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Das Geheimnis der Totengräber

Es war wieder so weit. Die Sonne versank und es würde nicht lange dauern, bis nur noch wenige Laternen auf dem Friedhof mit dem Mondlicht in Konkurrenz stehen würden.

Ich stand von dem alten Holzstuhl auf. Er knackte genauso wie meine Knie. Das feuchte Wetter war Gift für meine Knochen. Aber die Aufgabe musste erledigt werden. Ich schlurfte zum Radio und unterbrach Morten Harket. Dabei mochte ich »Lay me down tonight« wirklich sehr. Immerhin ging es darin auch um den Tod. Der Tod … ich musste schmunzeln. Die einen hielten ihn für das Ende, die anderen warteten auf ein Leben nach dem Tod. Aber dass es so aussehen würde, dachten sie bestimmt nicht. All die Christen und auch die anderen Religionen, die auf ein Eingehen in Himmel oder Hölle warteten. Doch wer rechnete schon damit, dass einen der Sensenmann bloß abholte und dann hier auf die Schwelle stellte. Und ich musste hier den Schaffner spielen. Bei dem Vergleich musste ich wieder grinsen.

»Ihre Fahrkarte, bitte«, sagte ich und lachte leise auf.

So, jetzt wurde es wirklich Zeit. Die Sonne war verschwunden und in wenigen Minuten würden sie wieder anfangen zu jammern, all die Unglücklichen in ihren Gräbern. Mehr als zwei oder drei schaffte man nie in einer Nacht. Und in meinem Alter konnte ich mir auch nicht jede Nacht draußen um die Ohren schlagen. Sonst lag ich schneller bei den Jammernden, als es mir lieb war. Langsam ging ich auf die siebzig zu. Gott sei Dank waren wir eine relativ kleine Gemeinde, aber dadurch auch ziemlich alt. Die jungen Leute zogen weg. Und die Alten, die ich dann hier unter die Erde bringen musste, hatte ich oft selbst viele Jahre gekannt. Da war es umso schwerer für mich. Auch wunderte ich mich immer wieder, was die Toten zu beichten hatten. Jeden Sonntag rannten sie in die Kirche und beichteten. Entweder belogen sie unseren guten Pastor oder … oder Beichten brachte gar nichts ein.

Ob der Pastor wohl auch mal bei mir Abbitte leisten musste? Ich grinste, als ich mir die Jacke überzog. In die Innentasche schob ich meinen Flachmann. Dann verließ ich die Hütte, die direkt neben dem Totenacker lag.

Wem ich heute zuhören würde, wusste ich nicht. Ich hatte kein System. Manchmal war es ein Name auf dem Grabstein, der mich anlockte, manchmal das Jammern, das aus der Tiefe zu mir drang. Manche Toten warteten schon einige Jahre auf ihre endgültige Ruhe.

Ich öffnete das schmiedeeiserne Tor zum Friedhof. Es quietschte in den Angeln und ich dachte wieder daran, dass ich es dringend ölen musste.

Bereits nach wenigen Metern hörte ich das Wehklagen. An den ersten Gräbern ging ich vorbei, ich blickte die Grabsteine gar nicht an. Ich versuchte mich in mich selbst zu versenken, nur auf die Stimmen zu lauschen. Versuchte heraus zu finden, welche besonders mitleiderregend klang. Fast wie in einem Dämmerzustand ging ich langsam weiter. Die Stimmen überschnitten sich. Worte waren fast nie zu verstehen, dafür sprachen zu viele durcheinander. Dann erreichte ich eine Ecke, in der es ruhiger wurde. Hier standen die hohen Tannen, eine meiner Lieblingsecken. Deswegen zog es mich auch öfter hierhin, wenn ich den Toten lauschen ging.

Ich blieb stehen und versuchte meine Gedanken auf eine Stimme zu fokussieren. Es war die Stimme eines Mädchens, wie ich jetzt erkannte. Zum ersten Mal seit Minuten hob ich den Kopf an und ließ den Blick schweifen. Eine Laterne erhellte schwach die Gegend. Dazu stand der volle Mond am Himmel. Ich suchte den Grabstein des Mädchens. Auf der linken Seite konnte ich nur Männernamen entdecken. Doch auf der rechten Seite stand eingemeißelt in einen grauen Granitstein: Antonia Lea Fachner. Geboren am 14.11.1958, gestorben am 17.5.1977.

Neunzehn Jahre … wahrlich kein Alter, um vom Angesicht der Erde zu verschwinden.

Ich hatte mich entschieden. Antonia sollte ihre Ruhe finden. Als ich diesen Beschluss gefasst hatte, verstummten nach und nach die anderen Stimmen. Es war, als ob sie mitbekommen hätten, dass ihre Zeit der Erlösung noch nicht gekommen war. Sie stellten ihr Klagen ein und lauschten mit mir der Beichte von Antonia.

Ich setzte mich vor dem Grab auf den Boden und legte die Hände kurz auf die Erde, die das junge Mädchen seit mehr als dreißig Jahren zudeckte.

»Antonia, hörst du mich?«, fragte ich leise.

Ich wusste, dass ich nicht zu sprechen brauchte. Es reichte stets aus, in Gedanken mit ihnen zu kommunizieren.

Ja, ich höre dich, Totengräber. Endlich kommst du zu mir. Du hast dir viel Zeit gelassen.

»Manch anderer wartet noch viel länger auf mich. Und noch andere werden noch länger auf mich warten müssen. Willst du mir deine Geschichte erzählen?«

Ich werde sie dir erzählen. Aber sie wird dir nicht gefallen.

»Ich habe jetzt schon so viele Geschichten gehört, es wird mich nicht schocken.«

Das denkst du jetzt.

»Was willst du? Mir Angst machen?«

Das brauch ich nicht wollen, das wird passieren. Du denkst, du bringst den Toten ihre Ruhe, aber weißt du auch, ob du sie nicht in die Hölle schickst? Was, wenn sie lieber hier bleiben wollen?

»Was danach kommt, das wisst nicht mal ihr. Und weder du noch ich könnten es ändern.«

Willst du wissen, warum ich so jung gestorben bin?

»Es ist doch fast immer das Gleiche. Eine Krankheit?«

Nein.

»Ein Unfall?«

Wieder falsch geraten, Schaufelschwinger.

»Du könntest ruhig etwas höflicher sein, Göre«, sagte ich. Aber wirklich ärgern tat ich mich nicht, dazu reichte so etwas schon lange nicht mehr aus.

Was heißt hier Göre? Ich bin neunundvierzig Jahre alt.

»Für mich bist du neunzehn.«

Wenn du mich sehen würdest, würdest du mich noch wesentlich älter schätzen.

Die Tote lachte auf. Ich musste mir tatsächlich vorstellen, wie Antonia jetzt aussah. Und das konnte ich ganz gut, schließlich musste ich auch ab und zu Gräber räumen, um Platz für Neuankömmlinge zu machen.

»Weiter im Text. Was war es denn, das dich ins Grab brachte?«

Du!

»Ich weiß selber, dass ich dich hier eingebuddelt habe.«

Aber weißt du auch, dass du es warst, der mich getötet hat?

Ein Raunen und Tuscheln setzte in den anderen Gräbern an, verstummte aber, als ich weiter sprach.

»Was?«

Ja, da staunst du, was? Du hast die Saat selbst gesät, die du hier erntest.

»Ich habe noch nie jemanden getötet!«, fuhr ich auf. »Und wenn du weiter so einen Müll erzählst, gehe ich einfach. Es gibt genug hier, die auf mich warten.«

Warum sollte ich lügen? Wie wäre es, wenn du einfach weiter zu hörst? Die Geschichte ist noch lange nicht zu Ende, Schaufelschwinger.

Ihr schien dieser Spitzname für mich zu gefallen.

»Also gut, erzähl weiter. Ich hoffe, es dauert nicht all zu lange. Sonst hol ich mir hier draußen noch den Tod.«

Den holst du nicht, den hast du schon gebracht.

»Lass die Anspielungen und erzähl endlich!«, knurrte ich und zog den Flachmann aus der Tasche. Ein kleiner Schluck zum Aufwärmen war jetzt nötig.

Es war 1977. Der Frühling ging langsam in den Sommer über und ich war glücklich wie noch nie. Ich war seit fast einem Jahr mit meinem Freund zusammen. Philipp und ich waren ein Traumpaar. Wenigstens empfand ich das so. Und bald würde unser Glück perfekt sein. Ich erwartete ein Kind. Ich erfuhr es, als Philipp auf Montage war. Er musste für zwei Monate weg. Ich zählte die Tage bis zu seiner Rückkehr. Dann war es soweit. Er wollte am Abend bei mir sein. Ich kochte sein Lieblingsessen und dekorierte den Tisch. Als es klingelte, zündete ich gerade die Kerzen an. Sofort pustete ich das Streichholz aus und rannte zur Tür. Ich riss sie auf und warf mich ihm an den Hals. Fest drückte ich mich an ihn und versuchte ihn zu küssen. Doch er reagierte abweisend, so kannte ich ihn gar nicht.

»Was ist mir dir?«, fragte ich ihn.

Er schob mich in das Zimmer und schloss die Tür.

»Wir müssen reden. Setz dich«, sagte er.

»Ich habe dein Lieblingsessen gekocht«, sagte ich.

Ich wollte, dass er wieder so wurde, wie ich ihn kannte. Wollte die düsteren Ahnungen vertreiben, die langsam aufzogen.

»Antonia«, setzte er an. »Ich habe jemanden kennengelernt. Eine andere Frau und ich … werde dich verlassen.«

Ich fiel auf den Stuhl. Ich hatte den Satz gehört, aber ich verstand ihn nicht. Wollte ihn nicht verstehen. Ich konnte es nicht glauben, dass er mit nur einem Satz all unser Glück wegwischte wie Dreck. Er setzte sich mir gegenüber. Der Schein der Kerzen, der vorhin noch strahlend war, kam mir jetzt düster vor.

»Hast du was zu trinken?«, fragte er mich. Wie konnte er jetzt an so etwas Banales denken? Ich war fassungslos. Trotzdem stand ich auf und ging mechanisch wie eine aufgezogene Puppe in die Küche. Und dort sah ich es! Das kleine Fläschchen. Schlafmittel. Ich hatte es für meine Großmutter aus der Apotheke geholt. Es war ein starkes Mittel. Wenige Tropfen sollten für stundenlangen Schlaf reichen. Ich entkorkte die Flasche Wein, trank einen großen Schluck ab. Dann füllte ich das Gift in den Wein und schüttelte die Flasche leicht. Ich nippte wieder an ihr. Es war nicht zu schmecken. Im Wohnzimmer goss ich zwei Gläser ein und prostete ihm direkt zu. Ich wollte, dass er stirbt. Niemand sollte ihn haben, wenn ich ihn nicht haben konnte. Und ich wollte das Kind töten. Das Produkt unserer Liebe fühlte sich jetzt an wie ein Fremdkörper in mir. Schweigend tranken wir. Als er sein Glas leer hatte, füllte ich schnell wieder nach. Und mir goss ich den Rest hinzu.

»Auf unseren Abschied«, sagte ich und hatte schon Schwierigkeiten zu sprechen. Auch Philipp fielen langsam die Augen zu.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Wenn ich ausgetrunken habe, werde ich gehen. Es ist wohl besser.«

Auch bei ihm zeigte das Mittel immer mehr Wirkung. Ich trank das Glas aus. Dann rutschte es mir aus der Hand. Es fiel auf den Tisch und kippte um. Letzte Tropfen Rotwein spritzten auf den Tisch und sahen aus wie Blutstropfen.

»Was ist … mit mir?«, hörte ich Philipp murmeln. Dann rutschte ich vom Stuhl und sank auf den Teppich. Als ich ein letztes Mal die Augen öffnete, war Philipp über mir. Dann versagten auch ihm die Beine ihren Dienst und er fiel auf mich. Ich schloss die Augen wieder.

»Also hatte das Gift gereicht?«, fragte ich, als Antonia nach einigen Sekunden immer noch nicht fortgefahren war.

Das hat es.

»Aber wieso sagst du dann, ich hätte dich getötet?«

Das Gift hat bei ihm gereicht.

»Und bei dir?«

Ahnst du es nicht? Ich war nur scheintot. Ich bekam nicht mit, wie man uns fand. Erst in der Leichenhalle hörte ich wieder etwas, aber ich war nicht fähig mich zu regen. Und ich bekam mit, wie der Sarg geschlossen wurde. Wie ich über den Friedhof gefahren und hier in der Erde versenkt wurde. Und wie du mich lebendig begraben hast. Mit meinem toten Kind im Bauch. Verzeih ihm, dass er nicht zu dir spricht, aber er war noch zu klein, um sprechen zu können.

»Nein!«

Doch, Schaufelschwinger! Du hast meinen Tod endgültig besiegelt. Und wenn du mir nicht glaubst, frag Philipp. Er liegt am anderen Ende des Totenackers.

»Aber … Antonia … ich …«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mir wurde schlecht. Schnell griff ich wieder zum Flachmann und nahm einen tiefen Schluck.

Hör schon auf zu stottern. War ja nicht deine Schuld. Oder etwa doch?

Sie lachte auf. Ihr Lachen klang in meinen Ohren wie eine Anklage.

Und jetzt gib mir meine Ruhe und widme dich den anderen Verwesenden. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja irgendwann irgendwo mal wieder.

»Das hoffe ich nicht. Mögest du in Frieden und Ewigkeit ruhen«, sagte ich den Spruch auf, der diese Unterhaltungen für mich stets beendete. Ein letztes Stöhnen war für mich zu hören, dann kehrte Ruhe ein. Und auch die anderen Toten schwiegen.

Ich ging nach Hause, doch Schlaf fand ich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht.

Copyright © 2008 by Oliver Müller