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Gewitter

Dumpf groll­te in wei­ter Fer­ne der Don­ner ei­nes he­ran­na­hen­den Som­mer­ge­wit­ters. Um die­se Jah­res­zeit wa­ren Un­wet­ter nicht sel­ten, aber was sich da zu­sam­men­ge­braut hat­te, konn­te ei­nem eine re­gel­rech­te Furcht ein­flö­ßen. Die Luft roch nach Ozon, sämt­li­che Tie­re wa­ren verstummt und hat­ten sich ver­kro­chen. Deut­li­che Zei­chen da­für, dass es die­ses Mal nicht an der klei­nen Stadt in Il­li­nois vor­bei­zie­hen wür­de.

Im sonst um die­se Uhr­zeit stil­len Kor­ri­dor des Kran­ken­hau­ses er­zeug­ten Pol­tern und Ru­mo­ren un­heim­li­che Ge­räu­sche, die nicht hier­her ge­hör­ten. Es gab der ge­sam­ten At­mo­sphä­re ei­nen un­heil­vol­len Bei­ge­schmack.

Abi­gail, die ge­ra­de da­bei war den klei­nen Timmy in sein Zim­mer zu be­glei­ten, nach­dem er wie­der ein­mal in die Kü­che hat­te schlei­chen wol­len, be­merk­te das Mäd­chen am an­de­ren Ende des Flurs zu­erst gar nicht. Nur durch ei­nen kur­zen Blitz hat­te die jun­ge Kran­ken­schwes­ter re­gist­riert, dass dort je­mand stand. Ohne jede Re­gung stand das Mäd­chen dort, ge­klei­det in ein wei­ßes Nacht­hemd, das bis zum Bo­den reich­te. Es späh­te aus dem Fens­ter in die Nacht hi­naus, ließ die klei­nen Ärm­chen teil­nahms­los an den Sei­ten he­rab­hän­gen.

»Hal­lo?«, rief sie in Rich­tung des Mäd­chens. Timmy folg­te ih­rem Blick und mein­te: »Ach, das ist The­re­sa, die ist nicht ganz dicht.«

Mit die­sen Wor­ten ver­schwand der klei­ne Wir­bel­wind in sei­nem Zim­mer. Abi­gail schau­te ihm nur kurz nach und grins­te. Die­ser Frech­dachs wür­de ver­mut­lich noch ein­mal eine Wan­de­rung un­ter­neh­men wol­len, bis er end­lich ein­schlief. Er lieb­te sol­che Spiel­chen. Nacht­schwes­tern zu är­gern konn­te man wohl als ein ech­tes Hob­by von ihm be­zeich­nen. Abi­gail wand­te sich dem an­de­ren Kind zu, so­bald sich die Tür zu Timm­ys Zim­mer ge­schlos­sen hat­te, dass er sich mit zwei wei­te­ren Jungs teil­te.

Auf dem Li­no­leum­bo­den quietsch­ten Abi­gails Turn­schu­he nerv­tö­tend laut, als sie durch den nach che­mi­schen Rei­ni­gungs­mit­teln rie­chen­den Kor­ri­dor ent­lang schritt. Ei­ni­ge der Ne­on­leuch­ten fla­cker­ten bei je­dem Blitz kurz auf als woll­ten sie sa­gen, dass sie nicht mehr lan­ge durch­hal­ten konn­ten.

Ein ge­wal­ti­ges Kra­chen ließ die Kran­ken­schwes­ter für eine Se­kun­de zu­sam­men­zu­cken. Sie hat­te kei­ne Angst vor Ge­wit­tern an sich, aber Don­ner glich ei­nem »Buh!«-Ruf der Na­tur. Er ließ ei­nen un­wei­ger­lich auf­schre­cken.

Abi­gail dach­te an die Kin­der in ih­ren Bet­ten. Vie­le von ih­nen ängstig­ten sich wohl im Au­gen­blick. Sie sah ihre gro­ßen Au­gen vor sich, sah die De­cken, die sie mit ih­ren klei­nen Hän­den fest um­klam­mer­ten und bis zur Na­sen­spit­ze hoch­ge­zo­gen hat­ten. Nicht lan­ge und es wäre wohl ein ers­tes un­ter­drück­tes Schluch­zen hö­ren. Da­nach ka­men dann jäm­mer­li­ches Wei­nen und kläg­lich vor­ge­tra­ge­ne Bit­ten, Schwes­ter Abi­gail möge doch die El­tern her­ho­len. Der jun­gen Frau brach im­mer wie­der fast das Herz, wenn sie in sol­chen Si­tu­a­ti­o­nen den Kin­dern er­klä­ren muss­te, dass das nicht so ein­fach wäre.

Bis­her hat­ten sich aber noch alle von ihr trös­ten las­sen. Sie konn­te eben gut mit Kin­dern um­ge­hen, auch wenn sie sich selbst noch nicht in der Mut­ter­rol­le vor­stel­len konn­te. Sich um an­de­re Kin­der zu küm­mern war et­was ganz an­de­res als ei­ge­ne Kin­der groß zu zie­hen. Als Kran­ken­schwes­ter hat­te man ei­nen Fei­er­abend, man hat­te Fe­ri­en von der Kin­der­sta­ti­on. El­tern konn­ten sich sü­ßen Mü­ßig­gang die­ser Art nicht leis­ten.

Die Klei­ne vor dem Fens­ter hat­te we­der auf Abi­gails Ru­fen re­a­giert, noch auf die Schrit­te, die sich ihr von hin­ten nä­her­ten. Sie stand noch im­mer nur da und blick­te in die Dun­kel­heit. Un­ter ih­ren nack­ten Fü­ßen war der Bo­den viel zu kalt und auch das dün­ne Nacht­hemd eig­ne­te sich nicht dazu, im Flur he­rum­zuste­hen. Wie leicht konn­te sie sich eine Lun­gen­ent­zün­dung zu­zie­hen.

Als Abi­gail das Mäd­chen mit den lan­gen schwar­zen Lo­cken er­reich­te, leg­te sie ihr vor­sich­tig eine Hand auf die Schul­ter. Auf kei­nen Fall soll­te sich das Kind er­schre­cken.

»Hast du Angst vor dem Ge­wit­ter?«, frag­te die Kran­ken­schwes­ter. Kein Laut kam über die Lip­pen des Mäd­chens. Nicht ein­mal den Kopf dreh­te sie zur Sei­te, um zu se­hen, wer sich zu ihr ge­sellt hat­te.

»Komm, The­re­sa. So heißt du doch, stimmt’s? Ich brin­ge dich wie­der auf dein Zim­mer zu­rück. Dann set­ze ich mich ein we­nig ne­ben dein Bett und er­zäh­le dir eine Ge­schich­te. Ich ken­ne Ge­schich­ten, die dir ganz be­stimmt wun­der­schö­ne Träu­me schen­ken.«

»Sie wer­den mit mir schimp­fen«, flüs­ter­te The­re­sa plötz­lich mit zit­tern­der Stim­me. Dann wand­te sie sich zum ers­ten Mal der Kran­ken­schwes­ter zu und be­trach­te­te sie mit ängst­li­chen Au­gen. »Sie schimp­fen im­mer mit mir, weil ich ein un­ge­zo­ge­nes Kind bin.«

Abi­gail lä­chel­te das Mäd­chen an und strei­chel­te ihre Wan­ge. Mit ei­nem leich­ten Kopf­schüt­teln mein­te sie: »Ach, Un­sinn. Nie­mand wird mit dir schimp­fen und du bist auch ganz ge­wiss kein un­ge­zo­ge­nes Kind. Ich sehe das in dei­nen Au­gen.«

The­re­sa schau­te wie­der aus dem Fens­ter. Blit­ze durch­zuck­ten den Nacht­him­mel, tauch­ten für Se­kun­den den Park­platz und die da­hin­ter lie­gen­de Land­schaft aus Wie­sen und Wäl­dern in ein Licht, das al­les un­wirk­lich er­schei­nen ließ.

»Sie wer­den mit mir schimp­fen.«

In dem lei­sen Mur­meln lag eine Furcht, die nicht al­lein durch das Ge­wit­ter aus­ge­löst wor­den war. Oft ge­nug hat­te Abi­gail trau­ma­ti­sier­te Kin­der er­lebt. Kin­der, die mit un­vor­stell­ba­ren Ängs­ten zu kämp­fen hat­ten. Die­ses klei­ne Mäd­chen muss­te ir­gend­wann et­was er­lebt ha­ben, das ihr ver­mut­lich für alle Zeit kaum fass­ba­res Grau­en be­rei­ten wür­de.

Ein Blick in The­re­sas Kran­ken­ak­te könn­te Auf­schluss da­rü­ber ge­ben. So­bald die Klei­ne wie­der in ih­rem Bett lag, woll­te sich Abi­gail mit dem Fall aus­ei­nan­der­set­zen. Wenn in der Akte nichts stand, gab es ge­nü­gend Kol­le­gin­nen, die hier schon län­ger ar­bei­te­ten. Zu­min­dest eine der an­de­ren Schwes­tern wür­de wis­sen, was mit The­re­sa nicht stimm­te, war­um sie in sol­cher Angst leb­te.

Vor­erst schob sie es aber auf das Ge­wit­ter. Blitz und Don­ner rüt­tel­ten zu­wei­len ver­bor­ge­ne Ge­füh­le in ei­nem wach. Din­ge, Er­leb­nis­se, die man ver­drängt hat­te, ka­men mit dem grel­len Licht und dem Pol­tern und Kra­chen zum Vor­schein.

»Komm, ich brin­ge dich wie­der ins Bett«, sag­te die Kran­ken­schwes­ter freund­lich und zö­ger­te ei­nen Au­gen­blick. Dann ent­schloss sie sich, eine di­rek­te Kon­fron­ta­ti­on zu wa­gen: »Wenn du möch­test, kannst du mir ja er­zäh­len, wo­vor du dich so fürch­test. Und du kannst mir auch sa­gen, wer mit dir schimp­fen wird. Weißt du, ich las­se das näm­lich gar nicht zu. Wer mit dir schimp­fen will, muss erst ein­mal an mir vor­bei.«

Ih­ren letz­ten Satz un­ter­leg­te Abi­gail mit ei­ner fes­ten Stim­me. The­re­sa soll­te Ver­trau­en zu ihr ge­win­nen, sie soll­te Mut schöp­fen und wis­sen, dass sie nicht al­lein war. Es gab je­man­den, der ihr zu­hör­te.

»Bald wer­den sie hier sein«, flüs­ter­te das Kind sehr lei­se. Kurz da­rauf muss­te sich Abi­gail schon an­stren­gen, um die Wor­te über­haupt noch ver­ste­hen zu kön­nen: »Sie sind da!«

 

Ein Blitz. Der Don­ner kam fast zeit­gleich und Abi­gail glaub­te, auf dem Park­platz je­man­den ge­se­hen zu ha­ben. So­fort lief ihr ein kal­ter Schau­er über den Rü­cken.

Das ist ab­surd, dach­te sie. Na­tür­lich kann sich dort drau­ßen je­mand auf­hal­ten. Im­mer­hin ist das hier ein Kran­ken­haus und es kom­men auch nachts Leu­te in die Kli­nik.

Den­noch ließ ihr die­ser Schat­ten, den sie für eine Se­kun­de ent­deckt hat­te, kei­ne Ruhe. Wenn es sich nicht um eine op­ti­sche Täu­schung ge­han­delt hat­te, war die­ser Sche­men be­we­gungs­los ge­blie­ben. Die­se Per­son hät­te aus dem Nichts auf­tau­chen müs­sen. Sie war ein­fach mit dem Blitz er­schie­nen, hat­te nach oben zu dem Fens­ter ge­starrt, aus dem Abi­gail und The­re­sa blick­ten. Au­gen, die man nicht hat­te se­hen, aber deut­lich spü­ren kön­nen.

Blöd­sinn, das lag nur an der selt­sa­men At­mo­sphä­re. An dem Ge­wit­ter und dem klei­nen Mäd­chen mit sei­nen Be­haup­tun­gen, je­mand wäre hin­ter ihr her.

»Jetzt kom­men die an­de­ren.«

All­mäh­lich wur­de das Flüs­tern des Mäd­chens un­heim­lich. Was sah das Kind nur? Wie konn­te sie über­haupt et­was se­hen? Die Au­ßen­be­leuch­tung war aus­ge­fal­len, es herrsch­te eine un­durch­dring­li­che Fins­ter­nis, wenn nicht ge­ra­de ein Blitz den Him­mel zer­riss.

Wie­der leuch­te­ten meh­re­re Blit­ze gleich­zei­tig auf, be­glei­tet von ei­nem Don­ner, der ei­nem Bom­ben­ein­schlag glich.

Die hef­ti­gen Ein­schlä­ge in der nä­he­ren Um­ge­bung des Kran­ken­hau­ses blie­ben nicht ohne Fol­gen. Mit ei­nem letz­ten wil­den Fla­ckern der Ne­on­röh­ren im Flur kam die Dun­kel­heit. Ei­gen­tlich müss­te sich gleich die Not­be­leuch­tung ein­schal­ten. In die­ser Zeit spür­te Abi­gail, dass sie nicht mit The­re­sa al­lein war. Je­mand … et­was, war noch hier.

Ganz in der Nähe.

 

Sie konn­te nicht sa­gen, wo­her die­se Ah­nung kam, aber die Kran­ken­schwes­ter spür­te sehr deut­lich, dass Au­gen auf ihr und dem Kind ruh­ten. Au­gen, die über­haupt nicht exis­tie­ren durf­ten.

Den­noch wa­ren sie da, nutz­ten die kur­ze Zeit­span­ne zwi­schen dem Aus­fal­len der Lam­pen und dem Ein­set­zen der Not­be­leuch­tung, um zu star­ren.

End­lich er­füll­te ein sanf­tes, oran­ge­far­be­nes Licht den Flur. Ab­rupt dreh­te sich die Kran­ken­schwes­ter um, schau­te den lee­ren Kor­ri­dor ent­lang. Nein, da war nie­mand zu se­hen, alle Tü­ren wa­ren fest ver­schlos­sen.

Nur die Ner­ven, Mäd­chen, nur die Ner­ven. Mehr steckt nicht da­hin­ter, ver­such­te sich Abi­gail zu be­ru­hi­gen. Es sind ein­fach nur die Ner­ven. Ver­dammt, die­ses Kind kann ei­nem wirk­lich eine Hei­den­angst ein­ja­gen. Sie soll­te Hor­ror­ge­schich­ten schrei­ben.

Bei dem letz­ten Ge­dan­ken er­schien ein Lä­cheln auf dem Ge­sicht der jun­gen Kran­ken­schwes­ter. Fast hät­te The­re­sa sie über­zeugt, dass da je­mand lau­er­te. Sie, eine Frau An­fang zwan­zig, die mit bei­den Fü­ßen fest auf dem Bo­den stand und kei­nen Sinn für über­sinn­li­che Phä­no­me­ne und die­sen gan­zen Mist hat­te. Al­les ließ sich mit den Na­tur­wis­sen­schaf­ten er­klä­ren, da­von war Abi­gail über­zeugt. Es gab nichts an­de­res. Soll­ten die Leu­te ru­hig an En­gel und Ge­spens­ter glau­ben. Wem es ge­fiel, bit­te, da­mit hat­te sie kei­ne Prob­le­me. Nur soll­te nie­mand auf die Idee kom­men, sie wür­de ei­nes Ta­ges die­sen Spin­ne­rei­en et­was an­de­res schen­ken als ein ab­wer­ten­des Grin­sen.

Konn­te es denn sein, dass The­re­sa nur ein Spiel spiel­te? Er­schreck­te die­ses Mäd­chen viel­leicht ger­ne die Men­schen mit ih­ren Ge­schich­ten und ih­rem Schau­spiel?

Eine Mög­lich­keit, die Abi­gail nicht au­ßer Acht las­sen durf­te. Kin­der hat­ten manch­mal eine ma­ka­be­re Vor­stel­lung von Scher­zen. Wenn dem so wäre, soll­te sie der klei­nen Schau­spie­le­rin ein Lob aus­spre­chen.

 

Wie dem auch sei, The­re­sa muss­te zu­rück ins Bett. Auch wenn es drau­ßen ein we­nig schwül war und im Kran­ken­haus­flur nicht ge­ra­de kalt, so wirk­te der Li­no­leum­bo­den für ein bar­fü­ßi­ges Mäd­chen nicht för­der­lich. Zu­mal Abi­gail nicht ge­nau wuss­te, wel­che Krank­heit das Kind plag­te. Vor ih­rem Ur­laub, der nun zwei Wo­chen zu­rück­lag, war kei­ne The­re­sa auf der Sta­ti­on ge­we­sen.

Wie­so hat­te sie sich nicht mehr Zeit ge­nom­men, die Kran­ken­blät­ter der Neu­zu­gän­ge ge­nau­er zu be­trach­ten? Sie hat­te es nach dem ers­ten Rund­gang er­le­di­gen wol­len. Die Kin­der­sta­ti­on war nicht groß, eine Nacht­schwes­ter reich­te da voll­kom­men aus. Eine Eta­ge wei­ter un­ten be­fan­den sich die Ärz­te, die sie je­der­zeit um Hil­fe bit­ten konn­te, soll­te es nö­tig sein.

»The­re­sa, du musst jetzt wirk­lich wie­der ins Bett. Nachts ha­ben klei­ne Kin­der zu schla­fen, das ist ganz wich­tig für …«

»Ich kann nicht«, un­ter­brach das Mäd­chen die Kran­ken­schwes­ter. »So­lan­ge sie hier sind, darf ich nicht zu den an­de­ren Kin­dern. Sonst kön­nen sie nichts mit­neh­men.«

Abi­gail schnitt eine Gri­mas­se: »Mit­neh­men? Wer möch­te et­was mit­neh­men? The­re­sa, hör bit­te auf mit die­sem Un­sinn. Du machst mir ja rich­tig Angst, du klei­ner Schelm.«

Das be­gin­nen­de Lä­cheln ge­fror auf dem Ge­sicht der Frau, als sie in die Au­gen des Mäd­chens blick­te. Sie wa­ren ei­gen­ar­tig kalt, den­noch sprach aus ih­nen Trau­rig­keit und Ver­zweif­lung.

Vor­sich­tig er­griff sie The­re­sas kno­chi­ge Schul­ter und zog ihre Hand au­gen­blick­lich zu­rück. Un­ter dem dün­nen Stoff war die Haut ei­sig. Käl­ter als sie hät­te über­haupt sein dür­fen. Wenn The­re­sa nicht ein­sich­tig war, muss­te Abi­gail das Kind eben ge­gen des­sen Wil­len ins Zim­mer zu­rück­brin­gen, so sehr sie das auch ver­ab­scheu­te. Kin­dern ge­gen­über war sie nicht ger­ne streng, aber hier ging es um die Ge­sund­heit ei­nes stu­ren, klei­nen Mäd­chens, das sich of­fen­bar im Kran­ken­haus­flur den Tod ho­len woll­te.

Kei­ne Chan­ce, das wür­de sie nicht zu­las­sen. Ihr ging es da­bei nicht um die ei­ge­ne be­ruf­li­che Kar­rie­re, Abi­gail sorg­te sich um das Wohl der Klei­nen. Gleich, nach­dem The­re­sa wie­der im Bett lag, woll­te die Kran­ken­schwes­ter da­für sor­gen, dass ein Arzt auf die Sta­ti­on kam.

Sie wuss­te nicht, was The­re­sa fehl­te und wenn sich ihr Zu­stand ver­schlim­mern soll­te, nur weil Abi­gail ge­zö­gert hat­te, sie ihr Ge­wis­sen nicht mehr be­ru­hi­gen.

Ent­schlos­sen pack­te sie die Hand des Mäd­chens. Nicht so fest, dass sie ihr weh­tun konn­te oder dass sich die klei­ne Maus er­schreck­te, aber doch mit ei­ner Best­immt­heit, die deut­lich mach­te, dass kei­ne Wi­der­re­den ge­dul­det wur­den. Dann zog sie das Mäd­chen be­hut­sam vom Fens­ter weg. Zu­erst sträub­te sich The­re­sa stumm, tat dann je­doch ei­nen Schritt zu­rück und – schon fuhr ein wei­te­rer Blitz durch den schwar­zen Him­mel. Abi­gail sah zu ih­rer Lin­ken und zu ih­rer Rech­ten Leu­te ste­hen. Sie wa­ren groß und ext­rem dünn, ihre Häup­ter kahl. Mit Frat­zen schri­en sie die Kran­ken­schwes­ter an, ohne dass ein Laut über die bläu­li­chen Lip­pen kam. In den Au­gen der Ein­dring­lin­ge flamm­te Zorn, der sich in Abi­gails See­le zu bren­nen schien.

Sie kreisch­te ent­setzt und stol­per­te zu­rück, die Hand des Mäd­chens noch im­mer um­klam­mert. Über­all schos­sen Klau­en aus den Wän­den, woll­ten die Kran­ken­schwes­ter an Ar­men und Bei­nen pa­cken. Sie spür­te Fin­ger­nä­gel, die sich in ihre Hand­ge­len­ke und Fuß­knö­chel bohr­ten.

 

Als die Blit­ze ent­la­den wa­ren, ver­schwan­den auch die Er­schei­nun­gen. Abi­gail stand schwer at­mend auf dem Flur, konn­te nicht glau­ben, was sie ge­ra­de er­lebt hat­te. Es er­schien ihr als eine Art Hal­lu­zi­na­ti­on, doch sie spür­te ein leich­tes Bren­nen an ih­rem lin­ken Knö­chel. Als sie nach un­ten blick­te, sah Abi­gail ei­nen blu­ten­den Krat­zer. Also hat­te sich tat­säch­lich et­was an ihr zu schaf­fen ge­macht.

Aber das konn­te un­mög­lich wahr sein. So et­was gab es nicht. Es exis­tier­ten kei­ne Phan­to­me. Nie­mals.

Den­noch sprach die klei­ne Wun­de eine deut­li­che Spra­che. Sie war ein di­rek­ter Be­weis da­für, dass auch Abi­gails Welt aus mehr be­stand, als nüch­ter­ne Na­tur­ge­set­ze be­wei­sen konn­ten. Wenn dem so war, hat­te sie sich die­se We­sen nicht ein­ge­bil­det. Sie wa­ren tat­säch­lich da ge­we­sen. Ver­mut­lich war­te­ten sie noch im­mer ir­gend­wo. Ver­steckt, un­sicht­bar. Ab­surd, doch real.

»The­re­sa«, zisch­te Abi­gail und hielt das Mäd­chen bei den Schul­tern, »du musst mit mir kom­men. Wir sind hier nicht si­cher. Die­se … die­se …«

Trau­rig ließ The­re­sa ih­ren Kopf sin­ken. Sie seufz­te schwer. Ja, die­se net­te Kran­ken­schwes­ter hat­te furcht­ba­re Angst, weil sie das ge­se­hen hat­te, wo­mit The­re­sa le­ben muss­te. Und ja, sie wür­de ihr nicht sa­gen, dass ihre Fa­mi­lie kei­nen Spaß ver­stand. Wie sehr wünsch­te sich das Mäd­chen so zu sein, wie alle an­de­ren Kin­der wa­ren. Ohne stän­dig da­für sor­gen zu müs­sen, dass …

»THE­RE­SA!«

Abi­gail schrie den Na­men des Kin­des, das in Le­thar­gie zu ver­sin­ken droh­te. Ir­gend­wie muss­te sie das Mäd­chen dazu brin­gen, mit ihr zu kom­men. Wenn die­se Ge­schöp­fe ein­fach so er­schei­nen konn­ten, wä­ren sie wo­mög­lich nir­gend­wo si­cher, aber im Schwes­tern­zim­mer konn­te zu­min­dest ein Arzt alar­miert wer­den oder gleich der Wach­mann.

 

Ohne Hil­fe wä­ren sie bei­de ver­lo­ren. Abi­gail spür­te es über­deut­lich. Ein Teil von ihr wuss­te, dass The­re­sa kaum et­was zu be­fürch­ten hat­te, aber das woll­te die jun­ge Frau nicht wahr­ha­ben. Er­träg­li­cher wur­de die Si­tu­a­ti­on al­lein durch den Ge­dan­ken, dass sie bei­de in Ge­fahr schweb­ten. Vie­le wür­den viel­leicht be­haup­ten, sie hät­ten sich je­der­zeit für das Kind ge­op­fert, doch die be­fan­den sich nicht in­mit­ten ei­ner nicht sicht- oder greif­ba­ren Ge­fahr. Eine Ge­fahr, die al­les tun und über­all auf­tau­chen konn­te.

Wie­der er­hell­te ein Blitz die Nacht. Die­ses Mal konn­te Abi­gail ei­nen wei­te­ren Schrei nicht un­ter­drü­cken, als das grel­le Licht den Flur flu­te­te. Sie er­war­te­te, von schreck­li­chen Klau­en ge­packt zu wer­den, die­se selt­sa­men We­sen zu se­hen. Aber nichts ge­schah.

Ob doch al­les nur Ein­bil­dung ge­we­sen ist?

In ei­ner Fach­zeit­schrift über Psy­cho­lo­gie hat­te sie ein­mal ge­le­sen, dass es Men­schen gab, die un­be­wusst an­de­re Per­so­nen so in ih­ren Bann schla­gen konn­ten, dass die­se al­les für mög­lich hiel­ten, was auch die be­trof­fe­ne Per­son als Re­a­li­tät er­ach­te­te. Da­mals hat­te sie die­sen Be­richt be­lä­chelt und sich ein­ge­bil­det, ihr könn­te das nie pas­sie­ren, da sie im­mer Herr ih­rer Sin­ne blieb.

Wei­te­re Blit­ze folg­ten, doch die We­sen blie­ben ver­schwun­den. Nur die Not­be­leuch­tung setz­te ei­ni­ge Male aus. Ob­wohl Abi­gail ganz und gar nicht gläu­big war, er­in­ner­te sie sich in die­sem Au­gen­blick an ihre ka­tho­li­sche Er­zie­hung und be­te­te still. The­re­sa stand reg­los vor ihr und starr­te wei­ter­hin auf den Bo­den. Plötz­lich press­te das Kind die Hän­de auf die Oh­ren und be­gann zu wei­nen.

»Nein, bit­te, hört auf! Hört auf zu schimp­fen! Ich kann doch nichts da­für. Bit­te! Bit­te!«

Zag­haft nä­her­te sich die Kran­ken­schwes­ter dem Kind, vor dem sie sich all­mäh­lich zu fürch­ten be­gann. Kaum wa­ren zwei Schrit­te ge­tan, hob The­re­sa ih­ren Kopf, starr­te Abi­gail an und wich vor ihr zu­rück.

»Nein!«, schrie das Mäd­chen. »Nicht! Ich darf mit nie­man­dem re­den, wenn sie hier sind. Ich darf nicht, sie schimp­fen sonst – und das tut weh. Es tut weh in mei­nem Kopf – und in den Oh­ren. Ja, es tut so schreck­lich weh, wenn sie mit mir schimp­fen.«

 

Ein­mal moch­te es das Kind ge­schafft ha­ben, Abi­gail in den Ab­grund mit­zu­rei­ßen. Da­mit war es nun vor­bei. Egal, was die Klei­ne fa­sel­te, es gab kei­nen Grund, sich von ihr Hal­lu­zi­na­ti­o­nen auf­schwat­zen zu las­sen. Ohne et­was zu er­wi­dern, ging sie wei­ter auf The­re­sa zu, die bald schon mit dem Rü­cken am Fens­ter stand. Das Mäd­chen be­gann zu wei­nen.

Durch die Glas­schei­be konn­te die Kran­ken­schwes­ter et­was be­obach­ten, das ihr den Atem raub­te. Am Him­mel sam­mel­ten sich Blit­ze. Die Ent­la­dun­gen flamm­ten nicht ein­fach kurz auf, sie sta­chen aus der Erde nach oben und form­ten ei­nen Ball aus grel­lem Licht. Bald wur­de al­les in ein wei­ßes Licht ge­taucht, das über Wald und Park­platz auf das Kran­ken­haus zu­hielt.

Als das Licht durch das Fens­ter drang, leuch­te­te der Flur so stark, dass Abi­gail glaub­te, die Um­ge­bung um sie he­rum müss­te au­gen­blick­lich in Flam­men auf­ge­hen oder ein­fach ver­schwin­den. Wän­de, Bo­den und De­cke er­strahl­ten in grel­lem Weiß und be­weg­ten sich. Sie wur­den durch­läs­sig, dann wie­der fest, wa­ber­ten und pul­sier­ten. Und von der er­hell­ten Um­ge­bung zeich­ne­ten sich Schat­ten­ge­stal­ten ab.

Ei­ni­ge von ih­nen um­ring­ten das Mäd­chen und die Kran­ken­schwes­ter. An­de­re gin­gen von Zim­mer zu Zim­mer. Ihre Kör­per be­weg­ten sich durch ge­schlos­se­ne Tü­ren und ver­schwan­den. Dort, wo die ver­än­der­te Re­a­li­tät hin und wie­der ei­nen Blick durch Wän­de hin­durch er­laub­te, er­kann­te Abi­gail, dass die We­sen die in Bet­ten schla­fen­den Kin­der um­arm­ten und sich dann mit ih­nen ein­fach in Nichts auf­lös­ten.

Wie ger­ne hät­te die jun­ge Frau auf­ge­schri­en, wäre den Kin­dern zu Hil­fe ge­eilt. Ihre Stim­me ver­sag­te, die Bei­ne woll­ten ihr nicht ge­hor­chen. Aber was hät­te es ihr ge­bracht? Um sie und The­re­sa hat­ten sich ge­nü­gend die­ser We­sen ver­sam­melt, die sie wü­tend an­starr­ten und ihr mit an­ge­spann­ten Ar­men deut­lich zu er­ken­nen ga­ben, dass sie kei­ne Stö­rung dul­den wür­den.

 

Mit lang­sa­men Schrit­ten nä­her­te sich Abi­gail dem Mäd­chen. Sie ließ die Kre­a­tu­ren nicht eine Se­kun­de aus den Au­gen, rech­ne­te im­mer da­mit, dass sie gleich nach ihr grei­fen wür­den und … sie konn­te und woll­te sich nicht vor­stel­len, was dann mit ihr ge­sche­hen soll­te.

Die Ge­stal­ten be­obach­te­ten zwar jede von Abi­gails Be­we­gun­gen, lie­ßen sie aber ge­wäh­ren. Die lip­pen­lo­sen Mün­der wa­ren ver­zerrt und sie fletsch­ten ihre klei­nen, run­den Zäh­ne. Eine Flucht war un­mög­lich.

Als sie das Mäd­chen er­reicht hat­te, ging Abi­gail vor ihr in die Ho­cke. Ihre Stim­me zit­ter­te und sie frag­te flüs­ternd: »The­re­sa, was ge­schieht hier? Ich ver­ste­he das al­les nicht.«

Ganz gleich, wel­che Er­klä­rung ihr das Kind viel­leicht gab, be­ru­hi­gen konn­te sie das nicht. Ihr Le­ben hat­te sich voll­kom­men auf den Kopf ge­stellt. Sie fühl­te sich in ei­nem Alb­traum ge­fan­gen, aus dem sie nicht er­wa­chen konn­te. Ein Alb­traum, der zur re­a­len Welt ge­wor­den war.

Mit hän­gen­den Schul­tern seufz­te The­re­sa kurz auf. Dann be­trach­te­te sie die Kran­ken­schwes­ter eine Se­kun­de lang und wich gleich da­rauf wie­der ih­ren Bli­cken aus.

»Sie sind jetzt hier und sie neh­men die Kin­der mit.«

»Ja, aber … was tun sie mit den Kin­dern? Wo brin­gen sie sie hin?«

The­re­sa schau­te auf zu den We­sen, war­te­te. Aus ih­ren Au­gen­win­keln er­kann­te Abi­gail, dass eine der Kre­a­tu­ren dem Mäd­chen zu­nick­te. Fast glaub­te die jun­ge Frau, den An­flug ei­nes Lä­chelns auf dem grau­en Ge­sicht er­ken­nen zu kön­nen.

The­re­sa fuhr re­sig­nie­rend fort: »Mit je­dem Kind, das in ihre Welt geht, kann ei­ner von ih­nen hier blei­ben. Er nimmt dann den Platz des Kin­des ein. So ein­fach ist das.«

Abi­gail ver­stand den Sinn da­rin nicht. Sie konn­te nicht be­grei­fen, was die We­sen da­mit be­zweck­ten. Noch be­vor sie nach­ha­ken konn­te, re­de­te das Mäd­chen wei­ter: »Die Kin­der wer­den dann zu Ge­wit­ter­men­schen. Ohne den Tausch müss­ten sie ster­ben und das wol­len die Ge­wit­ter­men­schen nicht. Sie wol­len le­ben.«

Ein­mal at­me­te das Mäd­chen tief ein, be­vor sie fort­fuhr: »Sie wol­len so sein wie ihr Men­schen.«

Ob­schon die Kran­ken­schwes­ter kei­ne wirk­li­che Lust auf die Ant­wort ver­spür­te, frag­te sie den­noch: »Und du? Bist du auch ein … ein … Ge­wit­ter­mensch?«

The­re­sa schüt­tel­te ih­ren Kopf: »Nein, ich bin nicht wie sie. Ich soll nur den Weg für sie vor­be­rei­ten. Seit über ein­hun­dert Jah­ren tue ich das. Jetzt soll­te es je­mand an­de­res tun, ich bin müde.«

Zwei Hän­de schos­sen auf Abi­gail zu und leg­ten sich auf ihre Schlä­fen. Sie ver­such­te, Ab­stand zwi­schen sich und The­re­sa zu brin­gen, aber das Mäd­chen hielt sie fest. Eine er­staun­li­che Kraft, mit der die Kran­ken­schwes­ter nicht hat­te rech­nen kön­nen. Im­mer­hin knie­te sie vor ei­nem klei­nen Mäd­chen, das al­les an­de­re als mus­ku­lös wirk­te.

Ste­chen­de Schmer­zen fuh­ren durch Abi­gails Kopf, so hef­tig, dass sie ei­nen Auf­schrei nicht un­ter­drü­cken konn­te. In den Bil­dern, die durch ihre Ge­dan­ken ras­ten, sah sie The­re­sa. Aber sie war kein Kind, nein. The­re­sa war eine er­wach­se­ne Frau, hat­te ein Le­ben ge­lebt und dann wa­ren sie ge­kom­men, die Ge­wit­ter­men­schen. Ein klei­ner Jun­ge hat­te The­re­sa so be­rührt, wie es das Kind nun mit Abi­gail tat und da­nach …

 

Mit ei­ner letz­ten Ex­plo­si­on rei­nen Lichts ver­än­der­te sich die Welt. Sie ver­schwand, setz­te sich neu zu­sam­men und Abi­gail spür­te, dass sie al­lein in ei­nem Kran­ken­haus lag. Der Ge­ruch kam ihr ver­traut vor, auch die Klei­dung der Kran­ken­schwes­tern er­weck­ten den Ein­druck als habe Abi­gail sie selbst schon ein­mal ge­tra­gen. Viel­leicht in ei­nem Traum. Al­les an­de­re wäre un­sin­nig, denn sie war im­mer­hin noch ein Kind.

In der Fer­ne hör­te sie das lei­se Grol­len des Don­ners. Bald wür­den sie hier sein. Wenn sie ih­nen nicht den Weg be­rei­te­te, wenn sie ih­nen nicht die Nacht­schwes­ter vom Hals hielt, wür­den sie mit ihr schimp­fen. Da­vor fürch­te­te sie sich. Die Ge­wit­ter­men­schen wa­ren ihre Fa­mi­lie und sie wa­ren sehr, sehr streng.

Ir­gend­wann wür­de sie die Bür­de ei­ner an­de­ren Per­son über­tra­gen. Ir­gend­wann. In ei­ni­gen Jah­ren oder Jahr­zehn­ten … oder erst nach ei­nem gan­zen Jahr­hun­dert?

Aber jetzt muss­te sie ihre Pflicht er­fül­len.

Lang­sam er­hob sich Abi­gail, hüpf­te aus dem Bett. Ihre nack­ten Füße be­rühr­ten den küh­len Bo­den und lie­ßen sie frös­teln. Sie ver­ließ das Zim­mer, be­trat den Kran­ken­haus­flur. Zu ih­rer Rech­ten er­streck­te sich ein hell er­leuch­te­ter Gang, in dem kei­ne Men­schen­see­le zu se­hen war. Nach links lag die Au­ßen­wand mit zwei gro­ßen Fens­tern. In der Dun­kel­heit zuck­ten Blit­ze am Ho­ri­zont. Bald schon. Sie wa­ren auf dem Weg.

Abi­gail trat ans Fens­ter, blick­te hi­naus in die Schwär­ze und war­tete.

Copyright © 2010 by Sven Später