Colorado Sunrise – Folge 10
Im Westen gelten andere Gesetze
»Du läufst herum wie ein verschrecktes Huhn.«
Mae blickte zu Grace. »Vielleicht war es keine gute Idee, die Einladung anzunehmen.«
»Ach.« Grace quittierte Maes Einwand mit einer Handbewegung. »Er ist ein gutaussehender Witwer, seine Ranch wirft genug ab, um eine Familie zu ernähren. Nimm ihn, wenn er dir gefällt.«
»Grace.« Es war schwierig, sich an die Direktheit ihrer Vermieterin zu gewöhnen. Manchmal durchaus peinlich. Samuel Morehead hatte sie zu einem Ausflug eingeladen. Das Pochen an der Tür ersparte Mae, sich über Grace aufzuregen. Sie atmete tief durch und öffnete.
»Miss Dunlay.«
»Guten Tag, Mr. Morehead.«
»Einen eleganten Buggy kann ich Ihnen nicht bieten. Ich hoffe, Sie nehmen mit diesem Wagen vorlieb.«
Brian saß auf der Ladefläche des Wagens und grüßte sie. Seine Anwesenheit beruhigte sie. Es wäre unschicklich, den Ausflug alleine mit dem Rancher zu unternehmen. Er half ihr auf den Wagen, stieg auf und trieb die beiden Pferde an.
»Ich war noch nie außerhalb der Stadt. Ich freue mich darauf«, sprudelte sie hervor.
»Vielleicht werden Sie enttäuscht sein. Das Land hat nicht viel zu bieten, außer Wildnis.«
Als Antwort lachte sie nur. Neben ihm fühlte sie sich unbeschwert, erleichtert. Er hatte recht. Es gab nicht viel zu sehen, doch die Landschaft beeindruckte sie. Die schneebedeckten Bergspitzen, die in der Ferne vom Blau des Himmels aufgenommen wurden, sahen aus, als hätte ein Maler sie gemalt. Die Landschaft war rau, unberührt und wild. Fast furchteinflößend, aber voller Leben. In der Nähe eines Flusses hielt Sam an, wie sie ihn in ihren Gedanken nannte. Vor einer Barberry Buschgruppe breitete er eine Decke auf dem Boden aus. Darauf ließen sie sich nieder und bedienten sich aus Sams Picknickkorb. Brian schlang einige Bissen hinunter und lief zum Fluss.
»Mr. Morehead, Brian ist schwerhörig.«
»Ja, ich weiß.«
Wenn er das wusste, dann müsste sein Junge sich besser artikulieren, ihrer Meinung nach.
»Ich habe deswegen auch ein schlechtes Gewissen«, murmelte er. »Die Ranch beansprucht mich voll und ganz und Kat verrichtet lieber Männerarbeit, anstatt sich um Brian und den Haushalt zu kümmern.«
Sein Geständnis verblüffte sie. Er war doch ein sorgender Vater.
»Ich werde mich um Brian kümmern. Seine Aussprache wird sich in kürzester Zeit bessern. Er ist klug und wissbegierig.« Mit einem Nicken bestätigte sie ihre Worte. Lächelnd blickte sie zu Brian, der Steine auf dem Wasser tanzen ließ. Dass sie sich geradezu aufdrängte, war ihr egal. Es geschah im Interesse des Kindes.
Die Leidenschaft, mit der sie das sagte, lockte ein Lächeln auf seine Lippen.
»Das ist sehr fürsorglich von Ihnen. Ayashe tut, was sie kann. Doch sie spricht nicht perfekt Englisch.«
»Ayashe?«
»Kats Mutter, eine Indianerin.«
Die Neugierde sah er ihr deutlich an.
»Ich war fast schon erwachsen, als meine Mutter starb. Auf einem Ritt in die Berge, um nach versprengten Rindern zu suchen, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen meinem Vater und zwei Halunken. Die beiden flüchteten und ließen ihre Gefangene, eine junge Indianerin zurück. Unschlüssig, was er mit der verletzten Frau machen sollte, nahm er sie mit auf die Ranch. Sie blieb bei ihm. Das erregte Unmut bei den Leuten in der Stadt.«
Gespannt achtete er auf ihre Reaktion. Doch weder Abneigung, noch Missbilligung konnte er erkennen. Im Gegenteil. Sie schien interessiert.
Wenn sie wüsste, wie süß sie aussah. Sam betrachtete ihre Wangen, ihre Kinnpartie mit den Grübchen. Der kleine Hut mit der Masche war unnötiger Zierrat. Nicht die praktische Kopfbedeckung, die seine verstorbene Frau getragen hatte, um sich vor der Sonne zu schützen. Mae weckte Empfindungen, von denen er dachte, sie nie wieder zu fühlen. Doch er durfte diesen Gefühlen nicht nachgeben. Schon von Weitem sah man ihr die Lady an. Wie eine leuchtende, außergewöhnliche Blume wirkte sie. Was wollte sie hier? Unvorstellbar, dass sie für immer hier bleiben würde. Vielleicht war es besser, es bei diesem einen Treffen zu belassen und seine Empfindungen zu ignorieren. Brian? Sein Junge mochte die hübsche Lehrerin. Der Wind trieb einen feinen Hauch von Vanille in seine Nase. Maes Duft erinnerte ihn an Süßgras.
»Die Fleischpastete schmeckt köstlich.« Mit langsamen Bewegungen kaute sie. Jede noch so kleine Geste sah damenhaft aus.
»Ayashe kocht ausgezeichnet«, antwortete Sam, der sich jedoch auf das Essen nicht konzentrieren konnte. Etwas anderes spukte durch sein Gehirn. Etwas, für das es noch viel zu früh war.
Sie aßen schweigend. Nach einer Weile mahnte Sam zum Aufbruch. Er genoss ihre Gegenwart, doch er wollte nicht in Versuchung geraten. Die Zeit musste für ihn arbeiten. Er zeigte ihr einen Teil des Ranchgeländes. Als sie eine Baumgruppe passierten und er seine Männer sah, ahnte er, dass Ärger bevorstand.
Einige Cowboys bedrohten zwei Männer mit Gewehren. Mae schauderte.
»Was ist los, Gus?« Sam zeigte auf die Gefangenen.
»M‘am.« Der Angesprochene tippte an die Hutkrempe.
»Wir hatten die beiden schon länger in Verdacht, Viehdiebe zu sein. Und nicht nur das. Der eine hatte Petes Pfeife eingesteckt. Kameradendiebstahl.« Der Cowboy, den Mae für den Vormann hielt, spukte zu Boden. »Mein Fehler. Ich hab die Bastarde eingestellt. Tschuldigung, M‘am.«
Den Gefangenen waren die Hände auf dem Rücken gefesselt. Junge Burschen, die kaum alt genug waren, sich rasieren zu müssen. Dem einen rann Blut aus einer Stirnwunde über das Auge, der andere war an der Schulter verletzt.
»Hängen wir sie«, forderte einer der Cowboys.
Einige nickten zustimmend.
»Boss?« Der Vormann sah Sam fragend an.
Sam antwortete nicht sofort. Mae atmete heftiger. Er erwog doch nicht tatsächlich zwei Morde zu begehen? Denn nichts anderes war es.
»Zieht ihnen die Stiefel aus und jagt sie aus dem County.«
»Das könnt ihr nicht machen«, rief einer der Gefangenen. «Ihr verdammten …«
Ein Gewehrhieb gegen die Schulter ließ ihn verstummen.
Die beiden strampelten, doch mit gefesselten Händen richteten sie gegen Sams Männer nichts aus. Ziemlich grob wurden ihnen Stiefel und Socken ausgezogen.
»Sollten wir uns wiedersehen, geht es schlechter für euch aus.« Sam nickte seinen Männern zu und wendete den Wagen.
Maes Blick wanderte zu Sam, dann zu den Cowboys.
»Mr. Morehead, was geschieht nun?«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Miss Dunlay«, antwortete er sanft.
»Das können Sie nicht zulassen. Das ist grausam. Die beiden sind verletzt.«
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Wer die Gesetze der Weide nicht achtet, trägt die Konsequenzen.«
»Sie dürfen das Gesetz nicht in Ihre Hände nehmen. Der Sheriff ist zuständig.«
»Lassen Sie es gut sein.«
»Das kann ich nicht.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm.
»Ich habe dazu nichts mehr zu sagen.« Der Tonfall und sein Gesichtsausdruck zeigten deutlich, dass für ihn die Sache erledigt war.
Entgegen ihrer Art verzichtete sie auf eine Diskussion. Nicht in Gegenwart des Jungen. Mit aufeinander gepressten Lippen starrte sie geradeaus. Sie hatte ihn menschlicher eingeschätzt. Seine Entscheidung stimmte sie traurig.
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