Das Spiel der Schatten
Andy Perkins lief einen langen Eisenbahnschacht entlang. Er konnte seine Schritte in diesen monströsen, kalten Gängen widerhallen hören. Er war auf der Suche nach etwas – doch er wusste nicht genau, was es war. Die Gänge schienen kein Ende nehmen zu wollen, schienen ihm zu sagen, dass er weiterlaufen sollte. Doch wohin würde er laufen? Existierten diese Eisenbahnschienen überhaupt, oder bildete er sich das alles nur ein?
Perkins kam schließlich schweren Atems zu einer Biegung, die sich in zwei weitere Wege aufteilte. Doch nirgendwo befand sich ein Schild, welches ihm gesagt hätte, welchen Weg er hätte einschlagen müssen. Perkins blieb stehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich von Sekunde zu Sekunde und auf seiner faltigen Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen.
Was war das für ein Ort?
Urplötzlich glaubte Perkins, einen Gesang zu vernehmen. Einen Kindergesang. Er schien direkt aus dem linken Gang zu kommen. Andy Perkins überlegte, ob er nicht umdrehen sollte, doch seine Neugierde schien über die Angst zu siegen. Er nahm schließlich den linken Gang und rannte immer schneller. Der Gesang wurde von Schritt zu Schritt immer lauter und unheimlicher.
»Wer ist da?«, rief Perkins und blieb einen kurzen Moment stehen.
Der Gesang hatte urplötzlich aufgehört. Alles, was Andy vernahm, war der eiskalte Luftsog, der ihn erfasste, der sprichwörtlich durch Mark und Bein ging. Es kam keine Antwort. Andy lief weiter. Der Gang schien immer schmaler zu werden. Dann und wann kam er zu einer großen Stahltür, auf welcher eine unidentifizierbare Schrift eingeprägt war. Der Türhebel hatte die Form eines Totenkopfes. Auf einmal vernahm Perkins den Schrei eines kleinen Mädchens, der schließlich in unverständliches Wimmern überging. Perkins fuhr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Erst jetzt realisierte er, dass sein ganzer Körper vor Angst zitterte.
»Wer zum Teufel ist da?«, fragte er mit zerbrechlicher Stimme.
Jetzt öffnete sich die große Stahltür mit einem lauten Knacken, das sich für ihn so anhörte, als ob man buchstäblich das Tor zur Hölle öffnen würde. Doch er konnte nichts sehen außer einem roten Licht, das immer heller zu werden schien. Sein ganzer Körper wurde von einem tiefen, stechenden Schmerz erfasst und dann passierte es: Er erwachte.
Ein hastiger Blick auf seinem Wecker teilte ihm mit, dass es gerade vier Uhr morgens war. Seine Hände waren eiskalt. Sein Herzschlag normalisierte sich allmählich wieder und nahm den gewöhnlichen Rhythmus an. Perkins hatte sich normalerweise nie mit Alpräumen herumschlagen müssen, doch dieser Traum kehrte immer wieder zurück. Es wäre schon beinahe trivial gewesen, zu denken, dass es sich bei diesem Traum nur um einen Streich des Unterbewussten handelte. Nein, dieser Traum war eigenartig. Eigenartig deshalb, da er ihn als so unglaublich real empfand. Perkins bewegte sich langsam aus dem Bett, über welchem ein Schal der Red Sox hing. Sein ganzes Zimmer war übersät von Baseballcaps, Postern und natürlich auch Baseballschlägern. Andy liebte den Sport und in diesem Fall war er sich einig, dass er tief in seinem Inneren ein kleiner Junge geblieben war. Er erinnerte sich noch genau an seine erste Liebe Michelle, mit der er damals im Autokino rumgeknutscht hatte, aber vielmehr noch an die vielen Baseballspiele mit seinem Vater. Sein Vater hatte ihm diesen Sport beigebracht, genau so wie das Kartenspielen. Durch ihn hatte er erfahren, was Teamgeist und Disziplin wirklich bedeuteten und was sie bewirkten. Perkins überlegte sich, ob er sich noch mal hinlegen sollte, da er jedoch schon in einer Stunde zur Arbeit musste, entschied er sich dafür, wach zu bleiben. Andy nahm eine heiße Dusche, rasierte sich und zog sich schließlich an. Eigentlich war er Schriftsteller, doch im Moment hatte er eine kleine Schreibblockade, wie er es selbst liebevoll nannte.
II
Er arbeitete deshalb in einer Bar Rosegarden als Barkeeper, um sich ein paar Kröten extra zu verdienen. Irgendwie fehlte ihm im Moment die Inspiration für eine neue Geschichte. Oftmals benötigte er dafür nur ein Bild oder einen Zeitungsartikel. Auch viele berühmte Menschen wie James Dean oder Marilyn Monroe boten für ihn heimliche Inspirationsquellen. Die besten Geschichten schrieb das Leben schließlich immer noch selbst.
Vor Kurzem hatte er zwar einen kleinen Kurzgeschichtenband mit dem Namen Tales of the Shadow-World herausgebracht, welches jedoch bei den Lesern größtenteils ungeachtet blieb. Manchmal glaubte er, dass sich die Menschen weniger mit Horror und stattdessen mehr mit der Wissenschaft befassten. Wahrscheinlich passte es mehr zu dieser Technikgeneration. Viele Menschen lasen eben lieber Bücher aus der Feder eines Dan Brown, anstatt sich mit einer frei erfundenen Horrorgeschichte herumzuschlagen. So war das Leben eben – entweder man passte sich dieser Zeit an, oder man blieb auf der Strecke.
Andy war keinesfalls ein Mann, der auf der Strecke blieb. Mit 21 Jahren hatte er an der Universität in London Journalistik studiert und natürlich auch sein Examen erfolgreich absolviert. Danach arbeite er als Journalist bei der recht unbekannten News Today, wo er ungefähr zwei Jahre verweilte. Später begann er schließlich Kurzgeschichten zu verfassen – stellte einige davon sogar in das Internet. Als niemand auf seine Geschichten aufmerksam wurde, bat er seinen Freund und Verleger Harry Dean Petersen eine seiner Kurzgeschichten zu veröffentlichen. Mit Erfolg. Schon nach drei Monaten verkaufte er eine ganze Kurzgeschichtensammlung und verfasste auch seinen ersten, erfolgreichen Roman Im Spiegel der Macht. Darin ging es um einen machthungrigen Politiker, der selbst vor Mord nicht zurückschreckte.
Alles kam ihn wie ein weit entfernter Traum vor, den man sich als kleiner Junge des Öfteren vor dem Schlafen gehen ausmalte. Andy ist zwar nicht reich geworden, konnte sich aber dennoch ein schickes kleines Haus leisten und war deshalb nicht gezwungen, übermäßig hohe Kredite aufzunehmen. Alles verlief wie am Schnürchen. Andy liebte den Nebenjob als Barkeeper. So konnte er seine sozialen Kontakte pflegen und war immer auf den neuesten Wissensstand.
Er beschloss, sich noch einen starken Kaffee zu kochen, ehe er das Haus schließlich sich selbst überließ. Normalerweise bestand sein Frühstück nur aus einem starken Espresso und einer Zigarette – ein morgendliches Ritual. Doch nun hatte er mit dem Rauchen aufgehört. Er hatte den Rauch nicht mehr als angenehm, sondern als schädlich und stinkend empfanden. Andy trank seinen Kaffee in aller Ruhe und verließ sein Haus. Er stieg in seinen blauen Ford Challenge ein und fuhr zur Arbeit. An jenem Morgen wirkte Georgetown so lehr gefegt wie eine längst vergessene Geisterstadt, und man hätte für einen kurzen Augenblick meinen können, sich in einem anderen Jahrhundert zu befinden. In letzter Zeit verschwanden in Georgetown seltsamerweise einige Kinder, die Polizei suchte bereits seit zwei geschlagenen Wochen wie besessen nach ihnen. Seitdem ließen viele Mütter ihre Kinder nicht mehr aus den Augen und verboten ihnen sogar, nach der Schule noch umherzutoben. Wahrscheinlich hielt sich irgendein Pädophiler in dieser Gegend auf, den man früher oder später schnappen würde. Man bräuchte nur eine Handvoll guter Forensiker wie aus der Serie CSI und sie hätten den Täter innerhalb von einer Woche. Wahrscheinlich.
Andy parkte sein Auto auf dem Parkplatz hinter dem Rosegarden und genoss mit einem tiefen Atemzug noch einmal die Ruhe vor dem Sturm.
»Hallo Andy! Wie geht’s«, fragte Dept. Shaun Williams, der gerade die Tür des Rosegarden öffnete, um sich einen extra starken Kaffee zu besorgen.
»Na ja, es geht so. Hab heute mal wieder schlecht geschlafen«, entgegnete Perkins ihn mit gesenktem Kopf.
»Was du nicht sagst, Andy. Ich hab auch nicht gerade sehr viel geschlafen.«
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