Gewitter
Dumpf grollte in weiter Ferne der Donner eines herannahenden Sommergewitters. Um diese Jahreszeit waren Unwetter nicht selten, aber was sich da zusammengebraut hatte, konnte einem eine regelrechte Furcht einflößen. Die Luft roch nach Ozon, sämtliche Tiere waren verstummt und hatten sich verkrochen. Deutliche Zeichen dafür, dass es dieses Mal nicht an der kleinen Stadt in Illinois vorbeiziehen würde.
Im sonst um diese Uhrzeit stillen Korridor des Krankenhauses erzeugten Poltern und Rumoren unheimliche Geräusche, die nicht hierher gehörten. Es gab der gesamten Atmosphäre einen unheilvollen Beigeschmack.
Abigail, die gerade dabei war den kleinen Timmy in sein Zimmer zu begleiten, nachdem er wieder einmal in die Küche hatte schleichen wollen, bemerkte das Mädchen am anderen Ende des Flurs zuerst gar nicht. Nur durch einen kurzen Blitz hatte die junge Krankenschwester registriert, dass dort jemand stand. Ohne jede Regung stand das Mädchen dort, gekleidet in ein weißes Nachthemd, das bis zum Boden reichte. Es spähte aus dem Fenster in die Nacht hinaus, ließ die kleinen Ärmchen teilnahmslos an den Seiten herabhängen.
»Hallo?«, rief sie in Richtung des Mädchens. Timmy folgte ihrem Blick und meinte: »Ach, das ist Theresa, die ist nicht ganz dicht.«
Mit diesen Worten verschwand der kleine Wirbelwind in seinem Zimmer. Abigail schaute ihm nur kurz nach und grinste. Dieser Frechdachs würde vermutlich noch einmal eine Wanderung unternehmen wollen, bis er endlich einschlief. Er liebte solche Spielchen. Nachtschwestern zu ärgern konnte man wohl als ein echtes Hobby von ihm bezeichnen. Abigail wandte sich dem anderen Kind zu, sobald sich die Tür zu Timmys Zimmer geschlossen hatte, dass er sich mit zwei weiteren Jungs teilte.
Auf dem Linoleumboden quietschten Abigails Turnschuhe nervtötend laut, als sie durch den nach chemischen Reinigungsmitteln riechenden Korridor entlang schritt. Einige der Neonleuchten flackerten bei jedem Blitz kurz auf als wollten sie sagen, dass sie nicht mehr lange durchhalten konnten.
Ein gewaltiges Krachen ließ die Krankenschwester für eine Sekunde zusammenzucken. Sie hatte keine Angst vor Gewittern an sich, aber Donner glich einem »Buh!«-Ruf der Natur. Er ließ einen unweigerlich aufschrecken.
Abigail dachte an die Kinder in ihren Betten. Viele von ihnen ängstigten sich wohl im Augenblick. Sie sah ihre großen Augen vor sich, sah die Decken, die sie mit ihren kleinen Händen fest umklammerten und bis zur Nasenspitze hochgezogen hatten. Nicht lange und es wäre wohl ein erstes unterdrücktes Schluchzen hören. Danach kamen dann jämmerliches Weinen und kläglich vorgetragene Bitten, Schwester Abigail möge doch die Eltern herholen. Der jungen Frau brach immer wieder fast das Herz, wenn sie in solchen Situationen den Kindern erklären musste, dass das nicht so einfach wäre.
Bisher hatten sich aber noch alle von ihr trösten lassen. Sie konnte eben gut mit Kindern umgehen, auch wenn sie sich selbst noch nicht in der Mutterrolle vorstellen konnte. Sich um andere Kinder zu kümmern war etwas ganz anderes als eigene Kinder groß zu ziehen. Als Krankenschwester hatte man einen Feierabend, man hatte Ferien von der Kinderstation. Eltern konnten sich süßen Müßiggang dieser Art nicht leisten.
Die Kleine vor dem Fenster hatte weder auf Abigails Rufen reagiert, noch auf die Schritte, die sich ihr von hinten näherten. Sie stand noch immer nur da und blickte in die Dunkelheit. Unter ihren nackten Füßen war der Boden viel zu kalt und auch das dünne Nachthemd eignete sich nicht dazu, im Flur herumzustehen. Wie leicht konnte sie sich eine Lungenentzündung zuziehen.
Als Abigail das Mädchen mit den langen schwarzen Locken erreichte, legte sie ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Auf keinen Fall sollte sich das Kind erschrecken.
»Hast du Angst vor dem Gewitter?«, fragte die Krankenschwester. Kein Laut kam über die Lippen des Mädchens. Nicht einmal den Kopf drehte sie zur Seite, um zu sehen, wer sich zu ihr gesellt hatte.
»Komm, Theresa. So heißt du doch, stimmt’s? Ich bringe dich wieder auf dein Zimmer zurück. Dann setze ich mich ein wenig neben dein Bett und erzähle dir eine Geschichte. Ich kenne Geschichten, die dir ganz bestimmt wunderschöne Träume schenken.«
»Sie werden mit mir schimpfen«, flüsterte Theresa plötzlich mit zitternder Stimme. Dann wandte sie sich zum ersten Mal der Krankenschwester zu und betrachtete sie mit ängstlichen Augen. »Sie schimpfen immer mit mir, weil ich ein ungezogenes Kind bin.«
Abigail lächelte das Mädchen an und streichelte ihre Wange. Mit einem leichten Kopfschütteln meinte sie: »Ach, Unsinn. Niemand wird mit dir schimpfen und du bist auch ganz gewiss kein ungezogenes Kind. Ich sehe das in deinen Augen.«
Theresa schaute wieder aus dem Fenster. Blitze durchzuckten den Nachthimmel, tauchten für Sekunden den Parkplatz und die dahinter liegende Landschaft aus Wiesen und Wäldern in ein Licht, das alles unwirklich erscheinen ließ.
»Sie werden mit mir schimpfen.«
In dem leisen Murmeln lag eine Furcht, die nicht allein durch das Gewitter ausgelöst worden war. Oft genug hatte Abigail traumatisierte Kinder erlebt. Kinder, die mit unvorstellbaren Ängsten zu kämpfen hatten. Dieses kleine Mädchen musste irgendwann etwas erlebt haben, das ihr vermutlich für alle Zeit kaum fassbares Grauen bereiten würde.
Ein Blick in Theresas Krankenakte könnte Aufschluss darüber geben. Sobald die Kleine wieder in ihrem Bett lag, wollte sich Abigail mit dem Fall auseinandersetzen. Wenn in der Akte nichts stand, gab es genügend Kolleginnen, die hier schon länger arbeiteten. Zumindest eine der anderen Schwestern würde wissen, was mit Theresa nicht stimmte, warum sie in solcher Angst lebte.
Vorerst schob sie es aber auf das Gewitter. Blitz und Donner rüttelten zuweilen verborgene Gefühle in einem wach. Dinge, Erlebnisse, die man verdrängt hatte, kamen mit dem grellen Licht und dem Poltern und Krachen zum Vorschein.
»Komm, ich bringe dich wieder ins Bett«, sagte die Krankenschwester freundlich und zögerte einen Augenblick. Dann entschloss sie sich, eine direkte Konfrontation zu wagen: »Wenn du möchtest, kannst du mir ja erzählen, wovor du dich so fürchtest. Und du kannst mir auch sagen, wer mit dir schimpfen wird. Weißt du, ich lasse das nämlich gar nicht zu. Wer mit dir schimpfen will, muss erst einmal an mir vorbei.«
Ihren letzten Satz unterlegte Abigail mit einer festen Stimme. Theresa sollte Vertrauen zu ihr gewinnen, sie sollte Mut schöpfen und wissen, dass sie nicht allein war. Es gab jemanden, der ihr zuhörte.
»Bald werden sie hier sein«, flüsterte das Kind sehr leise. Kurz darauf musste sich Abigail schon anstrengen, um die Worte überhaupt noch verstehen zu können: »Sie sind da!«
Ein Blitz. Der Donner kam fast zeitgleich und Abigail glaubte, auf dem Parkplatz jemanden gesehen zu haben. Sofort lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken.
Das ist absurd, dachte sie. Natürlich kann sich dort draußen jemand aufhalten. Immerhin ist das hier ein Krankenhaus und es kommen auch nachts Leute in die Klinik.
Dennoch ließ ihr dieser Schatten, den sie für eine Sekunde entdeckt hatte, keine Ruhe. Wenn es sich nicht um eine optische Täuschung gehandelt hatte, war dieser Schemen bewegungslos geblieben. Diese Person hätte aus dem Nichts auftauchen müssen. Sie war einfach mit dem Blitz erschienen, hatte nach oben zu dem Fenster gestarrt, aus dem Abigail und Theresa blickten. Augen, die man nicht hatte sehen, aber deutlich spüren können.
Blödsinn, das lag nur an der seltsamen Atmosphäre. An dem Gewitter und dem kleinen Mädchen mit seinen Behauptungen, jemand wäre hinter ihr her.
»Jetzt kommen die anderen.«
Allmählich wurde das Flüstern des Mädchens unheimlich. Was sah das Kind nur? Wie konnte sie überhaupt etwas sehen? Die Außenbeleuchtung war ausgefallen, es herrschte eine undurchdringliche Finsternis, wenn nicht gerade ein Blitz den Himmel zerriss.
Wieder leuchteten mehrere Blitze gleichzeitig auf, begleitet von einem Donner, der einem Bombeneinschlag glich.
Die heftigen Einschläge in der näheren Umgebung des Krankenhauses blieben nicht ohne Folgen. Mit einem letzten wilden Flackern der Neonröhren im Flur kam die Dunkelheit. Eigentlich müsste sich gleich die Notbeleuchtung einschalten. In dieser Zeit spürte Abigail, dass sie nicht mit Theresa allein war. Jemand … etwas, war noch hier.
Ganz in der Nähe.
Sie konnte nicht sagen, woher diese Ahnung kam, aber die Krankenschwester spürte sehr deutlich, dass Augen auf ihr und dem Kind ruhten. Augen, die überhaupt nicht existieren durften.
Dennoch waren sie da, nutzten die kurze Zeitspanne zwischen dem Ausfallen der Lampen und dem Einsetzen der Notbeleuchtung, um zu starren.
Endlich erfüllte ein sanftes, orangefarbenes Licht den Flur. Abrupt drehte sich die Krankenschwester um, schaute den leeren Korridor entlang. Nein, da war niemand zu sehen, alle Türen waren fest verschlossen.
Nur die Nerven, Mädchen, nur die Nerven. Mehr steckt nicht dahinter, versuchte sich Abigail zu beruhigen. Es sind einfach nur die Nerven. Verdammt, dieses Kind kann einem wirklich eine Heidenangst einjagen. Sie sollte Horrorgeschichten schreiben.
Bei dem letzten Gedanken erschien ein Lächeln auf dem Gesicht der jungen Krankenschwester. Fast hätte Theresa sie überzeugt, dass da jemand lauerte. Sie, eine Frau Anfang zwanzig, die mit beiden Füßen fest auf dem Boden stand und keinen Sinn für übersinnliche Phänomene und diesen ganzen Mist hatte. Alles ließ sich mit den Naturwissenschaften erklären, davon war Abigail überzeugt. Es gab nichts anderes. Sollten die Leute ruhig an Engel und Gespenster glauben. Wem es gefiel, bitte, damit hatte sie keine Probleme. Nur sollte niemand auf die Idee kommen, sie würde eines Tages diesen Spinnereien etwas anderes schenken als ein abwertendes Grinsen.
Konnte es denn sein, dass Theresa nur ein Spiel spielte? Erschreckte dieses Mädchen vielleicht gerne die Menschen mit ihren Geschichten und ihrem Schauspiel?
Eine Möglichkeit, die Abigail nicht außer Acht lassen durfte. Kinder hatten manchmal eine makabere Vorstellung von Scherzen. Wenn dem so wäre, sollte sie der kleinen Schauspielerin ein Lob aussprechen.
Wie dem auch sei, Theresa musste zurück ins Bett. Auch wenn es draußen ein wenig schwül war und im Krankenhausflur nicht gerade kalt, so wirkte der Linoleumboden für ein barfüßiges Mädchen nicht förderlich. Zumal Abigail nicht genau wusste, welche Krankheit das Kind plagte. Vor ihrem Urlaub, der nun zwei Wochen zurücklag, war keine Theresa auf der Station gewesen.
Wieso hatte sie sich nicht mehr Zeit genommen, die Krankenblätter der Neuzugänge genauer zu betrachten? Sie hatte es nach dem ersten Rundgang erledigen wollen. Die Kinderstation war nicht groß, eine Nachtschwester reichte da vollkommen aus. Eine Etage weiter unten befanden sich die Ärzte, die sie jederzeit um Hilfe bitten konnte, sollte es nötig sein.
»Theresa, du musst jetzt wirklich wieder ins Bett. Nachts haben kleine Kinder zu schlafen, das ist ganz wichtig für …«
»Ich kann nicht«, unterbrach das Mädchen die Krankenschwester. »Solange sie hier sind, darf ich nicht zu den anderen Kindern. Sonst können sie nichts mitnehmen.«
Abigail schnitt eine Grimasse: »Mitnehmen? Wer möchte etwas mitnehmen? Theresa, hör bitte auf mit diesem Unsinn. Du machst mir ja richtig Angst, du kleiner Schelm.«
Das beginnende Lächeln gefror auf dem Gesicht der Frau, als sie in die Augen des Mädchens blickte. Sie waren eigenartig kalt, dennoch sprach aus ihnen Traurigkeit und Verzweiflung.
Vorsichtig ergriff sie Theresas knochige Schulter und zog ihre Hand augenblicklich zurück. Unter dem dünnen Stoff war die Haut eisig. Kälter als sie hätte überhaupt sein dürfen. Wenn Theresa nicht einsichtig war, musste Abigail das Kind eben gegen dessen Willen ins Zimmer zurückbringen, so sehr sie das auch verabscheute. Kindern gegenüber war sie nicht gerne streng, aber hier ging es um die Gesundheit eines sturen, kleinen Mädchens, das sich offenbar im Krankenhausflur den Tod holen wollte.
Keine Chance, das würde sie nicht zulassen. Ihr ging es dabei nicht um die eigene berufliche Karriere, Abigail sorgte sich um das Wohl der Kleinen. Gleich, nachdem Theresa wieder im Bett lag, wollte die Krankenschwester dafür sorgen, dass ein Arzt auf die Station kam.
Sie wusste nicht, was Theresa fehlte und wenn sich ihr Zustand verschlimmern sollte, nur weil Abigail gezögert hatte, sie ihr Gewissen nicht mehr beruhigen.
Entschlossen packte sie die Hand des Mädchens. Nicht so fest, dass sie ihr wehtun konnte oder dass sich die kleine Maus erschreckte, aber doch mit einer Bestimmtheit, die deutlich machte, dass keine Widerreden geduldet wurden. Dann zog sie das Mädchen behutsam vom Fenster weg. Zuerst sträubte sich Theresa stumm, tat dann jedoch einen Schritt zurück und – schon fuhr ein weiterer Blitz durch den schwarzen Himmel. Abigail sah zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten Leute stehen. Sie waren groß und extrem dünn, ihre Häupter kahl. Mit Fratzen schrien sie die Krankenschwester an, ohne dass ein Laut über die bläulichen Lippen kam. In den Augen der Eindringlinge flammte Zorn, der sich in Abigails Seele zu brennen schien.
Sie kreischte entsetzt und stolperte zurück, die Hand des Mädchens noch immer umklammert. Überall schossen Klauen aus den Wänden, wollten die Krankenschwester an Armen und Beinen packen. Sie spürte Fingernägel, die sich in ihre Handgelenke und Fußknöchel bohrten.
Als die Blitze entladen waren, verschwanden auch die Erscheinungen. Abigail stand schwer atmend auf dem Flur, konnte nicht glauben, was sie gerade erlebt hatte. Es erschien ihr als eine Art Halluzination, doch sie spürte ein leichtes Brennen an ihrem linken Knöchel. Als sie nach unten blickte, sah Abigail einen blutenden Kratzer. Also hatte sich tatsächlich etwas an ihr zu schaffen gemacht.
Aber das konnte unmöglich wahr sein. So etwas gab es nicht. Es existierten keine Phantome. Niemals.
Dennoch sprach die kleine Wunde eine deutliche Sprache. Sie war ein direkter Beweis dafür, dass auch Abigails Welt aus mehr bestand, als nüchterne Naturgesetze beweisen konnten. Wenn dem so war, hatte sie sich diese Wesen nicht eingebildet. Sie waren tatsächlich da gewesen. Vermutlich warteten sie noch immer irgendwo. Versteckt, unsichtbar. Absurd, doch real.
»Theresa«, zischte Abigail und hielt das Mädchen bei den Schultern, »du musst mit mir kommen. Wir sind hier nicht sicher. Diese … diese …«
Traurig ließ Theresa ihren Kopf sinken. Sie seufzte schwer. Ja, diese nette Krankenschwester hatte furchtbare Angst, weil sie das gesehen hatte, womit Theresa leben musste. Und ja, sie würde ihr nicht sagen, dass ihre Familie keinen Spaß verstand. Wie sehr wünschte sich das Mädchen so zu sein, wie alle anderen Kinder waren. Ohne ständig dafür sorgen zu müssen, dass …
»THERESA!«
Abigail schrie den Namen des Kindes, das in Lethargie zu versinken drohte. Irgendwie musste sie das Mädchen dazu bringen, mit ihr zu kommen. Wenn diese Geschöpfe einfach so erscheinen konnten, wären sie womöglich nirgendwo sicher, aber im Schwesternzimmer konnte zumindest ein Arzt alarmiert werden oder gleich der Wachmann.
Ohne Hilfe wären sie beide verloren. Abigail spürte es überdeutlich. Ein Teil von ihr wusste, dass Theresa kaum etwas zu befürchten hatte, aber das wollte die junge Frau nicht wahrhaben. Erträglicher wurde die Situation allein durch den Gedanken, dass sie beide in Gefahr schwebten. Viele würden vielleicht behaupten, sie hätten sich jederzeit für das Kind geopfert, doch die befanden sich nicht inmitten einer nicht sicht- oder greifbaren Gefahr. Eine Gefahr, die alles tun und überall auftauchen konnte.
Wieder erhellte ein Blitz die Nacht. Dieses Mal konnte Abigail einen weiteren Schrei nicht unterdrücken, als das grelle Licht den Flur flutete. Sie erwartete, von schrecklichen Klauen gepackt zu werden, diese seltsamen Wesen zu sehen. Aber nichts geschah.
Ob doch alles nur Einbildung gewesen ist?
In einer Fachzeitschrift über Psychologie hatte sie einmal gelesen, dass es Menschen gab, die unbewusst andere Personen so in ihren Bann schlagen konnten, dass diese alles für möglich hielten, was auch die betroffene Person als Realität erachtete. Damals hatte sie diesen Bericht belächelt und sich eingebildet, ihr könnte das nie passieren, da sie immer Herr ihrer Sinne blieb.
Weitere Blitze folgten, doch die Wesen blieben verschwunden. Nur die Notbeleuchtung setzte einige Male aus. Obwohl Abigail ganz und gar nicht gläubig war, erinnerte sie sich in diesem Augenblick an ihre katholische Erziehung und betete still. Theresa stand reglos vor ihr und starrte weiterhin auf den Boden. Plötzlich presste das Kind die Hände auf die Ohren und begann zu weinen.
»Nein, bitte, hört auf! Hört auf zu schimpfen! Ich kann doch nichts dafür. Bitte! Bitte!«
Zaghaft näherte sich die Krankenschwester dem Kind, vor dem sie sich allmählich zu fürchten begann. Kaum waren zwei Schritte getan, hob Theresa ihren Kopf, starrte Abigail an und wich vor ihr zurück.
»Nein!«, schrie das Mädchen. »Nicht! Ich darf mit niemandem reden, wenn sie hier sind. Ich darf nicht, sie schimpfen sonst – und das tut weh. Es tut weh in meinem Kopf – und in den Ohren. Ja, es tut so schrecklich weh, wenn sie mit mir schimpfen.«
Einmal mochte es das Kind geschafft haben, Abigail in den Abgrund mitzureißen. Damit war es nun vorbei. Egal, was die Kleine faselte, es gab keinen Grund, sich von ihr Halluzinationen aufschwatzen zu lassen. Ohne etwas zu erwidern, ging sie weiter auf Theresa zu, die bald schon mit dem Rücken am Fenster stand. Das Mädchen begann zu weinen.
Durch die Glasscheibe konnte die Krankenschwester etwas beobachten, das ihr den Atem raubte. Am Himmel sammelten sich Blitze. Die Entladungen flammten nicht einfach kurz auf, sie stachen aus der Erde nach oben und formten einen Ball aus grellem Licht. Bald wurde alles in ein weißes Licht getaucht, das über Wald und Parkplatz auf das Krankenhaus zuhielt.
Als das Licht durch das Fenster drang, leuchtete der Flur so stark, dass Abigail glaubte, die Umgebung um sie herum müsste augenblicklich in Flammen aufgehen oder einfach verschwinden. Wände, Boden und Decke erstrahlten in grellem Weiß und bewegten sich. Sie wurden durchlässig, dann wieder fest, waberten und pulsierten. Und von der erhellten Umgebung zeichneten sich Schattengestalten ab.
Einige von ihnen umringten das Mädchen und die Krankenschwester. Andere gingen von Zimmer zu Zimmer. Ihre Körper bewegten sich durch geschlossene Türen und verschwanden. Dort, wo die veränderte Realität hin und wieder einen Blick durch Wände hindurch erlaubte, erkannte Abigail, dass die Wesen die in Betten schlafenden Kinder umarmten und sich dann mit ihnen einfach in Nichts auflösten.
Wie gerne hätte die junge Frau aufgeschrien, wäre den Kindern zu Hilfe geeilt. Ihre Stimme versagte, die Beine wollten ihr nicht gehorchen. Aber was hätte es ihr gebracht? Um sie und Theresa hatten sich genügend dieser Wesen versammelt, die sie wütend anstarrten und ihr mit angespannten Armen deutlich zu erkennen gaben, dass sie keine Störung dulden würden.
Mit langsamen Schritten näherte sich Abigail dem Mädchen. Sie ließ die Kreaturen nicht eine Sekunde aus den Augen, rechnete immer damit, dass sie gleich nach ihr greifen würden und … sie konnte und wollte sich nicht vorstellen, was dann mit ihr geschehen sollte.
Die Gestalten beobachteten zwar jede von Abigails Bewegungen, ließen sie aber gewähren. Die lippenlosen Münder waren verzerrt und sie fletschten ihre kleinen, runden Zähne. Eine Flucht war unmöglich.
Als sie das Mädchen erreicht hatte, ging Abigail vor ihr in die Hocke. Ihre Stimme zitterte und sie fragte flüsternd: »Theresa, was geschieht hier? Ich verstehe das alles nicht.«
Ganz gleich, welche Erklärung ihr das Kind vielleicht gab, beruhigen konnte sie das nicht. Ihr Leben hatte sich vollkommen auf den Kopf gestellt. Sie fühlte sich in einem Albtraum gefangen, aus dem sie nicht erwachen konnte. Ein Albtraum, der zur realen Welt geworden war.
Mit hängenden Schultern seufzte Theresa kurz auf. Dann betrachtete sie die Krankenschwester eine Sekunde lang und wich gleich darauf wieder ihren Blicken aus.
»Sie sind jetzt hier und sie nehmen die Kinder mit.«
»Ja, aber … was tun sie mit den Kindern? Wo bringen sie sie hin?«
Theresa schaute auf zu den Wesen, wartete. Aus ihren Augenwinkeln erkannte Abigail, dass eine der Kreaturen dem Mädchen zunickte. Fast glaubte die junge Frau, den Anflug eines Lächelns auf dem grauen Gesicht erkennen zu können.
Theresa fuhr resignierend fort: »Mit jedem Kind, das in ihre Welt geht, kann einer von ihnen hier bleiben. Er nimmt dann den Platz des Kindes ein. So einfach ist das.«
Abigail verstand den Sinn darin nicht. Sie konnte nicht begreifen, was die Wesen damit bezweckten. Noch bevor sie nachhaken konnte, redete das Mädchen weiter: »Die Kinder werden dann zu Gewittermenschen. Ohne den Tausch müssten sie sterben und das wollen die Gewittermenschen nicht. Sie wollen leben.«
Einmal atmete das Mädchen tief ein, bevor sie fortfuhr: »Sie wollen so sein wie ihr Menschen.«
Obschon die Krankenschwester keine wirkliche Lust auf die Antwort verspürte, fragte sie dennoch: »Und du? Bist du auch ein … ein … Gewittermensch?«
Theresa schüttelte ihren Kopf: »Nein, ich bin nicht wie sie. Ich soll nur den Weg für sie vorbereiten. Seit über einhundert Jahren tue ich das. Jetzt sollte es jemand anderes tun, ich bin müde.«
Zwei Hände schossen auf Abigail zu und legten sich auf ihre Schläfen. Sie versuchte, Abstand zwischen sich und Theresa zu bringen, aber das Mädchen hielt sie fest. Eine erstaunliche Kraft, mit der die Krankenschwester nicht hatte rechnen können. Immerhin kniete sie vor einem kleinen Mädchen, das alles andere als muskulös wirkte.
Stechende Schmerzen fuhren durch Abigails Kopf, so heftig, dass sie einen Aufschrei nicht unterdrücken konnte. In den Bildern, die durch ihre Gedanken rasten, sah sie Theresa. Aber sie war kein Kind, nein. Theresa war eine erwachsene Frau, hatte ein Leben gelebt und dann waren sie gekommen, die Gewittermenschen. Ein kleiner Junge hatte Theresa so berührt, wie es das Kind nun mit Abigail tat und danach …
Mit einer letzten Explosion reinen Lichts veränderte sich die Welt. Sie verschwand, setzte sich neu zusammen und Abigail spürte, dass sie allein in einem Krankenhaus lag. Der Geruch kam ihr vertraut vor, auch die Kleidung der Krankenschwestern erweckten den Eindruck als habe Abigail sie selbst schon einmal getragen. Vielleicht in einem Traum. Alles andere wäre unsinnig, denn sie war immerhin noch ein Kind.
In der Ferne hörte sie das leise Grollen des Donners. Bald würden sie hier sein. Wenn sie ihnen nicht den Weg bereitete, wenn sie ihnen nicht die Nachtschwester vom Hals hielt, würden sie mit ihr schimpfen. Davor fürchtete sie sich. Die Gewittermenschen waren ihre Familie und sie waren sehr, sehr streng.
Irgendwann würde sie die Bürde einer anderen Person übertragen. Irgendwann. In einigen Jahren oder Jahrzehnten … oder erst nach einem ganzen Jahrhundert?
Aber jetzt musste sie ihre Pflicht erfüllen.
Langsam erhob sich Abigail, hüpfte aus dem Bett. Ihre nackten Füße berührten den kühlen Boden und ließen sie frösteln. Sie verließ das Zimmer, betrat den Krankenhausflur. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein hell erleuchteter Gang, in dem keine Menschenseele zu sehen war. Nach links lag die Außenwand mit zwei großen Fenstern. In der Dunkelheit zuckten Blitze am Horizont. Bald schon. Sie waren auf dem Weg.
Abigail trat ans Fenster, blickte hinaus in die Schwärze und wartete.
Copyright © 2010 by Sven Später