wie in Trance setzte sich Alicia auf die Klavierbank, klappte den Deckel hoch und schlug zögernd die ersten Tasten an. Der Flügel schien ihre Bitte gehört zu haben. Wieder zogen die schmeichelnden Melodien durch das große Haus. Alicia schloss die Augen und gab sich ganz der Musik hin, summte sogar einige Passagen mit.

Dann – plötzlich – ein Knall und sie schrie auf vor Schmerzen. Der Tastaturdeckel war mit voller Wucht auf ihre zarten Hände heruntergefallen, und sie konnte die Finger nicht mehr bewegen. Katharina kam aufgeregt ins Zimmer gelaufen. Eilig verband sie die blutigen Hände ihres Schützlings und rief einen Notarzt.

Beim Röntgen stellte man später fest, dass einige Knochen der Handrücken gebrochen waren und die feinen Nerven teilweise durchtrennt worden waren. Nur den kleinen Finger und den Daumen konnte Alicia noch voll bewegen. Die Ärzte schlugen mehrere Operationen vor, bezweifelten jedoch, dass Alicia jemals wieder würde Klavierspielen können. Aus Mitleid verschwieg man ihr jedoch vorerst diese Diagnose.

Noch bevor ihr Zögling wieder aus dem Krankenhaus kam, setzte die Haushälterin eine Verkaufsanzeige in die Zeitung. Sie wollte nicht, dass Alicia diesen Flügel jemals wieder zu Gesicht bekommen würde.

Ein Antiquitätenhändler meldete sich kurz nach Erscheinen der Anzeige und stand wenige Stunden später im Musikzimmer, um den Flügel zu begutachten. »Eine klassische Schönheit«, lobte der kauzige Händler mit der Nickelbrille und den schütteren grauen Haaren, als er um das Instrument herumging. »Warum ist er so günstig?«, wollte er dann wissen. Fachmännisch warf er einen Blick auf das Saitenspiel im Inneren. Dabei fiel sein Blick auch auf das Schild der Manufaktur mit der Seriennummer. Er runzelte kurz die Stirn. »Der hier hat keinen guten Ruf«, bemerkte er, als er den Flügel wieder schloss und umständlich begann, seine Brille mit einem Taschentuch zu putzen.

Katharina holte tief Luft. »Dafür aber einen herrlichen Klang«, behauptete sie mit fester Stimme.

Der Händler setzte die Brille wieder auf und schaute sie prüfend an. »Mag schon sein, aber genauso gut könnten Sie dem Teufel Ihre Seele verkaufen. Keine Sorge, ich nehme ihn trotzdem. Meine Leute werden ihn heute Abend abholen.«

Am nächsten Morgen beichtete die Katharina ihrem Schützling mit einem sichtlich schlechten Gewissen, dass der Flügel verkauft worden war, und erzählte ihr auch vorsichtig von der Diagnose der Ärzte. Für eine kleine Weile blieb es still in dem weiß gestrichenen Krankenzimmer, in dem die junge Frau alleine lag. Nachdenklich betrachtete Alicia ihre verbundenen Hände. »Es war meine Schuld«, sagte sie leise. Die Haushälterin sah sie fragend an. Zögernd kam die Antwort aus Alicias Mund: »Ich habe ihn darum gebeten … nur noch ein einziges Mal, habe ich gesagt.«

Copyright © 2008 by Carola Kickers