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Blutige Tränen

Wenn der Verstand versagt

Ich fragte mich, wo zum Teufel ich bin, als ich in einem Heuhaufen aufwachte. Eingesperrt in einem kleinen Stall, die Füße an einem Gitter angekettet, und meine Hände so eng zusammengeschnürt, dass ich sie nicht mehr spüren konnte. Mein Kopf schmerzte, als ich mich versuchte, mich aufzusetzen. Als ich an mir heruntersah, wurde mir speiübel. Ich war splitternackt, mein Bauch war voll blauer Flecken und das Heu unter mir war klebrig und feucht. Es roch nach Urin und Kot, wobei ich auch noch ein paar Blutflecke an den Stallwänden sehen konnte. War das etwa mein Blut? Nein, ich hatte keine offenen Wunden. Jedenfalls konnte ich bis jetzt keine entdecken. Von diesem Gestank wurde mir übel und ich wünschte, ich wüsste, was letzte Nacht geschehen war. Wie lange ich wohl schon hier lag? Wie bin ich bloß hierhergekommen? Ich entschloss mich zu schreien, nach Hilfe zu rufen. Vielleicht war wenigstens noch jemand hier. »Hallo? Ist hier jemand?«

Keine Antwort. Ich versuchte aufzustehen, landete aber sofort mit einem lauten Knall auf den Po. Unter mir schien Beton zu sein, jedenfalls war der Boden steinhart. Plötzlich ertönte ein leises Kichern, das sofort meine Aufmerksamkeit weckte. Ich bekam Panik und wollte einfach nur weg. Aber solange ich gefesselt war, war das nicht möglich. Das Kichern wurde lauter und urplötzlich traf mich etwas Kleines am Kopf. Ich hätte an alles Mögliche geglaubt, aber nicht an das, was dort nun vor mir lag. Ein Finger. Ein abgetrennter, blutiger, klebriger Finger. Ich schrie vor Entsetzen und konnte meinen Sinnen nicht trauen.

Vor lauter Schreck riss ich an den Handschellen, mit denen meine Füße am Gitter befestigt worden waren, und versuchte mit aller Kraft meine Hände aus der Schlinge zu lösen. Dabei wand ich mich in diesem Käfig und rollte durch etliche Flüssigkeiten, die ich gar nicht alle zuordnen konnte. Es stank fürchterlich, was mir in dem Moment aber ziemlich egal war. Ich wollte nur diesen Finger nicht mehr sehen, und schon gar nicht wissen, von wem er stammte. Oder was dem Besitzer des Fingers zugestoßen war. Diese Vorstellungen verbannte ich aus meinen Gedanken und riss mir mit der Zeit immer tiefere Schnitte in die Fußgelenke. Der Schmerz war stark, aber er betäubte für den Moment mein Bewusstsein, sodass ich kurze Zeit vergessen konnte, wo ich war. Aber als meine Kräfte nachließen und ich erschöpft mein Gesicht ins nasse Heu sinken ließ, wurde mir bewusst, dass es kein Entkommen gab. Ich war hier gefangen und ich wusste nicht, ob dies das Schlimmste war, was mir in der nächsten Zeit noch passieren würde.

 

Das Kichern war wieder da und ich versuchte, es zu ignorieren. Doch irgendwann wurde es zu penetrant und ich knallte mit dem Kopf immer wieder gegen die Stalltür. Dabei schrie ich wie am Spieß und hoffte, dass dieser Mensch, der mich hier gefangen hielt, endlich kommen würde, damit ich ihm ins Gesicht spucken konnte.

Vergeblich. Nach einiger Zeit machte ich mir Gedanken über die letzte Nacht. Mehr als einzelne Bilder konnte ich in meinem Kopf nicht finden und leider konnte ich diese paar Hinweise auch nicht zusammensetzen. Ich wusste, dass ich am späten Nachmittag zu Hause vor dem Fernseher saß. Ich wusste, dass irgendwann das Telefon ging und mein Kind verschwunden war. Moment, mein Kind war verschwunden? Ich schlug mir wild mit den Handballen gegen den Kopf und versuchte die vergessenen Stunden wieder in Erinnerung zu rufen. Ich war aus dem Haus gerannt, die Stimme am Telefon kannte ich nicht, aber sie sagte mir, dass mit meinem Kind etwas nicht stimmte und ich so schnell wie möglich vorbei kommen sollte. Ich griff nach meiner Handtasche, nach dem Autoschlüssel, nach dem Lenkrad, trat die Kupplung und fuhr los. Ich raste durch die Straßen. Es war schon dunkel geworden. Viel zu dunkel. Mein Handy klingelte. Trotz meiner rasanten Fahrweise griff ich danach und drückte den Annahmeknopf.

»Wer ist da?«

Jemand atmete leicht und gleichmäßig in den Hörer. Durch meine Adern floss pures Adrenalin und ich verlor fast den Verstand.

»Was ist hier los?«, flüsterte ich in einem ängstlichen, jedoch auffällig aggressiven Tonfall.

»Ich habe dein Kind«, sagte die Stimme am Telefon. Eine Männerstimme. Er lachte. Ich rastete total aus und schrie mit voller Kraft in das Handy, sodass dem Mann am anderen Ende eigentlich das Gehör hätte platzen müssen. Zu meinem Überraschen blieb er ganz ruhig und erklärte mir, wohin ich ihn abholen sollte. Natürlich nicht umsonst. Er wollte Geld. Jedoch war die Summe nicht hoch, denn er verlangte bloß 200 Euro, was mir ziemlich wenig vorkam und ich wollte schon fragen, ob ihm mein Sohn nicht mehr wert war als 200 Euro. Aber ich verzichtete auf jedes überflüssige Wort und stimmte einfach zu.

Ich fuhr zu dem vereinbarten Treffpunkt, an dem ich meinen Sohn allerdings nicht zu Gesicht bekam. Eigentlich sah ich gar nichts mehr, nachdem ich in der dunklen Gasse stand und darauf wartete, die Stimme meines Kindes zu hören und ihn in die Arme schließen zu können. Meine Erinnerung endete hier. Und genau in dem Moment riss mich ein lautes Geräusch aus den Gedanken. Die Stalltür ging mit einem grässlichen Quietschen auf. Vor mir stand ein dicker bärtiger Mann mit einer Wollmütze. Eigentlich sah er ziemlich normal aus. Aber mein Misstrauen war selbstverständlich nicht einfach weggeblasen.

»Wer sind Sie?«, fragte ich und rückte soweit in die Ecke, wie es nur ging. Der Mann bückte sich zu mir herunter, begutachtete mich und lächelte dann erleichtert.

»Ihnen geht es gut, oder?«

»Wenn man es als gut bezeichnen kann, in einem Meer von Urin, Kot und Blut zu liegen, darunter ein abgetrennter Finger, dann ja.«

Er reichte mir die Hand hin und nannte mir seinen Namen. »Ich heiße J.P. Sullivan.«

»Und ich will hier raus«, ließ ich nur genervt ertönen und schaute ihn grimmig an. Ich war auf alles vorbereitet. Das einzige Problem war, dass ich mich niemals hätte wehren können.

»Ich weiß zwar nicht, was Sie in meinem Stall zu suchen haben, aber wenn Sie wollen, können Sie auf eine Tasse Tee bleiben.«

Was sollte dieses Angebot? Ich lag hier hilflos und gefesselt, und das Einzige, was diesem Herrn einfiel, war, dass ich eine Tasse Tee gebrauchen könne? Vielleicht eher mal meinen Sohn. Genau das sagte ich ihm nun auch. Zu meinem Bewundern reagierte er mit einem freudigen Lächeln und rief den Namen meines Sohnes.

Nach einigen Sekunden hörte ich lautes Fußgetrappel und das Lachen meines Kindes. Es war das wundervollste Gefühl, das ich jemals hatte.

»Wo haben Sie ihn her? Wo haben Sie ihn gefunden? Was mache ich hier überhaupt?«

Der Mann lächelte wieder und nahm die Hände meines Sohnes. Zuerst bemerkte ich es nicht, aber als ich genauer hinschaute, sah ich, dass mein Sohn keine Finger mehr hatte.

Ich schrie panisch los und riss meine Arme und Beine hin und her. Die Übelkeit überkam mich. Ich starrte meinen Sohn an, der mich anlächelte. Er sah aus, als sei er auf Drogen. Wie konnte jemand lächeln, der alle Finger abgeschnitten bekam? Jetzt begriff ich auch, zu wem der Finger gehörte, der mir eben gegen den Kopf geflogen war.

»Was wollen Sie denn von mir?«, fragte ich nach einer Weile hilflos und fing an, bitterlich zu weinen. Der Mann kniete sich zu mir hin und drückte mir eine Spritze in den Arm. Ich konnte mich nicht mehr wehren, dazu war ich viel zu erschöpft. Einen Moment nach der Spritze kippte mein Kopf zur Seite und alles wurde dunkel.

 

»Joy? Können Sie mich hören? Joy?«

Ich kam langsam wieder zu mir. Das Öffnen meiner Augen fiel mir sehr schwer. Meine Augenlider fühlten sich an wie Blei und das grelle Weiß, das mich umgab, stach mir wie Blitze in den Augen. Es tat höllisch weh und mein Kopf brummte.

»Wo bin ich? Was ist mit meinem Sohn?«, gab ich fast tonlos von mir. Als ich die Augen richtig geöffnet hatte, befand ich mich in einem weißen sterilen Raum. Ich lag auf einem Bett, gefesselt an den Händen, gefesselt an den Füßen. Eine Ärztin, ich nahm jedenfalls an, dass es eine war, nahm befleckte Bettbezüge aus meinem Zimmer und brachte frische herein. Eine andere junge Frau schob ein schneeweißes Laken unter mir hindurch. Ich bewegte mich keinen Millimeter, sondern versuchte zu verstehen, was hier überhaupt vor sich ging.

Ich drehte meinen Kopf zur anderen Seite und erstarrte. Neben mir in einem kleineren Krankenbett lag mein Sohn. Die Hände verbunden, auf dem Kopf ein Waschlappen.

»Was ist mit meinem Sohn?«

Die Schwester, die mir das Laken unter dem Po hindurchzog, sah mich eindringlich an.

»Wahrscheinlich wird Ihr Gedächtnis sich bald wieder normalisieren. Sie wurden gestern Abend beide in einem Stall gefunden, in der Nähe des Old Lake Waldes. Ihrem Sohn wurden die Finger abgetrennt und knapp am Kopf vorbeigeschossen. Er hatte einen Streifschuss an der Stirn. Sie wurden vergewaltigt und schwer misshandelt. Wir haben den Verdacht, dass Ihr Exmann hinter all dem steckt. Wir haben seine Spermaspuren gefunden und jede Menge andere Schmauchspuren, die mit der DNA ihres Ex Mannes übereinstimmen.

»Und das offenbaren Sie mir nun einfach so, ohne jegliche Rücksicht?«

»Was würde es Ihnen bringen, wenn ich ihnen die Wahrheit verheimlichen würde?«

Ich ging nicht auf die Frage ein, denn mir ging es schon schlecht genug. Ich schaute zu meinem Sohn hinüber, der friedlich schlief. Er atmete gleichmäßig.

»Wieso bin ich gefesselt?«

»Im Schlaf haben Sie getreten und geschlagen. Sie standen so unter Schock, dass Sie überhaupt nichts mehr um sich herum realisiert haben. Wir mussten Sie leider ruhigstellen.«

Ich nahm es so hin, wie es war. Schließlich blieb mir nichts weiter übrig. Ich dachte nach und konnte nicht verstehen, wieso mein Ex uns so etwas antun sollte.

»Kann man meinem Sohn noch helfen?«

»Tut mir leid, als wir die Finger gefunden hatten, waren sie bereits schwarz. Allerdings werde ich dafür sorgen, dass er eine Art Prothese für die Hände bekommt.«

Auf einmal stürmte ein rundlicher Arzt herein mit einem Bart. Er sah genauso aus wie der Mann aus dem Stall. Vielleicht hatte ich Traum und Wirklichkeit vermischt, als ich ruhiggestellt wurde, oder ins Krankenhaus kam? Jedenfalls war mir dieser Mann bekannt.

Er rang erst mal nach Atem und begann dann sein Anliegen zu verkünden.

»Ich bin Dr. Sullivan. Die Polizei hat gerade angerufen, sie haben den Täter gefunden. Es war ihr Exmann, er hat sich im Stall erhängt und hat die Finger ihres Sohnes in Herzform unter sich gelegt. Ich fürchte, er war schon lange krank, man hätte ihm helfen müssen.«

Mir wurde schwindelig und ich fühlte mich, als würde ich in ein tiefes Loch fallen. Ich musste die Augen schließen.

»Können Sie mir bitte die Fesseln abnehmen? Ich werde Ihnen sicherlich nichts tun.«

Die Ärztin kam zu mir ans Bett und band mich los. Erst die Hände, dann die Füße.

Ich versuchte mich aufzusetzen, doch in meinem Kopf drehte sich alles. Wahrscheinlich von den Beruhigungsmitteln. Als ich zu meinem Sohn herübersah, blinzelte er und öffnete langsam die Augen. Ich konnte mir seine Hände nicht mehr ansehen, drehte mich hysterisch weg und schlug mir mit den Fäusten auf die Beine. Der Arzt stand noch da. Ich fragte ihn, wieso er mir im Stall eine Tasse Tee angeboten hatte. Er meinte nur, ich müsste mich irren. Er war zwar im Stall, hat mir etwas gespritzt, das mich beruhigt, und hat mich ins Krankenhaus gebracht, aber die Tasse Tee müsste ich mir eingebildet haben.

»Es kann vorkommen, dass man von den Beruhigungsmitteln ein wenig halluziniert, oder das Vergangene nochmals durchlebt.«

Der Arzt verließ lächelnd den Raum. Dass mein Sohn die Augen geöffnet hatte, schien er nicht bemerkt zu haben. Ich stand vorsichtig auf und ging hinüber zu seinem Bett. Ich kniete mich davor und legte meinen Kopf auf das Bett. Auf einmal spürte ich, wie eine Hand durch meine Haare strich. Ich griff nach ihr und spürte die Stummeln, die mit einem dünnen Verband und vielen Klemmpflastern umhüllt waren. Meine Tränen strömten förmlich aus mir heraus und hinterließen dunkle Flecken auf dem Bettlaken.

»Alles wird gut«, sagte mein kleiner Junge und küsste mich vorsichtig auf den Kopf.

Copyright © 2010 by Amina Kreutzer