Colorado Sunrise – Folge 2
Coldwell, Colorado
Sie hatte es satt von einer Postkutschenstation zur nächsten zu fahren, von einer miesen Stadt zur nächsten. Hier würde sie bleiben. Diese Stadt war so gut wie jede andere. In den letzten Wochen hatte sie in Hotels genächtigt, die diesen Namen nicht verdienten. Manche Betreiber vermieteten die Betten in den primitiven Bretterhütten an zwei Personen gleichzeitig. Mehrmals musste sie mit einer fremden Frau in ein und demselben Bett liegen. Wobei an Schlaf gar nicht zu denken war, in einem Raum voll stinkender, schnarchender Menschen beiderlei Geschlechts. Manche Nächte verbrachte sie vor sich hin dösend auf einem Stuhl.
Mae erschrak, als die Kutschentür aufgerissen wurde.
»Ich nehm Sie Huckepack, wenn Sie wollen.«
Einen Augenblick starrte sie den Kutscher wortlos an. War er verrückt? Er konnte doch nicht wirklich annehmen … Doch. Seinem Blick nach zu urteilen, war genau dies der Fall. Sein Alter konnte sie aufgrund seines buschigen Barts und des faltigen, wettergegerbten Gesichts nicht schätzen. Mae blickte an ihm vorbei und plötzlich fand sie sein Angebot gar nicht mehr so abwegig. Tagelanger Regen hatte den Boden in eine morastige Sumpflandschaft verwandelt. Der Himmel hatte seine Schleusen inzwischen geschlossen, doch die Stadt versank in einem Meer aus Schlamm und Matsch.
»Das ist sehr nett von Ihnen, doch ich versuche es selbst.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
Er zuckte die Schultern und reichte ihr die Hand, um ihr aus der Kutsche zu helfen. Sofort versank sie bis zu den Knöcheln im Morast. Sie blickte zu Boden und unterdrückte einen Anflug von Ärger gegenüber ihrem verstorbenen Mann. So weit es Anstand und Sitte zuließen, hob sie den Rock. Schlamm spritzte nach allen Seiten, während sie durch die morastige Landschaft stapfte. Mantel und Rock waren im Nu mit der übelriechenden Masse beschmiert. Zum Glück waren es nur wenige Meter bis sie den Bretterboden vor der Postkutschenstation erreichte. Der Kutscher brachte ihre beiden Koffer, drückte mit dem Ellenbogen die Türschnalle hinunter und vergaß, ihr den Vortritt zu lassen. Hinter ihm betrat sie die Station, die aus einem einzigen kleinen Raum bestand. Während sich der Kutscher mit dem Angestellten unterhielt, ging sie zum Fenster und wischte über das dreckige, leicht beschlagene Glas. Die unansehnlichen Schlieren auf ihrem Handschuh quittierte sie mit einem abfälligen Blick. Mit dem gleichen Blick starrte sie auf die menschenleere Straße hinaus. Dunkle Wolken hingen schwer über den Dächern. Die Stadt sah genau so grau und trist aus, wie sie sich fühlte. Wo war ihr Leben geblieben? Ihr Leben in Wohlstand und Glück? Es war ihr entglitten, zerbrochen wie feines Porzellan. Alles musste sie zurücklassen, sogar ihren Namen. Ein einziger Augenblick hatte alles verändert. Die letzten Wochen waren ein erbarmungsloser Lehrmeister gewesen. Sie lernte schnell, dass das Leben außerhalb der Welt, in die sie hineingeboren worden war, ganz anders aussah. Gefährlich, rücksichtslos und brutal. Wer sich nicht behaupten konnte, war zum Untergang verurteilt. Sie seufzte und drehte sich zu den Männern um.
Der Kutscher nickte ihr kurz zu und ging hinaus.
»Wo finde ich das Hotel?«, fragte sie den dürren Mann, der mit gelangweilter Miene hinter dem Schalter saß.
»Nebenan, ist geschlossen«, war sein Kommentar.
»Es gibt sicher ein Restaurant in dieser Stadt.«
»Nebenan, ist geschlossen«, wiederholte er.
Höflichkeit war diesem Mann mit den schwarzen Ärmelschonern über seinem Hemd offensichtlich fremd.
»Wo kann ich speisen?« Ihre Stimme nahm an Schärfe zu.
»Heute gar nicht.«
Das war ja nun wirklich die Höhe.
»Versuchen wir es mit einer anderen Frage«, meinte sie süffisant. »Gibt es eine Schule?«
Er nickte nur.
»Ich möchte gerne mit dem Lehrer sprechen.«
Er schüttelte den Kopf. »Abgekratzt.«
»Wie bitte?«
Die Leute im Westen hatten eine merkwürdige Art sich auszudrücken, dachte sie.
»Tot, verstehen Sie?«
»Das verstehe ich allerdings.«
Mae spürte Wut in sich hochsteigen. Sie war müde, sämtliche Knochen schmerzten und Hunger tobte in ihr, dass sie fast ohnmächtig wurde. Sie trat näher an den Schalter.
»Wenn Sie mir nicht weiterhelfen können oder wollen, dann gibt es sicher jemanden, der gewillt ist, mir Auskünfte zu erteilen.« Ihre Stimme wurde gefährlich leise. »Und jetzt haben Sie die Güte mir zu sagen, an wen ich mich wenden kann.«
Der Mann starrte sie wortlos an.
***
Ben Tucker betrachtete das Profil der Frau, die dem Stationsvorsteher eine Standpauke hielt. Die Worte prallten an Horatio Lexor ab, er glotzte sie nur dämlich an. Sicher war er einer so vornehmen Lady noch nie begegnet. Die beiden hatten ihn nicht hereinkommen hören. Sie war hübsch, verdammt hübsch sogar. Ein marineblauer Hut saß keck auf ihrem hochgesteckten hellbraunen Haar, aus dem sich eine Strähne gelöst hatte. Ihre kleine Nase war an der Spitze leicht nach oben gebogen. Der Mantel verbarg ihre Figur, aber Ben wettete, dass sie nicht viel Fleisch auf den Rippen hatte.
»Gibt es Probleme?«, fragte er.
Sie drehte sich zu ihm.
Er tippte mit der Hand an seinen Hut. »Miss, kann ich Ihnen helfen? Ich bin Ben Tucker, Sheriff von Coldwell.«
»Ich bin sicher, das können Sie.«
Ihr Versuch zu lächeln, fiel kläglich aus. Er kam näher und erkannte die Müdigkeit in ihren tiefgrünen Augen.
»Ich werde mein Bestes geben, Miss …«
»Dunlay, Mae Dunlay. Ich suche eine Unterkunft und würde gerne etwas essen. Wie ich den Worten dieses äh …, nicht sehr gesprächigen Gentleman entnommen habe, gibt es nur ein Hotel in der Stadt.«
Ben verkniff sich ein Grinsen. Als Gentleman hatte Lexor noch niemand bezeichnet.
»Miss Dunlay, es gibt tatsächlich nur ein Hotel. Der Hotelbesitzer ist für einige Tage verreist. Ich schlage vor, Sie fragen bei Witwe Willings um ein Zimmer. Dort bekommen Sie auch etwas zu essen.«
»Habe ich richtig verstanden, dass die Stelle als Lehrer zu vergeben ist?«
»Welch Überraschung. Der Bürgermeister ist schon verzweifelt, weil sich auf seine Anzeige bisher niemand gemeldet hat.
Er erntete einen verdutzten Blick.
»Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich weiß von keiner Anzeige, aber ich interessiere mich für die Stelle als Lehrerin.«
»So, so.« Ben grübelte.
Scheinbar hatten ihre Wege sie zufällig hierhergeführt. Doch was machte eine so vornehme Lady in dieser Gegend? Fürs erste gab er sich mit ihrer Antwort zufrieden.
»Ich begleite Sie zu Mrs. Willings. Sind das ihre Koffer?«
Sie nickte. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
Er nahm ihr Gepäck, öffnete die Tür und überließ ihr den Vortritt. Am Ende des Stepwalks wandte er sich ihr zu.
»Mrs. Willings Haus liegt noch ein Stück entfernt. Es wird einige Tage dauern, bis der Boden wieder fest und begehbar sein wird.«
Sie nickte stumm.
Er passte seine Gangart ihren kleinen Schritten an und beobachtete sie. Mit verkniffenen Lippen stapfte sie durch den Schlamm. Sie schien weder eine Prostituierte, noch eine Abenteuerin zu sein. Auch wenn ihre Kleidung verdreckt war, erkannte man die Lady. Sie wirkte hier fehl am Platz. Eine Rassestute unter Maultieren. Er grinste über seinen Vergleich.
»Hier ist es«, sagte er und deutete auf ein kleines Haus mit Gardinen vor den Fenstern. Auf sein Klopfen öffnete eine schwarz gekleidete Frau, deren Gesicht durch einen Schleier verdeckt war.
»Guten Tag, Mrs. Willings. Miss Dunlay sucht eine Unterkunft. Sie wissen ja, Brennan ist verreist.«
»Hallo Sheriff«, antwortete die Witwe mit rauchiger Stimme.
Wie immer wenn Ben der Witwe gegenüberstand, erweckte die verschleierte Frau sein Interesse. Nicht aus Neugierde an der Frau selbst, sondern aus rein beruflichen Gründen.
Vor fünf Jahren traf sie in Coldwell ein. An Geld schien es ihr nicht zu mangeln. Sie ließ sich ein Haus bauen und bezahlte ihre Einkäufe. Mittlerweile hatten sich die Bewohner an die Frau gewöhnt, die noch niemand ohne Schleier gesehen hatte. Sie lebte zurückgezogen und erwähnte mit keinem Wort ihre Vergangenheit. Hin und wieder vermietete sie Zimmer an Durchreisende.
»Sie können vorerst hier bleiben, Miss Dunlay.« Mrs. Willings hieß sie mit einer einladenden Handbewegung Willkommen.
»Ich spreche mit dem Bürgermeister und hole Sie morgen zur Besichtigung der Schule ab.«
Ben sah fragend auf die beiden Koffer. Noch nie hatte jemand aus Coldwell das Haus der Witwe betreten. Mrs. Willings nahm ihm ein Gepäckstück ab. Ben sah deutlich die Verwunderung im Blick der Fremden, die nach einigen Augenblicken den anderen Koffer nahm, ihm dankend zunickte und im Haus verschwand.
***
Die Schule lag am südlichen Stadtrand. Von außen sah das Häuschen, das mehr einer Hütte glich, nicht besonders schmuck aus. Peter Greene, der Bürgermeister, war stiernackig, hatte einen beachtlichen Bauchansatz und schütteres Haar. Er schloss die Tür des Schulhauses auf und bat Mae einzutreten. Überrascht blieb sie stehen. Nein, das war nicht der richtige Ausdruck. Eher schockiert. Das Klassenzimmer war ein winziger Raum. Doch wie so oft in letzter Zeit musste sie ihre Erwartungen in jeglicher Hinsicht zurück stellen. Auf dem Lehrerpult lagen einige Bücher, Tische und Stühle sahen zumindest neu aus, in einer Ecke stand ein kleiner Ofen.
»Rice Perkins hat für Zucht und Ordnung gesorgt«, begann Greene. »Ich hatte Inserate aufgegeben und eher an einen männlichen Lehrer gedacht. Verzeihen Sie meine Offenheit, aber die Kinder der Farmer und Rancher sind wilde Flegel, die einer harten Hand bedürfen.«
Mae hoffte, ihre Unsicherheit spiegelte sich nicht in ihrem Gesicht und hob die Augenbrauen.
»Dürfte ich Sie über Ihre Referenzen fragen? Ich nehme an, Sie haben bereits unterrichtet.«
Auf eine solche Frage war sie nicht vorbereitet.
«Mister Greene, ich bin sicher, es wird sich bald ein Lehrer melden, der an Ihrer Schule unterrichten möchte.«
»Nein, nein. Bitte verzeihen Sie meine Taktlosigkeit. Ich würde mich freuen, wenn Sie bleiben. Es wird Ihnen bei uns gefallen. Die Kinder werden erfreut sein, von Ihnen unterrichtet zu werden. Seit Wochen gibt es keinen Unterricht, das ist schrecklich. Wir müssen unseren Kindern doch Bildung zuteil werden lassen.«
»Ja, Sie haben Recht«, pflichtete Mae ihm bei.
»Es ist wirklich ein wunderbarer Zufall, der Sie in unsere Stadt geführt hat.
Mae öffnete den Mund, aber Green kam ihr zuvor.
»Wegen der Bezahlung … Ich kann Ihnen erst Bescheid geben, wenn ich weiß, wie viele Kinder am Unterricht teilnehmen.«
Bevor Mae etwas sagen konnte, sprach er schon weiter. Anscheinend hörte er sich gerne reden.
»Wenn Brennan, der Hotelbesitzer wieder hier ist, wäre es mir eine Ehre, Sie zum Essen auszuführen. Wir haben uns sicher viel zu erzählen. Eine gebildete Dame wie Sie …«
Das war unerhört. Er sprach mit ihr, wie mit einer guten Bekannten. Vom Sheriff erwartete sie keine Hilfe. Dieser stand mit einem verschmitzten Lächeln daneben.
»Das ist äußerst liebenswürdig von Ihnen und es ehrt mich.« Sie senkte ihre Stimme. »Doch was werden die Kinder und insbesondere deren Eltern von ihrer Lehrerin denken?«
Die Worte waren mit Bedacht gewählt und ihre bekümmerte Miene trug dazu bei, sie glaubwürdig klingen zu lassen. Unter keinen Umständen wollte sie es sich gleich zu Beginn mit dem Bürgermeister verscherzen. Für einen Augenblick zeigte sich auf Greens Gesicht ein Anflug von Verärgerung, doch er hatte sich gut in der Gewalt.
»Natürlich. Verzeihen Sie einem ungebildeten Mann vom Lande. Vielleicht ein anderes Mal.«
Sein anzügliches Lächeln war widerlich. Mae blickte sich um.
»Nach was suchen Sie?«, fragte der Sheriff.
»Ich suche … Sie wissen schon.« Sie konnte das Wort doch unmöglich in Gegenwart eines Fremden aussprechen, das wäre zu peinlich.
»Tut mir leid, ich weiß nicht.«
Ahnte er wirklich nicht, was sie meinte?
»Wenn die Kinder so viele Stunden hier sind, dann müssen sie doch sicherlich …«
So dumm konnte er doch nicht sein, dass er nicht begriff. An seinem Grinsen erkannte sie, dass er sehr wohl wusste, wovon sie sprach. Er schien die Situation zu genießen.
»Oh, das meinen Sie«, kam Greene ihr zu Hilfe. »Die Kinder laufen in den Wald.«
Er deutete zu dem kleinen Wäldchen.
Das war doch ungeheuerlich. Im Wald, ohne zusätzlichen Sichtschutz? Sie spürte die Hitze und wusste, dass Röte ihr Gesicht überzog. Das ärgerte sie gleichermaßen wie das Grinsen des Sheriffs.
»Wenn ich hier unterrichten soll, werden Sie sich eine Lösung einfallen lassen«, sagte sie zu Green, reckte das Kinn und drehte sich um. Wie es schien, brauchten die Menschen nicht nur Bildung, sondern auch Unterweisung auf anderen Gebieten.
Dem Sheriff schenkte sie einen vorwurfsvollen Blick. Hatte sie zuvor gedacht, er besitze gute Manieren, so sank er in ihrem Ansehen in diesen Augenblicken. Sie erwartete einfach zu viel, von den Menschen in diesem Kuhdorf. Selbst Mrs. Willings benahm sich sehr sonderbar …
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