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Westernkurier 12/2012

Auf ein Wort Stranger! Wer die Wörter Indianer oder Natives hört, denkt sofort an nordamerikanische Indianerstämme. Sehr wenig hingegen wird im deutschsprachigen Raum über die Ureinwohner Kanadas berichtet.

Wann die ersten Menschen im heutigen Kanada siedelten, ist nicht bekannt. Knochenfunde lassen sich auf 12.000 Jahre zurückdatieren, doch man nimmt an, dass schon seit Zigtausend Jahren, Menschen dort lebten. Im damals dünn besiedelten Gebiet gab es einige sesshafte Menschengruppen, die meisten lebten als Nomaden, abhängig von Wetterverhältnissen und Tierwanderungen. Es herrschte Schamanismus vor, der durch Kontaktaufnahme zu den Ahnen, Heiligkeit von bestimmten Orten, Ritualen, Tanz, Musik und Mythen gekennzeichnet war. Die Stammesnamen, die wir heute kennen, vergaben die Europäer. In ihren verschiedenen Sprachen bezeichneten sich die Ureinwohner als »Menschen oder Volk.«

Ohne die Hilfe der Indianer, wie die Ureinwohner allgemein genannt wurden, hätten die ersten Händler, Fallensteller und Siedler nicht überlebt. Eine Tatsache, die gerne vergessen wird. Aus Verbindungen zwischen Franzosen und Engländern mit indianischen Frauen gingen zahlreiche Nachkommen hervor. Nicht nur der Mangel an europäischen Frauen, sondern die Vorteile aus diesen Beziehungen bewog die Männer dazu. Kinder aus gemischten Beziehungen entschieden sich anhand kultureller Kriterien, wem sie angehören wollten. Der überwiegende Teil der Kinder wuchs bei den indianischen Müttern auf und somit identifizierten sie sich mit ihrer indianischen Kultur. Die französische Kolonialpolitik förderte diese Verbindungen, da sie mit der geringen Anzahl von Auswanderern aus Frankreich die Kolonialmacht gegenüber den Engländern nicht halten konnte und auf die Unterstützung der französisch-indianischen Nachkommen angewiesen war. Die Basis für die Entstehung der Métis Nation war ihr Lebensstil. Die Bezeichnung geht auf das lateinische Verb miscere zurück, das mischen, vermischen bedeutet. Bis Ende des 19. Jahrhunderts pflegten sie eine eigene Ökonomie mit vielen Elementen aus dem Französischen. Sie entwickelten Michif, eine eigene Sprache mit Teilen aus dem französischen Dialekt, dem Cree und im Osten vom Ojibwa Dialekt. Seit 1879 gibt es das Michif Dictionary mit englischer Übersetzung. 1982 wurden die Métis als eigenständiges Volk anerkannt.

Louis Riel, 1844 geboren, gilt als wichtige historische Figur Kanadas. Er war das Kind streng gläubiger Métis. Landvermessungen Ende der 60iger Jahre lösten Unruhen unter den Métis aus. Das Land sollte neu parzelliert werden, ohne Rücksicht auf bisherige Nutzungsrechte. Riel führte sein Volk in die Rebellion und wurde am 16. November 1885 gehängt. Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein geisteskranker Verräter. 1887 erkannte die Bundesregierung die Landansprüche der Métis in Saskatchewan an, doch die Métis schätzten den Wert ihres Landes falsch ein und wurden von Spekulanten beim Verkauf ihres neuen Besitzes betrogen.

Die ungefähr 600 Stämme der kanadischen Ureinwohner ohne die Gruppen der Inuit und Métis, bezeichnen sich selbst als First Nations. In der Royal Proclomation der englischen Krone, wurden 1763 indianische Rechtsansprüche auf nicht kolonialisierte Gebiete anerkannt. Einige Gebiete wurden zu Reservaten erklärt. 1876 wurde das erste Indian Act in Kraft gesetzt, das die Verwaltung in den Reservaten regelte. Indianer wurden als Minderheit anerkannt, ohne Wahlrecht und Staatsbürgerschaft. Die Indianer wurden dem Department of Indian Affairs unterstellt, das die Aufgabe hatte, die Indianer zu zivilisieren, in die weiße Gesellschaft zu integrieren und alle Anzeichen von indianischer Kultur zu beseitigen.

Für eine große Fläche Kanadas wurden keine Abtretungsverträge geschlossen. Damit bleiben unter der Royal Proclamation von 1763 die Landrechte der First Nations erhalten. Lt. der Proclamation muss das Land an die Regierung verkauft oder abgetreten werden und diese kann es an Dritte weitergeben. Die Rechte der First Nations können auch nicht durch Provinzgesetzgebungen aufgehoben werden. Die Praxis der Regierung, die an Großkonzerne Land vergibt, sieht leider anders aus.

Zahlreiche Auseinandersetzungen über nicht eingehaltene Verträge über Fischereirechte haben das US-Oberstgericht und das kanadische Oberstgericht dazu veranlasst, zuzustimmen, dass indianische Verträge zu respektieren seien. Aber beide haben befunden, dass Kongress und Parlament jeden Vertrag brechen können.

Ein sehr grausames Kapitel über den Umgang mit den Natives, war die Gründung der Residential Schools, die per Bundesgesetz festgelegt wurde und deren Leitung der Kirche oblag. Die Internate entstanden außerhalb der Reservate, sodass es für die Eltern schwierig war, ihre Kinder zu besuchen. Diese Internate, von vielen ehemaligen Schülern death camps genannt, waren Institutionen, um indianische Kinder zu assimilieren. »To kill the Indian in the child« nannten es die Weißen. Ziel war es, die indianische Kultur auszulöschen. Das Sprechen ihrer eigenen Sprache wurde hart bestraft, wobei das »Säubern« des Mundes mit Seifenlauge wohl zu den kleineren Strafen gehörte. Prügel und sexueller Missbrauch beherrschten den Alltag. Nach Jahren in diesen Gefängnissen waren viele Kinder ihrer Muttersprache nicht mehr mächtig. In nur einer Generation wurden viele Sprachen ausgelöscht. Drogen- und Alkoholmissbrauch kennzeichnete den Weg vieler Jugendlicher, die entlassen aus diesen Gefängnissen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl verloren hatten. 1970 begann die Regierung die Schulen zu schließen, 1996 schloss die letzte Residential School in Saskatchewan.

1909 berichtete Peter Bryce im Auftrag des Ministeriums für Indianerangelegenheiten, dass die Sterblichkeitsrate unter den Schülern bis zu 50 % betrage. Die Ergebnisse wurden erst 1922 veröffentlicht, als Bryce nicht mehr für die Regierung tätig war. Schätzungen zufolge starben 50.000 Kinder in kanadische Residential Schools. Ein Grund für die hohe Todesrate war die Verbreitung von Tuberkulose. Doch nicht nur das. Überlebende sprechen von unzähligen Morden an ihren Brüdern und Schwestern. Hört man sich Interviews von Augenzeugen an, kommt das ganze Ausmaß dieser Tragödien zum Vorschein. Die Menschen versuchen mit Gesprächen das Erlebte zu verarbeiten. Sie wollen keine Urteile, doch sie wollen, dass die Verbrechen als solche anerkannt und publik werden. Welche Grausamkeiten sie erlitten und gesehen haben, kann man mit Worten nicht beschreiben. Priester und Lehrer schwängerten junge Mädchen, die Nonnen nahmen Abtreibungen vor. Geborene Babys wurden getötet und in geheimen Gräbern verscharrt.

Auf dieser Seite sind einige Interviews online: www.itccs.org

Anfang des 20. Jahrhunderts wurden Indian Hospitals gegründet, um Indianer isoliert von den Weißen zu behandeln. In den Hospitals wurde nicht nur geheilt. In den 60iger und 70iger Jahren wurden Schätzungen zufolge bis zu 70.000 Mädchen und Frauen zwangssterilisiert. Grausame Experimente wurden an gesunden Menschen durchgeführt, die zwangseingeliefert und monate- manchmal sogar jahrelang eingesperrt wurden. Viele haben das Martyrium nicht überlebt, die Überlebenden sind für ihr Leben physisch und psychisch gezeichnet. An schwangeren Mädchen aus den Residential Schools wurden Abtreibungen vorgenommen, andere junge Mütter wurden getötet. Berichte von ehemaligen Krankenschwestern und überlebende Augenzeugen gibt es viele, auch viele Funde von Baby- und Kinderskeletten, doch wenige interessieren sich dafür, was geschehen ist.

Kevin Annett, ehemaliger Geistlicher, interessiert sich dafür und kämpft seit fast 20 Jahren mit allen Mitteln für Gerechtigkeit. Er zahlt einen hohen Preis dafür. Er hat seine Familie und seinen Job verloren, erhielt Morddrohungen, wurde eingesperrt, doch er gibt nicht auf. Bewundernswert, welchen Mut dieser Mann besitzt. Das Tribunal für Verbrechen von Staat und Kirche – ITCCS, für das Annett arbeitet, untersucht Massengräber, die auf Geländen ehemaliger Residential Schools entdeckt wurden. Unzählige Kinderknochen wurden gefunden. Doch Verfahren werden schleppend eingeleitet, Dokumente verschwinden, Medien sind nicht daran interessiert.

Sowohl die Regierung als auch die Kirche distanzieren sich vehement gegen jede Anschuldigung eines Verbrechens und sind zu keinen Stellungnahmen bereit.

Die einzigen Entschuldigungen, die jemals eingeräumt wurden, waren 1998, als sich die kanadische Regierung formell bei den Natives für die Vorgehensweisen in der Vergangenheit entschuldigte. 2008 entschuldigte sich Premierminister Stephen Harper für die kulturellen Folgen des Schulsystems. Die Verbrechen gegen die Ureinwohner sind anerkannt worden, jedoch wurde der Versuch, eine ganze Kultur auszulöschen, nie verurteilt. Es wurde die Aboriginal Healing Foundation, eine indigene Heilungsstiftung gegründet. Jedes Opfer sollte eine Entschädigung bekommen. Seitens der Regierung gibt es Probleme, Dokumente zu finden, die den Schulbesuch in den Residential Schools bestätigen.

Bis 1961 waren Indianer keine Staatsbürger und hatten somit kein Wahlrecht.
Heute leben ungefähr 500.000 registrierte Indianer in Kanada, Inuit und Métis nicht mitgezählt, die an die 50 verschiedene Dialekte sprechen.
In den Reservaten sind die Bedingungen genau so schlecht wie in den USA. Die Menschen hausen in schäbigen Baracken, teilweise ohne Strom, Heizung und fließendes Wasser. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal und bringen Erkrankungen mit sich. Durch die Ausweglosigkeit flüchten sich viele in Drogen- und Alkoholsucht, um für einige Augenblicke ihre schlimme Lage zu vergessen. Im Drogen- und Alkoholrausch geschehen viele Unfälle und Gewalttaten, die Selbstmordrate ist an manchen Orten erschreckend hoch, auch unter Jugendlichen. Hilfsorganisationen versorgen die Menschen mit dem Nötigsten, doch das ist nur eine Erleichterung für den Moment. Was benötigt wird, ist eine gesunde Infrastruktur, um die Zukunft der Natives zu sichern. Doch das ist mit den finanziellen Mitteln, die sie erhalten, nicht möglich. Manche kritisieren, dass Indianer, die in der Politik tätig sind, sehr viel Geld verdienen, während ihr Volk dagegen hungert. Welcher weiße Politiker teilt sein Gehalt mit seinem Nachbarn, der hungert? Für eine langfristige Lösung hat die kanadische Regierung kein Konzept. Für die Allgemeinheit ist der Indianer ein faules, versoffenes Individuum, das herumlungert. In den Reservaten gibt es so gut wie keine Arbeitsmöglichkeit. Um in die Stadt zu gelangen und einen mies bezahlten Job zu erhalten, braucht man ein Auto. Um ein Auto zu bezahlen, braucht man einen Job, mit dem man Geld verdient. Fazit: Ohne Job – kein Geld, ohne Geld – kein Auto, ohne Auto – kein Job. Ein schlimmer Kreislauf.

Natürlich sind wie in allen Bevölkerungsgruppen auch Natives in höheren Positionen tätig, doch das ist die Minderheit. Eine reelle Chance erhalten sie in der Kunst- und Musikszene.

Die First Nations University of Canada in Sascatchewan ist die erste und einzige Universität der Indianer Nordamerikas. Es ist als Zeichen zu sehen, doch die Institution kämpft mit Budgetproblemen.

Der »edle Wilde« wurde durch Karl May und Hollywood verklärt, doch viele Weiße sind inzwischen bereit, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Vorwiegend Europäer leben für mehrere Monate in Reservaten und helfen bei sozialen Projekten. Einige von diesen Helfern lernen die Kultur der Natives kennen und schätzen und bleiben für immer dort. Weiße, die einen Native als Ehepartner haben, zollen Tribut. Wie ihre Partner stoßen sie auf Unverständnis und teilweise Anfeindungen.

So long Fellows

Eure Montana

Bild– und Textquellen:

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2 Antworten auf Westernkurier 12/2012