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Die Treppe runter und dann geradeaus

Als wir es bemerkten, war es längst zu spät. Wir befanden uns bereits mittendrin und hatten keine Chance mehr, dem Alptraum zu entkommen. Wissen Sie eigentlich, wie wichtig es ist, sich vor einem Hauskauf das Gebäude ganz genau anzusehen? Nein? Wenn Sie glauben, ich komme Ihnen jetzt mit einem Fluch und albernen Geschichten über Seelen, die keine Ruhe finden, haben Sie sich getäuscht. Ich erzähle Ihnen auch nichts über Häuser, die eines dieser seltsamen Eigenleben führen, wie man es in alten Horrorfilmen findet.

Es ist nicht immer das Haus und es ist nicht immer das Böse, das einem arg zusetzen kann. Da gibt es noch etwas dazwischen, etwas anderes. Nicht dunkler als die Welt an sich und nicht schlechter als jedes einzelne Lebewesen auf diesem verdammten Planeten – ausgenommen der Mensch, denn so schlecht kann kaum etwas sein, doch das gehört nicht hierher.

Ich spreche von einem vermutlich natürlichen Kreislauf, den unsere ach-so-weise Wissenschaft noch gar nicht entdeckt hat. Oder es wird ganz einfach totgeschwiegen. So wie der Schneemensch oder Roswell. Ein toller Satz aus den X-Files: Die Wahrheit liegt irgendwo da draußen.

Hey, das stimmt, nur wird sie einem nicht erzählt.

Man lässt einige Spinner gewähren, passt aber darauf auf, dass niemand auf die richtige Spur kommt. Wenn doch, wird dieser jemand eben zum Schweigen gebracht.

Die haben Mittel und Wege, die kennen sich da aus, die … verflucht noch eins, ich höre mich an wie einer dieser verrückten Verschwörungstheoretiker. Dabei interessiert mich der ganze Kram gar nicht.

Aber der Reihe nach, Sie sollen ja in den kompletten Genuss kommen, sich danach selbst ein Bild machen können. Sie sollen verstehen, warum ich manche Dinge tun musste.

 

Also, es fing vor genau drei Jahren an. Gerade hatte ich meinen dritten Roman verkauft und dafür ein stattliches Sümmchen erhalten. Auch die beiden anderen Bücher gehörten nicht zu den Ladenhütern, sondern fanden sich sogar in neuen Sonderauflagen, nachdem mein neues Werk in den Charts etliche Stufen nach oben gerutscht war.

Zu der Zeit waren meine Freundin und ich gerade dabei, ein gemeinsames Leben zu planen. Kinder, Haus, Tiere – eben alles, was dazugehörte. Sie verdiente gut mit ihren Illustrationen, während ich selbst im Begriff war, ein angesagter Autor für historische Romane zu werden. Als Geschichtswissenschaftler fielen mir Recherchen nicht besonders schwer, sie gaben mir sogar das Gefühl, etwas Wichtiges, etwas Bedeutendes zu tun. Natürlich hätte ich auch Fachliteratur schreiben können, aber hey, das ist nicht mein Bier. Wer liest denn solche Sachen? Verstaubte, alternde Professoren, die dann jedes Detail auf die Goldwaage legen und es zerpflücken wollen; Literaturkritiker, denen jede Spur von Fantasie fehlt; Leute, die sich weiterbilden möchten und ein-, zweimal im Leben nach solchen Büchern greifen, bis sie merken, dass Romane doch viel spannender waren und natürlich Studenten, denen eben nichts anderes übrig blieb als sich durch solche Wälzer zu quälen.

Seit jeher war ich aber einer derjenigen gewesen, die Spaß am Leben hatten und oft auch etwas Action brauchten. Ich gehörte zur Spezies der Partylöwen, wollte nicht in einer muffigen Kammer enden oder einen Orgasmus beim Anblick antiquarischer Bücher in alten Bibliotheken erleben.

Und da ich ein guter Schreiber war, mir das mächtig viel Freude bereitete, gab es nur eine Lösung: Damit mein Studium nicht ganz umsonst gewesen war, wandte ich mich dem Verfassen von Unterhaltungsliteratur zu. Vielleicht mit einem gewissen Lerneffekt, der jedoch meist durch all die erfundenen Geschichten verschluckt wurde. Mir kam es darauf an, den Lesern Spannung zu bieten. Sie sollten die Möglichkeit haben, in eine längst vergangene Welt einzutauchen um Abenteuer, Tragödien oder sogar Kriminalfälle zu erleben. Eine Welt besuchen, die es in dieser Form heutzutage gar nicht mehr gab.

Alles mit fundiertem Hintergrundwissen angereichert, damit sich die Kritiker an mir die Zähne ausbissen.

Es lief also rundum gut, sogar erstklassig.

Zu viele tolle Begebenheiten haben den Nachteil, dass man anfängt zu glauben, das Glück hätte einem in den Arsch gebissen und würde einfach nicht mehr loslassen. Höhenflüge. Man fühlt sich die ganze Zeit über beschwingt, ist richtig high, ohne auch nur eine Droge eingeworfen zu haben. Das Leben selbst wird zur Droge.

In solchen Zeiten vergessen die Leute, dass es auch anders werden kann. Ganz plötzlich. Eine Krankheit, ein Unfall – was auch immer, denn das Schicksal findet einen Weg, dem Glückspilz alles zu versauen. Es musste nur wollen.

Und in meinem Fall wollte es das. Unbedingt sogar.

Pam – meine zukünftige Frau, wie ich damals noch gedacht hatte – und ich hatten den Plan gefasst, endlich der kleinen Stadtwohnung den Rücken zu kehren und uns auf dem Land ein Eigenheim zuzulegen. Tja, unsere Ansprüche waren nicht einmal hoch, obwohl ausreichend Geld für ein modernes Prachtstück da gewesen wäre. Nur genügend Platz sollte es bieten, etwas abseits gelegen sein und mir die Möglichkeit geben, meinen Heimwerkerdrang auszuleben. Nicht, dass ich sonderlich geschickt gewesen wäre, aber ich hatte dieses typische Männergen von meinem Vater geerbt. Nur mit dem Kopf zu arbeiten war mir nicht genug, ich wollte auch die Hände einsetzen.

Es gab genügend Häuser in einem nahe gelegenen Örtchen, die zum Verkauf standen. Keines davon kostete viel, die Preise waren zu jener Zeit weit genug unten. Außerdem durfte es ja ein Gebäude sein, das nicht mehr ganz in Ordnung war. Ja, ich wünschte mir eine Art Bruchbude, die ich nach und nach zusammenflicken und umgestalten konnte.

Mein Werk, unser Heim, am Ende der Arbeiten mit eigenen Tränen, eigenem Blut und eigenem Schweiß getauft.

Wir suchten gründlich, machten mehrere Termine mit Maklern. Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Besichtigungen wir hinter uns gebracht hatten, bis wir endlich vor einem kleinen Klotz aus Stein standen, der etwas unscheinbar wirkte und dessen Außenfassade wesentlich bessere Zeiten erlebt hatte. Für andere mochte das Haus auf bestem Weg zur Ruine sein, aber genau das reizte mich daran. Nicht so zerfallen, dass man es erst komplett herrichten musste, bevor man einziehen konnte, aber mit genügend größeren und kleineren Macken, die auf fleißige Heimwerkerhände warteten.

An einem heißen Tag Ende Juli standen wir davor und Pam sagte zu mir: »Das kann unmöglich dein Ernst sein. Hier willst du wohnen? Hier wollen wir unsere Kinder großziehen?«

»Vertrau mir«, sagte ich, »du wirst sehen, ich baue uns einen Palast aus dieser Hütte.«

Wie immer vertraute mir Pam in vielen Dingen, nicht aber darin, etwas Großes durchzuziehen, das nichts mit Schriftstellerei zu tun hatte.

Ohne zu feilschen bezahlte ich den horrenden Preis – eine Frechheit, wenn ich heute darüber nachdenke – und besänftigte Pam, die über eine Stunde ausrastete, mit einem romantischen Dinner und später mit einer gehörigen Portion zügellosem Sex. Hey, man soll sich ja nicht selbst loben, aber ich war schon immer ein erstklassiger Verführer gewesen.

Innerhalb einiger Wochen war alles weitgehend abgeschlossen. Papierkram, Behörden, Umzugskartons gepackt, alte Wohnung verlassen. Hallo, neues Leben. Aufregendes Leben. Ein Leben, das aus mir endgültig den Schreiber machen sollte, der seit jeher in mir steckte, zudem einen Ehemann und Vater.

Vielleicht trauerte ich noch eine Weile der wilden Zeit nach, doch irgendwann muss jeder einmal im Erwachsenenleben ankommen. Die Wenigsten schafften das wirklich.

Für Pam war es anfangs eine Umstellung gewesen. Ihr Job in der Stadt litt jedoch nicht darunter, denn nun konnte sie bequem von zu Hause aus arbeiten. Als erste Aktion hatte ich ihr ein kleines Atelier eingerichtet, mit viel Tageslicht. Ihr städtisches Büro bot lediglich kaltes Neonlicht, das ihr oft genug Kopfschmerzen verursachte. Sie hatte sich sogar dazu entschlossen, nicht allein für Buch- und CD-Cover zu zeichnen, sondern richtige Bilder zu malen. Abstrakt, modern, weit ab von dem, was ich mir je ins Wohnzimmer hängen würde.

Egal, sie wollte das Zeug ja verkaufen – hoffte ich zumindest. Aber selbst wenn sie sich dazu entschlossen hätte, ihre geplanten Meisterwerke in unseren Räumen unterzubringen, hätte ich mich nicht dagegen gesträubt. Ich liebte sie und außerdem hielt ich mich entweder in den unfertigen Bereichen des Hauses auf oder schrieb im kleinen Arbeitszimmer, das ganz nach meinem persönlichen Geschmack eingerichtet war.

Ein Sommer ging, der Herbst wurde zum Winter und dann zum Frühling. Während dieser gesamten Zeit genossen wir unser Zusammenleben in vollen Zügen. Beinahe hatte es den Anschein, als vermuteten oder spürten wir bereits, dass es nicht für ewig sein würde. Ein Tanz im Schatten des Feuer speienden Vulkans, ein letztes Aufbäumen, bevor alles den Bach runtergeht. Man weiß es nicht, denkt nicht einmal daran, aber die alten Instinkte aus Urzeiten bleiben einem treu ergeben. Sie lassen uns das tun, was wir nie und nimmer tun würden, könnten wir in die Zukunft sehen.

Im Frühling ging es dann los mit diesem … diesem Tanz. Ein Tanz mit dem Tod, mit dämonischen Kräften jenseits unserer Vorstellungskraft. Hey, ich brauche mir das nicht mehr vorzustellen – ich habe es erlebt. Scheiß auf all die Zweifler, die nur glauben wollen, was sie in Wissenschaftsbüchern lesen können.

Dieser äußerst regnerische April offenbarte uns eine Seele des Hauses. Er zeigte uns das, was zuvor im Verborgenen geblieben war und ich weiß bis heute nicht, ob es schon immer im Haus gewesen war oder ob einer von uns diesen Mist mitgebracht hatte. War es vielleicht ein Teil meiner Seele, ein Teil von Pams Seele? Keine Ahnung, aber das ist auch vollkommen egal. Wichtig ist nur, dass dieses Etwas irgendwann da war. Es hatte sich angeschlichen, uns hinterrücks überfallen und Schritt für Schritt in die Knie gezwungen.

Wie gesagt, es war verdammt regnerisch. Manchmal kamen für einige aufeinanderfolgende Tage wahre Sturzbäche vom Himmel geschossen, verwandelten Straßen in rutschige Wasserbahnen und das Umland in einen Sumpf. Leider blieb es nicht bei dem Sumpf außerhalb unseres Hauses. In gewisser Weise hatte er einen Weg hinein gefunden.

Als ich an einem besonders nassen Tag in den Keller ging, um einige Dinge aus unseren Kartons zu holen, traute ich meinen Augen nicht. Nach einem kurzen Flur kamen drei Türen. Rechts lag eine Art Kohlenkeller, links der Heizungsraum und hinter der Tür geradeaus befand sich ein Raum, in dem alles Mögliche gelagert werden konnte. Dort drinnen standen die Kartons.

Nachdem ich die Tür geöffnet hatte und eingetreten war, versank mein Fuß sofort im bloßen Erdreich. Mit einem leisen Aufschrei sprang ich zurück und sah, wie sich das Loch, das durch meinen Fuß entstanden war, augenblicklich mit Wasser füllte. Fasziniert, ungläubig und auf alle Fälle entsetzt betrachtete ich die Pfütze.

Ich konnte mir das nicht erklären, denn zuvor war der Boden staubtrocken gewesen, selbst vergangenen Herbst und Winter, die nicht minder feucht gewesen waren. Auch die Wände waren trocken. Nur der unbetonierte Boden hatte sich dazu entschlossen, plötzlich Wasser ins Haus zu lassen.

Etliche Dinge gingen mir durch den Kopf: ein gebrochenes Rohr, eine Wasserader oder vielleicht sogar ein unterirdischer See, der im Lauf der Zeit seinen Pegelstand immer weiter nach oben geschraubt hatte.

Nachdem ich laut und wohl auch hysterisch genug gerufen hatte, kam Pam die Treppe hinunter gestürmt und blieb abrupt neben mir stehen. Ihr Blick klebte auf der Pfütze in Fußform, richtete sich dann fragend auf mich, aber mehr als ein dummes Gesicht zu machen, fiel mir nicht ein.

Wie immer fand sie wesentlich schneller zur Rationalität zurück als ich es je gekonnt hätte. Nur zwei Worte rief sie, die Hände gegen ihre Schläfen gepresst: »Unsere Sachen!«

Vorsichtig prüfte sie die Erde um das gefüllte Loch herum auf ihre Festigkeit. Sobald sie eine Stelle gefunden hatten, die nicht an ihrem Turnschuh zog, machte sie einen Schritt. So legte sie in drei Hüpfern die kurze Strecke Richtung Rückwand zurück und wirkte wie die weibliche Version von Indiana Jones, der gerade durch einen mit Fallen gespickten Tempel schleicht. Vergessen Sie Lara Croft, die wäre wahrscheinlich an den blanken Kellerwänden entlang geklettert.

Pam ging in die Hocke, prüfte Kartons und Boden. Dann erhob sie sich, drehte sich zu mir um und lächelte erleichtert: »Uff, hier hinten scheint alles trocken zu sein. Wir sollten aber trotzdem die Bücher und Akten alle nach oben schaffen.«

»Lass mich zuerst noch das gemeinsame Büro einrichten, sonst stehen überall Kisten im Weg. Wir brauchen Schränke und Regale.«

»Dann kauf welche, Henry. Wir können kein Papier in einem feuchten Raum lagern.«

Leichter gesagt als getan, dachte ich. Bisher hatte ich ihr nichts von dem kleinen Missgeschick erzählt, das den Großteil unseres Vermögens aufgefressen hatte. Falsche Anlagen, mein Berater wegen Betrugs verhaftet und das Geld – weg.

Auch ihre Auftragslage ließ seit Dezember letzten Jahres zu wünschen übrig. In Wahrheit standen wir nicht sonderlich gut da, denn die Tantiemen waren noch nicht fällig, das neue Buch noch nicht geschrieben und die Verkaufszahlen der anderen Romane hatten einen drastischen Einbruch erlebt.

Statt zu schreiben hatte ich die ganze Zeit über den Handwerksmeister gespielt. Jetzt lag ich im Rückstand, der nicht so leicht aufzuholen war. Hinzu kam, dass Gelegenheitsjobs zu einer aussterbenden Art gehörten. Nicht nur in dieser Gegend, das ganze Land steuerte irgendwie auf eine Rezession zu.

Zwar waren wir noch nicht pleite, aber der Gürtel musste dringend enger geschnallt werden, wollten wir am Ende nicht auf der Straße sitzen. Jetzt bereute ich, den Preis für das Haus sofort gezahlt zu haben. Ein spezielles Konto anlegen, monatlich etwas abstottern und das Kapital arbeiten lassen, für Notfälle. So wäre es richtig gewesen, vorausschauend.

Unsere wahre finanzielle Lage hatte ich Pam verschwiegen, sie neigte zu Panikattacken. Sie in eine unkreative Phase zu treiben gehörte gerade jetzt nicht zu den besten Ideen. Also schwieg ich an jenem Tag, wusste aber auch, dass wir bald darüber reden mussten.

Nach diesem Vorfall entschied der Frühling, heißes und trockenes Wetter könnte nicht schaden. Und mit der Trockenheit verschwand auch das Wasser aus dem Keller. Der Boden war genau so staubig und knochenhart, wie wir ihn zuvor gekannt hatten. Nichts deutete auf mehr als einen sehr dummen Zufall hin.

Die Rohe verliefen überhaupt nicht unter diesem Teil des Kellers und waren natürlich in Ordnung. Ein befreundeter Geologe, den ich zurate gezogen hatte, schloss unterirdische Seen aus. Er erklärte es mit wirren Diagrammen und Fachbegriffen, erbarmte sich jedoch meiner mit einer knappen Übersetzung: »Da ist kein See. Das ist Fakt.«

Außer meinem Fußabdruck deutete nichts mehr darauf hin, dass der Boden weich geworden war. Nur dieser eine Abdruck ließ mich nicht an meinem Verstand zweifeln und sagte mir, dass es keine reine Einbildung gewesen sein konnte.

Schlechte Erfahrungen, die keinen wirklichen Absturz oder Ähnliches bedeuteten, verblassten rasch. Darum blieben die Kartons an Ort und Stelle, während ich versuchte, ein kleines Büro mit schwindenden finanziellen Mitteln einzurichten. Natürlich widmete ich mich auch wieder meiner Arbeit, denn ein neues Buch musste her. Mein Agent saß mir im Nacken, der Verlag scharrte wie ein ungeduldiger Stier mit mehreren Füßen in der Entscheidungsebene. Allzu lange konnte ich die Leute nicht mehr hinhalten, sonst würden sie mich absägen.

Während der heißen Wochen versank zudem Pam langsam in Depressionen, da sie keine Aufträge erhielt. Sie zeichnete lustlos einige Probebilder, die sie anderen Verlagen zuschickte, ohne jedoch angenommen zu werden. Ihre Laune wurde schlechter, oft saß sie einfach nur vor dem Zeichentisch oder einer leeren Leinwand, bis einige Stunden vergangen waren. Dann ging sie spazieren, hockte vorm Fernseher oder – was am Schlimmsten war – ging ins Schlafzimmer, um zu lesen. Nur las sie nie, sondern vergrub ihr Gesicht in den Kissen, um leise zu weinen.

Ja, das setzte mir zu. Sie so zu sehen, mitzuerleben, wie sie drohte zu zerbrechen.

Schließlich kam es zu einem durchwachsenen Sommer. Hin und wieder gab es schöne Tage, aber immer zogen ausgiebige Regengebiete über uns hinweg und bescherten diesem Stückchen Welt teils heftige Unwetter. Sobald es regnete, verwandelte sich die Mitte des Kellerraums in einen kleinen Sumpf. Wieder und wieder bat mich Pam, endlich die Kartons rauszuschaffen, doch wenn es nass war, versank man im Boden – und ich wollte nicht herausfinden, wie tief man da einsinken konnte -, wurde es trocken, verdrängte ich alles. Meine Arbeit als Heimwerker machte keinen Spaß mehr, sodass ich immer seltener den Werkzeuggürtel umschnallte. Auch sonst tat ich nicht sonderlich viel, lebte in den Tag hinein, ohne es zu genießen. Sogar Alkohol hatte ich für mich entdeckt und bildete mir ein, unter einer Schreibblockade zu leiden.

Zwei erfolglose Künstler, die mit geschlossenen Augen auf einen Abgrund zusteuerten.

Verdrängen, verdrängen, verdrängen. Nur nicht die Realität zulassen und etwas gegen unsere Talfahrt unternehmen. Wir verloren an Kraft, fühlten uns ausgelaugt. Nur selten sprachen wir miteinander, meist lebten wir einfach nur zusammen wie zwei Leute, die sich zufällig ein Haus teilten, ohne wirklich zueinander zu gehören.

Natürlich war mir nie der Gedanke gekommen, dass uns die Lebenslust und die Kraft entzogen werden könnten, aber genau darin lag das Problem. Fragen Sie mich nicht, wie das möglich ist, doch jedes Mal, wenn sich der Keller in ein Moorloch verwandelte, saugte es an unserer Energie. Sogar dann, wenn wir nicht nach unten gingen.

Dann geschah etwas, dass uns zumindest kurzzeitig aus der Starre riss. Ich lag gerade auf dem Sofa und zappte durch unzählige Fernsehsender, die nichts zu bieten hatten. Pam war in den Keller gegangen um etwas aus den Kartons zu holen – ein Buch, glaube ich. Ihr Schrei ließ mich sofort aufspringen und keine halbe Minute später befand ich mich an der Kellertür zu unserem Feuchtraum.

An der hinteren Wand stand Pam, hielt zwei Bücher in der Hand und hatte Tränen in den Augen. »Gefressen«, sagte sie mit diesem leichten Wahn in der Stimme, der wohl alle Menschen befallen kann, laugt das Leben sie zu sehr aus. »Dieser verdammte Keller frisst meine Bücher

Die dicken Wälzer waren ein wenig feucht, aber nicht von Schimmel befallen. Stattdessen hatten sich die unteren Ecken einfach in Erde verwandelt, die bei Berührung sofort zerbröselte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ihren Fußspuren im Morast folgend, gesellte ich mich zu Pam und starrte auf die Kartons. Alle wiesen solche Beschädigungen auf. Sie wurden allmählich zu dem Boden, auf dem sie standen.

Hektisch riss ich einen weiteren Karton auf, in dem ich einige alte Videos aufbewahrte und entdeckte, dass sogar die Plastikhüllen teilweise aus Erde bestanden, ganz zu schweigen von den Tapes selbst.

Unmöglich, dachte ich. Kunststoff war robust, ließ sich von Nässe nicht wirklich beeindrucken. Schon gar nicht vergammelte er zu Erde. Eine kleine Tasse aus Blech, die ebenfalls ihren Weg in diesen Karton gefunden hatte, verlor ihren Boden als ich sie hoch hob. Er krümelte einfach weg.

Metall? Das Zeug konnte rosten, aber das hier … das war nicht normal.

Mein Magen rebellierte, was ich hier sah, durfte es nicht geben. Das passierte nicht – und doch konnte ich es sehen, es anfassen. Hey, es rieselte durch meine verfluchten Finger!

Völlig aufgelöst stürmte Pam an mir vorbei, durch den kurzen Gang mit seiner einzelnen Glühbirne, die ein schummriges Licht verbreitete und die Treppe nach oben. Einige Atemzüge später folgte ich ihr. Der Schock hatte sich noch nicht ganz gelegt, denn eigentlich hätte ich versuchen müssen, mit Pam zu fliehen. Oben fand ich sie im Wohnzimmer, auf und ab gehend und gleichzeitig schluchzte sie hysterisch. Klar, das da unten war eigenartig und es bereitete mir eine gehörige Gänsehaut, aber es war noch lange kein Grund auszuflippen.

»Hey, was ist?«, fragte ich, obwohl mir selbst klar war, warum sie so reagierte. Fehlende Perspektiven, langsame Verarmung – Pam verlor ganz einfach den letzten Rest Mut. Sehr wahrscheinlich gleich noch ihren Verstand mit.

»Das fragst du? Wir … wir müssen hier raus. Henry, verstehst du nicht? Dieses Haus frisst uns. Es frisst uns. Zuerst hat es unser Glück gefressen, jetzt macht es sich über unsere Sachen her und zum Schluss …«

Pam ließ sich aufs Sofa fallen, völlig aufgelöst. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und heulte. Ein abgehacktes Weinen, ein verzweifeltes Weinen, immer wieder unterbrochen von dem Versuch, genügend Luft in die Lungen zu pumpen. Ich setzte mich zu ihr, legte meinen Arm um sie und spürte ihren bebenden Körper.

Etwas in meinem Gehirn befahl mir, auf ihre Worte zu hören. Dann war da die andere Stimme, die der Vernunft, die mir sagte: »Mann, sei nicht blöd. Das sind alles ganz natürliche Ursachen, da ist nichts seltsam. Bist du etwa ein Biologe oder so was? Bist du’s, bist du’s? Hast du Ahnung von so was? Nein? Also, dann reiß dich zusammen, du Spinner.«

Leider siegte die zweite Stimme. Nach einer Weile beruhigte sich Pam wieder, ließ sich bereitwillig trösten und hörte sogar auf mich, weiter hier wohnen zu bleiben. Wir hatten ohnehin keine andere Wahl. Auf jeden Fall wäre es nicht einfach gewesen.

Seit jenem Tag ging aber eine Veränderung mit Pam vor sich, die mich mehr und mehr beunruhigte. Sie war ständig müde, obwohl sie stundenlang schlief. Unter den Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, außerdem nahm sie ab, ihre Wangen wirkten eingefallen. Wer es nicht besser wusste, hätte vermutet, dass sich Pam etliche Drogen einwarf. Typisch für erfolglose Künstlerinnen, so dachte man doch allgemeinhin.

Mein eigenes Aussehen registrierte ich nicht wirklich, sonst wäre mir eine ähnliche Verschlechterung des Äußeren aufgefallen. Nun, in meinem Fall musste ich zugeben, dass der Alkohol allmählich zu meinem besten Freund geworden war. Wir verbrachten Nächte und Tage gemeinsam damit, im Suff Lösungen für alle denkbaren Probleme zu finden. In Wahrheit bereitete mir dieser neue Kumpel nur noch mehr Schwierigkeiten.

Wir blieben. Ok, in den Keller setzten wir vorerst keinen Fuß mehr, aber wir blieben. Um nicht nach unten gehen zu müssen, kamen Pam und mir die tollsten Ausreden, die einer dem anderen auftischte. Die Tage wurden etwas trostloser. Ein Gefühl der Taubheit machte sich breit, alles schien plötzlich sinnlos zu sein. Hin und wieder versuchte ich, einige Worte zu schreiben. Pam saß nur vor leeren Blättern und Leinwänden um sich einzureden, dass sie ja versucht hatte zu arbeiten.

In einer stürmischen Nacht rief uns der Keller. Besser gesagt, dort unten befand sich etwas, das nach uns rief. Nicht wirklich unsere Namen und im Grunde rief es auch nicht – es schrie. Ein Schrei, der durch Mark und Bein ging, ein lang gezogenes Jammern, viel zu laut und viel zu unnatürlich. Pam und ich schraken gleichzeitig aus dem Schlaf. Niemand wollte nach unten gehen und nachsehen, woher diese grässlichen Geräusche kamen.

Nach kurzer Diskussion hatte sie den kleinen Macho in mir wachgerüttelt, der nicht unmännlich wirken wollte. Hey, wir Männer haben den kleinen Scheißer immer in uns. Wenn es richtig läuft, hält er sich verborgen, kommt nur ganz selten ans Tageslicht und dann lediglich für einige Augenblicke. Andere ließen ihm freien Lauf, aber das waren allesamt Mistkerle.

Ich sprang aus dem Bett, wäre beinahe über meine eigenen Füße gestolpert und hastete zur Schlafzimmertür. Dort unten schrie etwas vor Schmerz und in Panik. Wer oder was das auch war, ich musste helfen. Ein typisches Helfersyndrom. Nie und nimmer könnte ich auf der Straße an jemandem vorbeigehen, der gerade zusammenbrach. Dann gab es da noch die gesunde Portion Egoismus: Meine eigene Sicherheit kam grundsätzlich zuerst.

Vielleicht hatte ich ja Glück und es war ein Tier, das sich in die Küche verirrt hatte oder ins Wohnzimmer. Katzen können das verdammt gut. Außerdem geben die zuweilen Laute von sich, die einen das Fürchten lehren.

Leider brachte die Inspektion der unteren Zimmer kein Ergebnis. Wie denn auch? Die Geräusche kamen eindeutig aus dem Keller, selbst wenn mein Verstand das nicht akzeptieren wollte.

Vor der Kellertür zögerte ich, aber Pam, die mir gefolgt war, drängte, ich sollte doch endlich nachsehen. Sie hätte oben bleiben können, war aber mit genügend Neugierde ausgestattet, die ihr jedes Warten in solchen Situationen unmöglich machte.

So stieß ich die Tür auf und rannte über ungerade Steinstufen in die Tiefe. Kein langsames Betätigen der Türklinke, keine vorsichtigen Schritte, das gab es in der Realität nicht. Es diente in Romanen und Filmen zum Aufbau der Spannung. Brauchte ich nicht, mir war das alles schon spannend genug. Unheimlich. Erschreckend.

Nur vor der Tür zu unserem Feuchtraum machte ich einige Sekunden lang Halt und überlegte kurz, wie klug es war, tatsächlich zur Quelle der nun äußerst lauten Schreie vorzudringen. Pam nahm mir die Entscheidung ab, drückte auf den Lichtschalter, der die kleine Lampe im Raum hinter der alten Holztür anknipste. Gleichzeitig öffnete ich.

Wir sahen beide, woher die Geräusche kamen. In der Mitte hatte sich eine leicht schlammige Mulde gebildet, flach und nicht mit Wasser gefüllt. Am Rand dieser Mulde versuchte eine grau getigerte Katze voller Panik herauszukommen.

Sie steckte fest!

Ihr gesamter Hinterleib verschwand in der Erde!

Das Tier strampelte, fauchte und stieß irrsinnige Schreie aus. Es registrierte uns, schaute mit gelbgrünen Augen bittend zu den zwei Menschen, die einfach nur mit offenen Mündern dastanden und sich nicht bewegten. Keine Ahnung, was die Katze gedacht haben musste. Vermutlich belegte sie uns beide mit einem dieser Katzenflüche. Was auch immer.

Zuerst handelte Pam, während ich mich lieber in der Rolle des Gaffers suhlte. Mutig sprang sie zu der Katze, packte sie unter den Vorderarmen und zog. Das Tier schrie, Pam schrie, ich blieb stumm.

Endlich schaffte sie es, die Tigerkatze mit einem eigenartigen schmatzenden Laut zu befreien. Im gleichen Augenblick ließ sie den kleinen Stubentiger aber wieder los, taumelte zurück. Von dem Hinterleib der Katze war nicht viel übrig geblieben. Er zerbröselte einfach und dort, wo die Zersetzung noch nicht weiter vorgedrungen war, quollen bereits Eingeweide aus dem Körper.

Pam schrie, ich kotzte.

Nichts zu machen, der kleine Streuner, der offenbar durch das offene Kellerfenster eingedrungen war, wurde wieder in die Erde gezogen. Ich hoffte, dass er jetzt schnell sterben würde, und kam mir miserabel vor. Jeder Kerl mit Schneid hätte dem Tier das Genick gebrochen, um es zu erlösen.

Allmählich verstummte die Katze. Noch bevor sie vollständig im Erdboden verschwand, war ihr Blick gebrochen, die kleine Tierseele aus dem irdischen Gefängnis befreit. Dann war sie fort. Verschluckt von unserem Keller. Verdammt.

Hey, ich bin kein Feigling. Kein Superheld, aber ganz gewiss auch kein feiges Aas, das sich vor jeder Verantwortung drückt. Meine Nerven hatten da einfach nicht mitgespielt. Ist das ein Wunder? Wohl kaum. Vielen wäre es so ergangen. Situationen müssen erlebt werden um mitreden zu können.

Noch immer plärrte Pam, vollkommen von Sinnen. Doch war nicht mehr das Verschwinden der Katze hierfür verantwortlich, wie ich feststellen musste. Ihr Fuß steckte in der Erde. Nein, eigentlich schon ihr Bein bis zur Mitte der Wade. Das erklärte auch, warum sie irre mit den Händen um sich schlug und um Hilfe rief.

Jetzt erst taute ich auf. Eine unbekannte Katze zu opfern mochte gemein sein, aber das Vieh hatte nicht zu uns gehört. Streuner gab es doch wie Sand am Meer. Wenn die eigene Verlobte im Begriff war zu versinken, sah das schon anders aus. Meine Hände packten ihre Arme. Gar nicht so leicht, da sich Pam wand und zappelte. Aber ich schaffte es, sie zu greifen. Sie selbst begriff endlich, dass ihr geholfen wurde. Ihr noch freier Fuß stützte sich auf den festeren Boden, gemeinsam schafften wir es.

Erst im Flur gönnten wir uns eine kleine Pause, die bitter nötig war. An Pams Bein konnte ich Wunden erkennen, die von zahllosen, winzigen Zähnen stammen mussten. Sie keuchte, biss sich auf die Unterlippe. Gefährlich sahen die Verletzungen nicht aus. Die Tatsache, dass es sie überhaupt gab, war durchaus bedenklich. Erde hat keine Zähne. Meine Fantasie verselbstständigte sich, zeigte Bilder von einem Monster im Boden, das Hunger hatte. Zu viele blöde Horrorfilme, dachte ich und verwarf die Ideen sofort wieder. Hey, ich musste das tun, sonst wäre ich an Ort und Stelle durchgedreht.

Weit davon entfernt war ich sowieso nicht, denn noch während wir im Flur vor dem Feuchtraum kauerten, überlegte ich, welche unliebsamen Gäste ich da alles verschwinden lassen könnte. Wahnsinn kommt nur selten ganz plötzlich über einen, er klopft erst an und besucht einen danach immer häufiger, bis er nicht mehr gehen möchte. Hallo, löchriges Hirn. Machs gut, Verstand. Vielleicht sieht man sich mal wieder.

So weit war es noch nicht.

Über den Vorfall schwiegen wir. Es hätte keinen Sinn gehabt, über etwas zu diskutieren, etwas zu analysieren, das nicht sein konnte. Wir glaubten einfach nicht daran. Mir selbst half der Alkohol, alles in die schwindende Erinnerung an einen schlechten Traum zu verwandeln. Nur Pam trug das Wissen mit sich herum, ohne es ganz verdrängen zu können.

Etwas über einen Monat nach dem Erlebnis kam es dann zu einem handfesten Streit zwischen mir und Pam.

»Du bist zu einem elenden Säufer geworden«, warf sie mir an den Kopf. »Ich halte das in diesem Haus nicht länger aus. Und auch nicht mit dir.«

Damit hatte sie das Spiel angepfiffen. Lautstark verteidigte ich meine neue, jämmerliche Existenz, dann versprach ich Besserung, nur um gleich darauf ihre Gefühle in Fetzen zu reißen. Wir brüllten einander an, einiges ging zu Bruch und dann wollte Pam ins Schlafzimmer flüchten, ihre Sachen packen.

Dazu kam sie nicht. Blind vor Wut sprang ich sie an und schlug ihr mit der Faust derart hart auf den Hinterkopf, dass sie sich mit einem fragenden Blick zu mir umdrehte, bevor sie wie ein gefällter Baum einfach auf den Teppich fiel. Freund Irrsinn hatte sich unmerklich in mir breitgemacht, tobte sich so richtig aus. Ohne weiter darüber nachzudenken, schnappte ich mir ihren schlaffen Körper und zerrte sie die Kellertreppe nach unten.

Warum ich das tat, weiß ich nicht mehr. Vermutlich hatte es mit dem alten Wenn-ich-dich-nicht-mehr-haben-kann,-soll-dich-keiner-haben zu tun. Hey, was soll man von einem Verrückten denn erwarten? Rationales Handeln? Sicher nicht.

Wie ein Schlafwandler tat ich einfach mein Werk. Jeder Winkel meines Verstandes schrie mich an, ich sollte doch aufwachen, aber Freund Irrsinn war stärker. Er hatte jetzt das Kommando übernommen. Er gab mir die Kraft und schnauzte mich an wie ein Drill-Sergeant: »Weg mit dem Verräter, Soldat! Du weißt, was du zu tun hast, Soldat! Lass dich bloß nicht dabei erwischen, wie du schwach wirst, Soldat!«

Der Soldat gehorchte, brachte die bewusstlose Pam in den Feuchtraum, der zu dieser Zeit wieder ziemlich trocken war, und legte sie genau in die Mitte. Wie ich feststellen musste, waren keine Kartons mehr zu sehen. Seit der Katze hatte es sich der Kellerboden gut gehen lassen und alles verschlungen, was sich in den vier Steinwänden befunden hatte. Wer so brav seinen Teller leerte, der durfte doch einen tollen Nachtisch erwarten.

Kaum war Pam bei Besinnung, erwachte der Kellerboden zum Leben. Nicht, dass sich ein Maul geöffnet hätte oder Tentakel aus dem Unterreich hervor gekrochen wären. Es wurde nur feucht. Schlicht und einfach feucht. Unter ihr gab das Erdreich nach und begann, meine einstmals Geliebte zu verschlucken.

Voller Hass blickte sie mich an, brüllte mir Schimpfworte und weiß Gott was alles ins Gesicht. Ihre Hände griffen nach etwas, das sie retten konnte, fanden aber nichts. Nicht lange nachdem bereits ihre Beine im Boden steckten, setzte vermutlich der Schmerz ein. Ihre Stimme verlor an Wut, wurde von Qual beherrscht. Unerbittlich zog es sie nach unten.

Ich stand vor ihr, grinste.

»Du wolltest mich doch sowieso verlassen. Jetzt hast du deinen Willen.«

»Mieses Schwein«, kreischte sie und krallte nach mir. Wie sie das schaffen konnte, blieb mir immer ein Rätsel, aber Pam erwischte den Ärmel meines linken Arms, hielt sich an meinem Handgelenk fest und ich hatte das Gefühl als hätte der bevorstehende Tod sie noch einmal mit übermenschlichen Kräften ausgestattet. Ich konnte nicht weg.

Sogar als ihr Kopf schon bis zur Stirn im Boden verschwunden war und kein Laut mehr über Pams Lippen kam, ließen mich ihre Hände nicht los. Meine Hand folgte ihr in das unnatürliche Grab.

Es fühlte sich kalt an. Tausend kleine Nadeln stachen in meine Haut. Jedenfalls fühlte es sich nach Nadeln an. Zu Beginn ein leichtes Pieksen, dann bohrten sie sich tiefer. Schließlich tat es unbeschreiblich weh. Jetzt war ich mit dem Gekreische an der Reihe. Mir blieb zum Glück genügend Kraft, die Hand zu befreien und aus dem Boden zu ziehen. Meine Haut war regelrecht durchlöchert, doch blieb der Schmerz erträglich.

Nach Pam als kleine Zwischenmahlzeit änderte sich aber etwas. Gesättigt zeigte sich der Kellerboden nicht, im Gegenteil. Er wurde nun erst richtig aktiv. Jede Kellerwand wurde von Erde bedeckt. Falsch, nicht bedeckt. Sie wurde einfach verzehrt und löste sich auf.

Raus. Das war der Gedanke, der mich antrieb. Nur schnell raus hier, bevor alles in sich zusammenstürzte.

Ich rannte zurück, nach draußen, entfernte mich einige Meter vom Haus, bis ich stehen blieb und mich umwandte. Gerade noch rechtzeitig. Alle Mauern, die Fenster, die Veranda – einfach alles wurde zu Erde. Erde, die sich nicht zu einem Haufen aufschichtete, sondern schlicht nach unten gezogen wurde. Es ging so verdammt schnell. Nur Minuten verstrichen, bis ich auf einem leeren Grundstück stand.

Kein Mensch würde mir das je glauben, das wusste ich schon damals. Niemand. Klar, man würde Fragen stellen, auf die ich keine Antwort wissen konnte. Wo war das Haus geblieben? Wo all die Sachen? Wo war Pam?

Um alledem zu entgehen, ging ich einfach fort. Wohin? Das ist doch vollkommen egal. Diese Seiten schreibe ich auf Papier, das ich gestohlen habe, mit einem Kugelschreiber, den ich im Müll fand. Ich werde sie einfach mitten in der Nacht in einen Briefkasten werfen und hoffen, dass jemand sie lesen wird. Hey, von mir aus kann sich dieser Jemand auch den Hintern damit abwischen. Ich musste es nur einfach erzählen.

Mich selbst braucht man nicht zu suchen, ich werde nicht mehr da sein. Meine linke Hand liegt einige Meter von mir entfernt auf nassen Pflastersteinen. Kleine Dreckklumpen. Es hat lange gedauert, bis es anfing. Wäre mit Pam sicherlich auch so gekommen, aber ich hatte ihr ja keine Gelegenheit dazu gegeben, das herauszufinden.

Übrigens: Wenn es erst einmal angefangen hat, geht es verdammt schnell. Würde ich jetzt meinen Arm heben, fiele er einfach als Erde zu Boden. Wenn ich Pech habe, schaffe ich es nicht einmal mehr zu einem Briefkasten.

Ein Gutes hat die Sache: Die Nachwelt spart sich meine Beerdigung. Einfach zusammenfegen und in den nächstbesten Mülleimer werfen.

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