Colorado Sunrise – Folge 3
Die wärmenden Sonnenstrahlen konnten Maes flaues Gefühl nicht dämmen, das sich in der Magengegend bildete. Mit jedem Schritt wurde ihr mulmiger zumute, ihr Rock zerknitterter, je länger ihre schweißnassen Hände daran zupften. In den letzten Tagen hatte sie unentwegt nachgedacht, wie sie den Unterricht beginnen sollte, war aber zu keinem Entschluss gekommen. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ausgerechnet als Lehrerin arbeiten zu wollen. Wenn Green dahinterkam, dass sie noch nie unterrichtet, genau genommen keine Ahnung davon hatte, welche Schritte würde er unternehmen? Würde sie mit den Kindern klarkommen? Waren es wirklich so wilde Bengel, wie der Bürgermeister behauptete? Von Weitem vernahm sie Kindergeschrei. Vor dem Schulhaus rangelten zwei Jungs, die von ihren Mitschülern angefeuert wurden.
»Sofort aufhören!«, rief sie. »Wir beginnen mit dem Unterricht.«
Der Schlüssel fiel prompt zu Boden, als sie die Tür aufschließen wollte. Beim zweiten Versuch gelang es schließlich. Die beiden Buben prügelten noch immer wild aufeinander ein.
»Aufhören!« Sie stemmte die Hände in die Hüften.
Während alle Kinder sie ansahen, kümmerten sich die beiden Raufbolde nicht um ihre Umgebung. Der Jüngere machte seine kleine Statur wett, indem er wild und unkontrolliert auf seinen Kontrahenten einschlug. Der zornige Ausdruck in seinem geröteten Gesicht sprach Bände. Der Größere hatte genug zu tun, um nicht allzu viele Schläge einzustecken.
Entschlossen drängte sich Mae zwischen die beiden und erntete einen Fausthieb in ihren Magen. Sie biss sich auf die Unterlippe und unterdrückte ein Stöhnen. Plötzlich war es ruhig, keines der Kinder gab einen Laut von sich. Die beiden Bengels standen betreten daneben. Ein Fingerzeig reichte. Ohne ein weiteres Wort verschwanden die Kinder eilig im Haus. Die Faust, die sie getroffen hatte, war klein gewesen, aber voller Wucht gegen den Gegner gerichtet. Sie richtete sich aus ihrer gebückten Haltung auf und atmete ein paarmal durch. Es schmerzte. Diese Begebenheit hatte nicht dazu beigetragen, sich Respekt zu verschaffen. Sie presste die Lippen aufeinander. Diese Rotzbengel sollten sie kennenlernen. Mit forschen Schritten betrat sie das Klassenzimmer. Die Schüler erhoben sich.
»Guten Morgen«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich bin Miss Dunlay.«
»Guten Morgen, Miss Dunlay«, erwiderten die Kinder im Chor.
Sie löste die Hutnadeln, legte sie neben dem Hut auf den Tisch und betrachtete die abgegriffenen Bücher. Gebetbücher. Ihr Vorgänger hatte aus Gebetbüchern unterrichtet. Unverständlich. Im hintersten Colorado war anscheinend alles anders.
»Ein Gentleman sollte den Hut abnehmen, wenn er einen Raum betritt.«
Die Jungs sahen sich an und nahmen ihre Kopfbedeckung zögerlich ab.
»Setzt euch.«
Sechzehn Kinder zählte sie. Scheinbar wahllos saßen junge neben älteren zu zweit an den kleinen Tischen. Die meisten waren einfach gekleidet, nur wenige trugen bessere Kleidung.
»Die Jüngeren setzen sich bitte nach vorne.«
Leises Murren erklang, doch schließlich kam Bewegung in die Kinder. Mae bat die Älteren aufzustehen und wies den Jüngeren die Plätze vorne zu.
»Was ist mit dir?«, fragte sie den kleineren der Raufbolde, der in der letzten Reihe saß. Ein rothaariger Junge stand neben ihm und wartete, dass er den Stuhl freigab.
»Das ist Brian Morehead, unser Trottel. Der spricht selten«, sagte sein Tischnachbar, der andere Raufer und lachte. Mae schätzte ihn an die dreizehn Jahre. Die anderen Kinder stimmten in das Lachen ein.
»Wie heißt du?«, fragte sie den Sprecher.
»Daniel Sanders.«
»Gut, Daniel. Ich dulde nicht, dass jemand ausgelacht wird und dass ungefragt gesprochen wird. Vor allem gewöhnt euch an, mich mit meinem Namen anzusprechen. Ich werde dasselbe tun, sobald ich euch kenne. Habt ihr mich verstanden?«
»Ja, Miss Dunlay.«
Als sie den letzten Satz im Chor hörte, war sie stolz auf sich. So schwer war es gar nicht, mit einer Horde Kinder umzugehen. Nur der Kleine in der letzten Reihe saß unbeteiligt an seinem Platz. Entschlossen ging Mae nach hinten, fasste ihn am Arm und wies ihm seinen Platz weiter vorne zu. So sah es tatsächlich besser aus. Die Kleinsten vorne und weiter hinten die Größeren.
»Ihr nennt mir nun der Reihe nach eure Namen und ob ihr in der Stadt oder außerhalb wohnt. Du beginnst.« Sie blickte Daniel Sanders an.
»Miss Dunlay, ich hab meinen Namen doch schon gesagt.«
Er legte den Kopf schief und sah sie treuherzig an.
Mae fühlte, dass er sie veralberte, dass er herausfinden wollte, wie weit er gehen konnte. Doch von solchen Rotzlöffeln würde sie sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
»Daniel Sanders, ich hatte vorhin gebeten, den Hut abzunehmen.«
»Aber Miss Dunlay …«
»Ich dulde keinen Widerspruch. Merk dir das für die Zukunft.«
Daniel warf seinen Hut zu Boden.
Mit zerknirschtem Gesicht nannte er nochmals seinen Namen und erzählte, dass seine Eltern eine Farm bewirtschafteten.
»Ich heiße Jakob Slicker. Meinen Eltern gehört der Store in der Stadt und ich werde ihn eines Tages übernehmen. Wir können alles bestellen, was Sie gerne hätten. Auch solch schöne Kleider, wie Sie tragen«, erzählte ein hübscher dunkelhaariger Junge.
»Ja, das glaube ich.« Mae lachte.
Der Junge wollte sich hervortun und kam damit bei seinen Kameraden nicht gut an.
Leise Worte wie Schleimer und Angeber zischten sie dem Kaufmannsohn zu. Mae tat, als höre sie das nicht. Nacheinander stellten sich die Kinder vor, nur Brian Morehead war verstockt und sprach kein Wort. Sie ließ es vorerst dabei bewenden.
Vielleicht war es sein Desinteresse, für das es Gründe geben musste, das in Mae ihren Mutterinstinkt weckte. Mit seinem hellbraunem, vom Raufen zerzaustem Haar und seiner Stubsnase sah er allerliebst aus. Und seine Kulleraugen. Er erinnerte sie … Oh, Himmel, nein. Nur jetzt nicht daran denken. Um die aufkommenden Tränen zu unterdrücken, blinzelte sie schnell und konzentrierte sich auf die Schüler.
Wie sie weiter vorgehen sollte, wusste sie nicht recht. Vor allem ohne Lehrbücher. Sie wollte sich nicht die Blöße geben und fragen, wie ihr Vorgänger das gehandhabt hatte.
»Ich möchte herausfinden, wie weit ihr mit Schreiben, Lesen und Mathematik seid.«
Sie stellte einfache Rechenaufgaben und Schreib- und Leseübungen aus den Gebetbüchern. Den Wissensstand fand Mae besorgniserregend, dieser lag unter dem Durchschnitt. Die Kinder der Städter waren ein wenig besser als ihre Klassenkameraden vom Land.
Es war ein mühsamer erster Tag für Mae. Unterrichten war doch nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatte.
***
»Wie geht es Ihnen nach dem ersten Schultag?«
Dieser ungehobelte Mensch war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte. Sie schloss die Tür, drehte sich um und setzte ein unverbindliches Lächeln auf.
»Sheriff, es freut mich, dass ein vielbeschäftigter Mann wie Sie sich Zeit nimmt, mir einen Besuch abzustatten.«
»Es ist purer Zufall. Ich reite aufs Land hinaus, um nach dem Rechten zu sehen.«
Mae ließ ihr Lächeln auf den Lippen. Selten war ihr ein taktloserer Mann begegnet. Wahrscheinlich war er sich dessen nicht bewusst. Sein gutes Aussehen passte nicht zu seiner ruppigen Art. Blondes, an den Schläfen leicht ergrautes Haar quoll unter seinem Hut hervor, das eckige Kinn verlieh seinem sonnengebräunten Gesicht eine gewisse Härte. Beeindruckend waren seine intensiv blauen Augen. Er machte eine gute Figur auf dem Pferd, dessen hellbraunes Fell fast die Farbe der ärmellosen Lederjacke wiederspiegelte, auf welcher der Sheriffstern glänzte.
Er fand es nicht der Mühe wert, von seinem Pferd zu steigen. Mae widerstand der Versuchung, näherzutreten und das Tier anzufassen.
»Müssen die Bewohner um ihre Sicherheit bangen, während Sie fort sind?«
»Keine Sorge, Miss Dunlay. Burt Rowell, mein Deputy kümmert sich darum.«
In seinem Gesichtsausdruck deutete nichts darauf hin, dass er sie veralbern wollte.
»Sie scheinen großen Eindruck auf unseren Bürgermeister gemacht zu haben. Hätte nicht gedacht, dass er so ohne Weiteres einen Abort bauen lässt.«
Wie selbstverständlich er dieses Wort benutzte, grauenhaft.
Tucker sah zum Himmel. »Um sich vor Sonnenbrand zu schützen, empfehle ich einen breitkrempigen Hut.«
Es war eine unverschämte Anspielung auf den schicken, kleinen Hut, den sie trug. Sein anmaßender Blick und der Mund mit den schmalen Lippen, um die stets ein kleines Lächeln zu spielen schien, gefielen ihr ebenso wenig. Für wen hielt er sich um Himmels willen?
»Seien sie unbesorgt, ich kann auf mich aufpassen und komme sehr gut zurecht«, erwiderte sie.
»Mag schon sein. Doch vom Leben hier im Westen haben Sie so wenig Ahnung wie eine Kuh vom Eier legen.«
Er tippte an die Hutkrempe und zog sein Pferd herum. Mae schnappte nach Luft und war sich sicher, ihn lachen zu hören.
»Unverschämter Hinterwäldler«, flüsterte sie.
Die wenigen Male, die sie ihm begegnet war, hatte er es stets geschafft, sie aus dem Konzept zu bringen. Das war ärgerlich.
***
»Die Kinder scheinen Sie verärgert zu haben«, sagte Mrs. Willings statt einer Begrüßung, als Mae die Tür schwungvoll öffnete.
»Ich weiß nicht, worauf mein Vorgänger Wert legte, doch der Wissensstand der Kinder ist nicht allzu hoch und der Sheriff ist ein ungehobelter Kerl.«
Mrs. Willings lachte. »Ist es so schlimm?«
Mae nahm auf einem Stuhl Platz, die Witwe setzte sich ebenfalls. Noch nie hatte Mae sie ohne Schleier gesehen, sogar im Haus trug sie ihn. Sonderbar.
»Haben Sie vor, hier zu bleiben, Mae?«
»Meinen Sie, hier bei Ihnen? Wenn ich darf, bleibe ich gern.«
Zum ersten Mal, seit sie auf der Flucht war, fühlte sich Mae wohl. Die gediegenen Möbel des Wohnzimmers waren im Osten hergestellt. Sie hatte einen Blick dafür. An Orten wie diesen konnte man solch hochwertige Stücke nicht kaufen. Im Glasschrank standen Kristallgläser, feines Porzellan und Nippes. In den samtbezogenen Ohrensesseln vor dem Kamin saß man sehr bequem.
Es musste die Witwe ein Vermögen gekostet haben, dies alles hierher zu schaffen.
»Vielleicht könnten wir uns wegen der Kosten unterhalten.«
»Sie leisten einen geringen Betrag, helfen im Haushalt und im Garten.«
»Im Haushalt? Etwa kochen?«
»Kochen, putzen, was eben anfällt.«
Maes Gesicht rötete sich. Ein Hotelzimmer konnte sie sich nicht leisten.
»Ich musste noch nie kochen. Ich fürchte, ich kann das nicht.«
»Sie haben auch noch nie im Garten gearbeitet, nicht wahr?«
Mae schüttelte stumm den Kopf.
»Haben Sie schon einmal unterrichtet?«
»Ich arbeite als Lehrerin, das sollte Ihre Frage beantworten.«
Hinter dem Schleier konnte sie die Augen nicht erkennen, aber sie fühlte, dass sie scharf beobachtet wurde.
»Nein, das beantwortet meine Frage nicht.« Mrs. Willings kicherte. »Ich erzähle Ihnen, was ich glaube. Ihre Hände sind zart und gepflegt, niemand hier in der Stadt hat eine so aufrechte Körperhaltung wie Sie, Ihre Kleidung ist aus feinem Stoff. Sie sind aus gutem Hause, mussten noch nie arbeiten und haben wahrscheinlich auch noch nie unterrichtet. Sie befinden sich in einer Notlage. Doch seien Sie unbesorgt«, sagte sie schnell, als Mae aufsprang. »Ihr Geheimnis ist bei mir sicher.« Ihre Stimme wurde leiser. »Wir haben alle unsere Vergangenheit.«
Mae sagte eine Weile nichts. Sie durfte niemanden vertrauen, auch ihr nicht.
»Ich weiß, wie Sie sich fühlen.«
»Das können Sie nicht wissen. Niemand weiß das.« Maes Stimme klang in ihren eigenen Ohren fremd.
»Doch, Mae. Ich weiß es.«
Du lieber Himmel. War es möglich? Nein. Sie hatte ihre Vergangenheit weit hinter sich gelassen. Ein Gesicht, schön wie ein Engel, erschien vor ihrem geistigen Auge und sie biss sich auf die Lippen, um nicht zu weinen. Es gab keine Rückkehr, das wusste sie nur zu gut. Sie musste versuchen zu vergessen, doch der Schmerz würde nie vergehen.
»Wenn Sie hierbleiben, müssen wir noch etwas klären.«
Die Worte und das Pochen an der Tür schreckten Mae aus ihren Gedanken. Die Witwe öffnete. Eine junge Frau stand weinend draußen und stammelte: »Mrs. Willings, … bitte helfen Sie uns. Meine Schwester … sie stirbt …«
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