Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.7
Das Komplott der Eisernen – Teil 7
Mit dem leisen Klingeln von Glas fiel die Tür hinter Dorkas und seinen Begleitern zu. Die Geräusche drangen nur noch gedämpft von der Straße in den Raum. Dennoch war deutlich vernehmbar, dass ein Pärchen zu Gitarrenklängen ein Loblied auf den weisen Vater anstimmte.
Ein Duft von Räucherstäbchen machte die Luft schwer. Vorbei an einem Vorraum mit Sitzgelegenheiten wurde Dorkas in den größeren, geradezu saalartigen Hinterraum geführt.
An den Wänden hingen sehr schöne, handgemalte Plakate mit Sätzen wie Werde reif, nicht alt oder Wer Unmögliches will, bereitet dem Wunder das Nest. Mit Schuldbewusstsein registrierte Dorkas, dass er selbst diese Weisheiten zwischen zwei Schlückchen fallen gelassen hatte. Wenn man es sagte, klang es völlig anders, als wenn man es in Riesenbuchstaben an einer Wand sah. In diesem Moment sehnte sich Dorkas nach einem Gesprächspartner wie Tony Tanner, der ihm mit seiner Ironie und seiner Fähigkeit zu erfrischendem Sarkasmus all diesen Weisheitskram schon auf das rechte Maß reduziert haben würde.
»Bitte Vater, gebt uns Eure Zustimmung!«
Der Anblick war derart überraschend, dass sich nur ein Stöhnen aus Dorkas Kehle löste. Er stand sich selbst gegenüber. Genauer, einem stark vergrößerten Abbild seiner selbst, das vor der hinteren Wand aufragte und mit seinem Scheitel die Decke berührte. Irgendein geschickter Künstler hatte sich ganz offensichtlich an so etwas wie eine Buddhastatue herangemacht und sie zum Modell Dorkas umgebaut.
Da stand dieser nun und starrte sich an und schaute dabei weniger intelligent und weise aus als sein eigenes Abbild, das den Bauch wohlwollend in den Raum vorschob, die eine Hand auf den Schenkel platzierte und die andere zu einer Rhetorengeste erhob und dabei die etwas zu blau geratenen Augen auf die ferne und ihm doch sichtbare Erkenntnis gerichtet hielt. Dorkas weigerte sich zu glauben, dass ein derart debiles Lächeln jemals auf seinen Lippen gelegen hatte. Außerdem fand er die Formung seines Kinns allzu faltenreich, musste aber zugeben, dass er sich selbst noch nie aus dieser Froschperspektive bewundert hatte.
Dennoch, die Frage stellte sich ihm und er kam daran so wenig vorbei wie an einem finster blickenden Grenzbeamten: Sah er wirklich SO aus? Nicht, dass die Statue hässlich gewesen wäre, sie hatte sogar einen eindeutigen Reiz, wenn sie sich auch ein wenig übertrieben weise gab.
»Bin ich das wirklich?«, fragte Dorkas schüchtern. Es war keine wirkliche Frage an seine Begleiter. Es war vielmehr die laut geäußerte Verwunderung eines Menschen, der sich selbst zum ersten Mal in einem Spiegel sieht.
»Ja, so seid Ihr, Vater, es ist ein Abbild des ehrenwerten Äußeren und des verehrungswürdigen Inneren zugleich«, wurde ihm mehrstimmig versichert.
Dorkas schaute auf seine fünf Begleiter. Mit schmerzhafter Klarheit erkannte er die Wahrheit: Sie hielten ihm den Spiegel vor, so war es. Aber sie fingen im Spiegel ihrer Bewunderung ein Bild von Dorkas ein, das dieser selbst nicht sehen wollte. Sie zwangen ihn in den Rahmen ihrer eigenen Auffassung, sie waren ein begeistertes Publikum, aber die Ausmaße der Bühne und das Stück, das stattfand, legten sie fest.
»Ich danke euch«, murmelte Dorkas. »Ich sehe, dass ihr den Weg alleine gehen könnt.«
Damit wollte er gehen, aber sie stießen ein Jammern aus, umringten ihn mit zur Erde gesenkten Köpfen.
»Wir hofften, Eure Entscheidung sei nicht endgültig. Wir waren sicher, dieses Zeichen unserer Verehrung würde Euch umstimmen, Vater!«
«Nur der Körper nimmt Abschied, aber der Geist ist überall«, stammelte Dorkas und setzte sich vorsichtig in Richtung auf die Tür in Bewegung. »Kommunikation ist alles, jederzeit an jedem Ort. Unser Bewusstsein verschmilzt, auch wenn die Körper getrennt sind.«
Ein Blick über die Schulter zeigte Dorkas, dass sich Zuschauer vor der Tür drängten und hineinschauten. Ihre Nase klebten wie aufgeplatzte Feigen am Glas. Sie wirkten auf Dorkas wie eine Meute Hunde, bereit, ihn zu zerfetzen. Im Hintergrund stand jetzt der Übertragungswagen einer örtlichen Fernsehstation und eine Reporterin hielt einem Mädchen ein Mikrofon vor, während ein Kameramann ihre seelenvollen Blicke festhielt. Auch ein Polizeiwagen hatte sich in Position gebracht, die Uniformierten standen misstrauisch, die Arme verschränkt, neben den offenen Türen.
Dorkas zitterten die Knie. Dann straffte er sich und hob die Hände.
»Meine Kinder«, rief er volltönend zu seinen Begleitern im Raum. »Zum letzten Mal habe ich euch jetzt so genannt, denn ab nun werde ich euch meine Brüder nennen! Mag die Trennung schmerzen, so berauscht euch an diesem Schmerz und lehret die Unwissenden, tränkt sie mit dem Nektar eurer Weisheit, führet fort, was unter meinem bescheidenen Einfluss begann.«
Damit hatte Dorkas schon den halben Weg zur Tür geschafft. Aber mehr auch nicht, denn seine Begleiter huschten hinter ihm her und umringten ihn ein weiteres Mal.
»Lehre uns, Vater, gib uns Weisheit«, bettelten sie. Sie waren sanft wie Schneeflocken, demütig wie geprügelte Eheweiber und bedrängend wie die steigende Flut. Sie waren Wölfe, die jammerten, statt zu knurren, bettelten, statt zu beißen, schmeichelten, statt zu reißen, und die ihre Beute durch Hingabe und Sanftmut erlegten.
Dorkas scharrte nervös mit den Füßen. Dies hier war eine Form von Nötigung, die er in dieser Welt nicht für möglich gehalten hatte. Er räusperte sich, aber keine Weisheit wollte sich über seine Lippen wagen. Sein Kopf war leer. Er schaute auf die Rücken, die ihn umstanden, auf die demütig gebeugten Nacken, die bittend gefalteten Hände. Seine fünf Begleiter bildeten eine menschliche Betonbarriere, verfestigt durch Vertrauen und Überzeugung zu undurchdringlicher Festigkeit. Jeder Mafioso, der mit einem Betonklotz am Bein auf einem Schlepper zur tiefsten Hafenstelle tuckert, besaß mehr Freiheit in seiner Daseinsgestaltung als Dorkas in diesem Augenblick.
Dieses Bild, das sich sehr real vor seinem inneren Auge bildete, versetzte Dorkas zuerst in Panik und dann in Bereitschaft zu kreativer Höchstleistung auf dem Gebiet der Weisheit.
»Wenn du kein Fisch bist, so musst du über das Wasser laufen«, deklamierte er.
Ein Raunen ging durch seine Zuhörer oder eigentlich war es ein höflich unterdrückter Freudenjauchzer. Nach einer Sekunde des Zögerns richteten sie sich auf, griffen nach ihren Notizbüchern und kritzelten eifrig.
Dorkas schob sich milde lächelnd zwischen ihnen hindurch.
»Der Zwerg auf den Schultern des Riesen sieht weiter. Schneller, höher, weiter. Die Niederlage ist der Lehrmeister der Sieger. Das Glück ist eine Sahnetorte im Sommer, wer sie nicht isst, lässt sie verderben. Die Brücke fragt nicht nach dem Stand des Mondes. Singe dein Lied, aber beklage dich nicht, dass du keine Welle bist. Der Vogel singt, weil er nicht tanzen kann. Lerne die Regeln und breche sie. Handle wie immer und tue das Unerwartete. Sei klug und folge dem Narren. Das Lachen ist der Engel, den der Teufel am meisten fürchtet.«
Damit war Dorkas an der Tür angelangt und versuchte schüchtern, sie zu öffnen, aber sie war durch die wartende Menge blockiert.
»Suchet mich nicht, wo ihr mich nicht finden wollt«, rief Dorkas verzweifelt durch den Spalt und erntete begeisterten Beifall.
»Yo, Mann, suchen und finden!«
Unruhe breitete sich in der Menge aus. Gemurmel ertönte, das anschwoll, durch Rufe überstiegen wurde, Köpfe drehten sich zur Seite, man drängte sich aneinander und schließlich entstand eine Gasse, durch die sich Little energisch bis zur Tür vorschob.
Little öffnete die Tür und ließ Dorkas ins Freie. Hinter ihnen drängten sich die fünf Begleiter auf den Gehweg.
»Der Vater hat uns Brüder genannt. Wir sollen euch nun führen«, rief einer von ihnen. Ein überraschtes, teils zorniges, teils zustimmendes Geschrei brandete auf. Dorkas zog den Nacken ein und ließ ergeben, wie ein Tier im Streichelzoo die Berührungen der Umstehenden über sich ergehen.
Little hob den Arm und schob gleichzeitig Dorkas durch die Gasse, die sich wieder durch nachdrängende Zuschauer zu schließen drohte.
»Der Weise hat seine Entscheidung getroffen«, hob Little seine Stimme. »Seid einig im Suchen der Weisheit und streitet euch, wenn ihr sie gefunden habt, denn Streit ist die Mutter der … äähhmmm … Vorsicht. Sucht das Geheimnis, denn der Weg ist das Ziel und die Suche ist die Suche und das Geheimnis, das sich finden lässt, ist nicht das wahre Geheimnis. Jubelt zu dem, der suchet und misstraut dem, der gefunden hat. Und tschüss.«
Mit Schwung und einem polizeimäßigen Druck auf den Kopf wurde der weise Dorkas auf den Rücksitz eines Taxis praktiziert.
Bevor Little neben dem Fahrer Platz neben konnte, sah er sich mit einem Mikrofon konfrontiert.
»Wie findet der weise Mann diese Versammlung hier?«, kam die Frage aus dem rot geschminkten Mund der Reporterin geschossen. Little legte die Arme lässig über die Beifahrertür und bleckte die Zähne zu seinem charmantesten Haifischgrinsen, das sich noch etwas verbreiterte, als er die deutliche Rotfärbung im Gesicht seines Gegenüber registrierte.
»Der Meister ist zu Tränen gerührt«, versicherte Little. »Er liebt diese Stadt, er ist sicher, dass der Same, den er gelegt hat, auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Seine Jünger werden dieses wundervolle Land mit den Schätzen ihrer Weisheit bereichern.«
»Gibt es Bücher und Videos des Meisters?«
»Zurzeit noch nicht, aber ich bin sicher, dass einiges in Vorbereitung ist.«
»Wann wird der Meister wieder hier …«
»Verzeihen Sie«, unterbrach Little, »aber ich als persönlicher Sekretär des Meisters bin dafür verantwortlich, dass er rechtzeitig den Flughafen erreicht. Wenn Sie uns also entschuldigen wollen, bitte!«
Die Reporterin schmolz dahin, und so gelang es Little, sich in den Wagen zu setzen und die Tür zu schließen. Erst als das Taxi anrollte, erwachte bei ihr der professionelle Jagdtrieb des Medienschaffenden erneut. Sie lief neben dem Wagen her, verfolgt von dem Kameramann und hielt Little ihr Mikrofon durch das Fenster.
»Wohin werden Sie nun reisen?«
»Der Meister wird sich in sein privates Kloster am Fuße des Nanjaughaligri zurückziehen und in Entsagung und Meditation seine Energien zurückgewinnen, die er durch die Belehrung der Suchenden verloren hat.«
Die letzten Worte schrie Little winkend aus dem davonbrausenden Wagen.
***
Dorkas fühlte sich wie in einem Aufzug, der in jedem Moment zum Sturz aus dem vierzigsten Stock ansetzte und es sich in jeder Sekunde noch einmal überlegte. Bis zur endgültigen Entscheidung in der folgenden Sekunde.
Der Hubschrauber rüttelte und vibrierte. Vorn im Bug arbeitete brüllend ein schlecht gewarteter Sternmotor, direkt über ihnen klingelte und klapperte die Rotorführung und bemühte sich, die flappenden Drehflügel in die gewünschte Richtung zu bewegen.
Dorkas hatte sich mit angewinkelten Beinen in eine Ecke zwischen Bordwand und Mittelwand verzogen. Hier war die Gefahr, von dem heißen Getriebeöl getroffen zu werden, das ständig von der Decke geschleudert wurde, noch am geringsten.
Wenn er den Kopf hob, konnte er zu seiner rechten Seite durch ein provisorisches, zerkratztes und gelb angelaufenes Plexiglasfenster schauen. Dorkas sparte sich die Anstrengung. Draußen war nichts zu sehen als eine scheinbar endlose, sanft auf und ab schwingende grüne Fläche. Manchmal erhoben sich Baumwipfel über das Gleichmaß der anderen, manchmal hingen Nebelfetzen in dem hellen Grün, manchmal schnitt ein Fluss oder eine Piste in die gleichförmige Schicht des Waldes. Das war alles, seit Stunden und ohne Variationen.
Zu seiner Linken konnte Dorkas die Kisten erkennen, die in der Mitte des Frachtraumes standen. Little saß auf einer dieser Kisten, vermutlich war es die mit Sprengstoff, ließ die Beine baumeln und schaute scheinbar gleichmütig durch das Fenster auf der anderen Seite. Sein Oberkörper schwang hin und her, als eine Art Antwort auf den unruhigen Flug des Hubschraubers.
Hätte Dorkas das Bedürfnis gehabt, Steele zu sprechen, so hätte er eine kleine Leiter an der Mittelwand erklimmen müssen und wäre dann im niedrigen Cockpit oberhalb des Motorraumes gewesen, wo Steele, mit fast waagerecht ausgestreckten Beinen auf einem geflickten Segeltuchstuhl saß und versuchte, diesen fliegenden Dinosaurier irgendwie in der Luft zu halten.
Sein Fluggerät war eine Sikorsky S-55, die aus irgendeinem Grund seit einem halben Jahrhundert der fälligen Verschrottung entgangen war.
Dass sie Steele unter die Finger gekommen war, lag an einem Effekt, der auch hässliche Mädchen zu Ehefrauen macht – sie war die einzige vorhandene.
Seit Steele in Kolumbien eingetroffen war, hatte er sich mit einer besonderen Tatsache abfinden müssen. Das Land besaß einen doppelten Boden. Man konnte auch sagen, es besaß zwei Oberflächen. Wenn man die erste betrat, begegnete man ernsthaft um das Wohl des Landes besorgten Politikern, verantwortungsbewussten Unternehmern, einsichtigen Gewerkschaftern, engagierten Priestern. Zwischen dem Leben auf dieser Oberfläche Kolumbiens und dem Leben in einem europäischen Land bestanden keine fundamentalen Unterschiede, wenn man gewisse wirtschaftliche und politische Zugeständnisse an die Verhältnisse Mittelamerikas machte.
Aber es gab noch eine zweite Oberfläche. Dort standen schmutzige Kinder vor Wellblechhütten, die sich an andere Wellblechhütten lehnten, und durch die Tür dieser Unterkünfte schauten Frauen, selbst noch halbe Kinder, die das Jüngstgeborene auf dem schon wieder durch die nächste Schwangerschaft geblähten Bauch hielten. Auf dieser Oberfläche stank es nach Schmutz und Fäkalien und Hoffnungslosigkeit, und wenn man ein Stück weiterging, dann spiegelte sie sich im Marmorboden grandioser Villen, vor denen Legionen finsterer Kerle Wache hielten.
Natürlich war es diese Ebene, die für Steele von Interesse war. Nicht, weil er korrupte Politiker besonders mochte, die sich in Stretchlimousinen wöchentlich ihren Anteil am Geld und ihre Ration Frauenfrischfleisch abholten. Es war vielmehr Steeles Erfahrung, dass genau auf dieser Oberfläche die Entscheidungen fielen und die Dinge zu suchen waren, die ihn interessierten.
Er merkte sehr schnell, wie beschränkt seine Möglichkeiten waren. Es war, als bewegte er sich in einem dunklen Raum voller gespannter Mausefallen. Er durfte nicht eine Einzige auslösen, sonst klappten sie alle zusammen und er hatte einen Aufruhr produziert, der nicht in seinem Sinne sein konnte.
Das bedeutete aber auch, dass verschlossene Münder weder durch die Faust noch durch Dollars zu öffnen waren. Steele stand unter Zeitdruck. Als er in Kolumbien ankam, wusste er, dass ihm nur wenige Tage bis zum Eintreffen von Little und Dorkas bleiben würden. Er ging vorsichtig und unauffällig vor und glaubte sich dadurch sicher – aber er wurde sehr schnell eines Besseren belehrt. Es war genauer der Moment, an dem einige Handgranaten seinen Hotelraum in den putzunfreundlichen Zustand eines Jugendzimmers versetzte. Steele überlebte, weil er in der Mitte des Raumes stand und im letzten Moment durch die offene Tür in das Badezimmer hechtete, sich in die Wanne warf und sich klein machte, während die heranpfeifenden Splitter die Kacheln von der Wand schlugen und seine Deckung durchrüttelten. Es war für Steele eine Sache der Ehre, diesen Immobilienfrevel nicht ungesühnt zu lassen. Da er die Zündzeit des Handgranatentyps kannte und dazu nur noch einige Sekunden zurechnen musste, die er für Auftauchen aus einer trümmergefüllten Wanne benötigte, konnte er sich die ungefähre Position des Handgranatenspenders ungefähr ausmalen.
Da die Glasscheiben in seinem Zimmer geborsten waren, gelangte er schnell auf den Balkon, schwang sich von dort auf den darunterliegenden Vorsprung und konnte dann auf ein breites Vordach, das um die erste Etage lief, springen. Ab da war alles ein Kinderspiel. Er zertrat ein Fenster, setzte über ein Doppelbett mit zwei kreischenden nackten Damen bei unmoralischer Tätigkeit hinweg, öffnete die Tür per Fußtritt, weil es ihm praktischer erschien, und konnte auf dem Gang noch den hageren Mann sehen, der nun die Treppe hinunterhetzte.
Steele fügte der Zahl kolumbianischer Invaliden ein weiteres, sehr kunstvoll durchgearbeitetes Exemplar hinzu. Als er wieder auf dem Vordach war, fuhr ein Wagen mit quietschenden Reifen direkt vor dem Hotel los. Steele nahm das Wagendach unter Feuer, ein Berufsoptimist im Inneren löste einige Schüsse in seine Richtung, dann sah das Wagendach aus wie ein Molenpfeiler voller Seepocken und der Wagen krachte gegen eine Hauswand. Aus dem Kühler entwich mit schrillem Pfeifen heißer Dampf, dann explodierte der Tank.
Dies war die eine Variante und Steele sah sie mit aller Deutlichkeit vor sich. Er entschied sich für die andere Variante, grub sich unter den Fliesenstücken hervor, raffte einige Sachen zusammen und verschwand auf demselben Weg, den der Attentäter genommen hatte. Der Unterschied bestand darin, dass der Handgranatenmann den Vordereingang zur Flucht benutzte, während sich Steele in löblicher Bescheidenheit durch die Küche und den Lieferanteneingang verdrückte.
Keine drei Minuten nach der Explosion der ersten Granate war Steele unterwegs. Er beklagte den Verlust von Garderobe, aber die wirklich wichtigen Dinge – Geld, Waffe, Papiere und ein Foto seiner Familie, waren wie immer in Griffweite gewesen.
Auch wenn man mit ihm nicht freundlich umgegangen war, so war das Attentat in gewisser Weise hilfreich. Es zeigte Steele, dass er bei seinen Nachforschungen irgendjemandem vor das Schienbein getreten war, der erstens sensibel, zweitens mächtig und drittens skrupellos war. Aber welcher Liebhaber der lokalen Kulturtraditionen konnte so sauer reagieren, wenn ein Gringo vorsichtig nach relativ unbekannten archäologischen Ausgrabungsstätten fragte?
Die Antwort kam später, zu einem Zeitpunkt, an dem Steele schon wieder Little und Dorkas an der Backe kleben hatte. Von Little war er angenehm enttäuscht, der Yankee konnte einen bombastischen Charme entwickeln und kam auf diese Weise weiter als Steele, allerdings nur bei jenen Leuten, die sich den Luxus kultivierter Gespräche und Drinks auf der Terrasse leisten konnten.
Es kam zu einer Doppelstrategie – Little bediente die erste Oberfläche, ließ sich von der US-Botschaft Empfehlungen ausstellen, wickelte sexuell unterversorgte Diplomatengattinnen und -töchter um den kleinen Finger, sorgte auf Abendgesellschaften für Furore und saugte jede Information ein, die er in die Lauscher bekam.
Steele kümmerte sich um die zweite Oberfläche. Er gab Lastwagenfahrern ein Bier aus, trank an Tankstellen eine Cola, plauderte mit den Angestellten, sah sich auf den Plätzen um, auf denen morgens die Tagelöhner warteten, in der Hoffnung, sich mit einem 14-Stunden-Job ausbeuten zu lassen, um ihr Leben und das ihrer Familie einen weiteren Tag in eine graue Zukunft zu schieben. Als Steele diese Männer sah, war es, als hätte er bitteres Wasser getrunken. Er sah die Mischung aus Tapferkeit, Resignation, Zorn und Stumpfheit, die wie grauer Staub in den scharfen Falten ihrer Gesichter klebte. Er sah die schwieligen Hände, die sehnigen Körper, er sah junge Männer, die den Kopf noch nicht unter ihr Schicksal gebeugt hatten und alte Männer, die ihm unter ihrem versteinerten Äußeren wie zart gebaute Insekten erschienen, die jeder Windstoß zerschlagen kann.
Zwischen dem munteren Partylöwen Little und dem abgerissenen Journalisten eines trotzkistischen Gewerkschaftsblättchens, den Steele spielte, gab es keine Verbindung. Kein Außenstehender hätte geahnt, dass sich diese beiden Männer wie die zwei Teile einer Zange langsam annäherten und das Objekt ihrer Wissbegier vorsichtig in den Griff bekamen.
Dorkas spielte bei dieser Aktion keinerlei Rolle. Er war in dieser Umgebung hilflos wie ein Kind. Little hatte ihm ein Zimmer in einem der besseren Hotels besorgt, und dort fand er ihn immer in derselben Position – völlig angekleidet auf dem Bett liegend, mit beiden Händen sein Gepäck umklammernd und den Ausdruck eines Schwerkranken in den Augen, der den Arzt fragen will, wie lange er noch zu leben hat.
Tatsächlich lief ihnen die Zeit davon. Flinger konnte längst wieder auf und davon sein, in diesem Fall hätten sie auf dumme Weise Energie verpulvert – Geld spielte in ihren Überlegungen längst keine Rolle mehr. Nein, es ging jetzt nur noch die beiden wirklich wichtigen Faktoren der Weltgeschichte: Zeit und menschliche Energie.
Little und Steele hatten sich auf einen neutralen Treffpunkt geeinigt, ein Restaurant in der Nähe des Busbahnhofes. Es war weder zu schäbig noch zu anspruchsvoll. Wenn sich Little näherte, lockerte der die Krawatte und zupfte das Hemd aus der Hose, dann noch das Haar zerstrubbelt, die coole Sonnenbrille aus dem Gesicht – und schon war Little ein leicht schlampiger Anglistikdozent.
Bei Steele lief die Verwandlung anders ab. Er bog um eine Ecke, und plötzlich straffte sich seine Gestalt, die hängenden Schultern wurden breiter, der gebeugte Nacken gerade, der Gang federte und sein Blick bekam die ruhige Härte und kühle Offenheit, die Steeles Wesen entsprachen. Aus einem Denkmal der sozialen Anklage wandelte er sich in Sekunden in Gestalt voller leise knisternder Energie und lose angeleinter Angriffslust.
Little und Steele hatten ihre Treffen zu wechselnden Zeiten. Einerseits wollte Steele, dass sie kein festes, nachvollziehbares und darum im Voraus berechenbares Muster entwickelten, andererseits nutzten sie den Schichtbetrieb des Personals, um nicht als stets zusammenhockende Stammgäste aufzufallen. Das letzte Treffen war für die Abendstunden festgelegt, nachdem sie sich eine Weile nicht gesehen hatten.
Als Steele eintraf, waren die Neonröhren des Restaurants eingeschaltet und legten ihr kaltes, sympathieloses Licht auf die Gäste. Steele fühlte sich dabei immer an die Auslagen einer Fleischerei erinnert.
Er verzog sich auf seinen Lieblingsplatz. Von hier aus hatte er den Eingang im Blick und konnte unauffällig die Tür zu den Toiletten im Auge behalten. Zur Straße hin gab ihm eine große Topfpalme Deckung.
Little ließ auf sich warten. Erst als die Ankunft eines Fernbusses einen Schwall neuer Gäste in den Raum spülte, schwamm er in der Menge mit. Auf seinen fragenden Blick antwortete ein kaum sichtbares Kopfnicken von Steele. Die Luft war rein, es gab keine Person, die verdächtig wäre, ihn zu beschatten. Also spielte Little brav die Komödie, fragte Steele, ob der Platz am Tisch noch frei wäre, und setzte sich nach der einladenden Handbewegung des anderen. Er wartete tatsächlich, bis Steele seine Zustimmung gegeben hatte, denn es gab keinen Sinn, einem imaginären Beobachter etwas vorzuspielen, wenn man es nicht richtig machte. Man brauchte nicht nach dem Platz zu fragen, wenn man sich vor der Zustimmung auf den Stuhl setzte – so wie Little es beim ersten Mal gemacht hatte. Steele hatte ihm dafür freundlich, aber bestimmt eine erste Lektion in konspirativem Verhalten gegeben. Little lernte schnell. Er wusste, welchem Gegner er nicht vor das Visier laufen wollte.
Er bestellte, während Steele gelassen aber mit vermehrter Aufmerksamkeit die neuen Gäste musterte. Es gab nichts Ungewöhnliches, aber weit hinten in seinem Hirn, wo die Instinkte in ihren dunklen Käfigen auf- und absprangen, vernahm er ein leises Warnsignal. Steele konnte keine Bestätigung für seine innere Unruhe finden. Was da saß, war solider Mittelstand, kleine Geschäftsleute mit ihren Familien, kluge, freundliche Mitmenschen und Bewohner der oberen Oberfläche.
Nach einiger Zeit, beide kauten an ihrem Essen, fragte Steele nach dem Salzfass. Er bekam es und dazu eine Fotografie.
»Was soll das?«, fragte Steele, nachdem er das Foto betrachtet hatte. Es zeigte so etwas wie eine Feier in einem Büro – eine Komposition gut gelaunter Gringos in mehr oder weniger angeschwipstem Zustand, die der Kamera Grimassen schnitten. Ein oder zwei Frauen sahen ganz attraktiv aus, der Rest war Durchschnitt, die Männer ordnete Steele als gehobene Bürohengste ein, mithin der typische Akademiker.
»Hinter der echten Schulter der Blondine mit dem Riesenbusen, sehen Sie das?«
»Diese kleine Statue?«
»Genau die!«, bestätigte Little. »Die Aufnahme ist gerade mal zwei Monate alt. Eine Feier … irgendein Geburtstag eines Mitarbeiters des US-Kulturinstitutes hier. Die Feier fand im Büro des Leiters des Institutes statt. Ich habe das Foto übrigens geklaut und muss es wieder zurückbringen, sonst könnte es Ärger geben.«
»Was ist mit dieser Statue?«
»Sie ist ungewöhnlich«, lautete Littles schlichte Antwort.
»Die Blondine ist auch ungewöhnlich, bei diesen Titten müsste sie eigentlich ständig aufs Gesicht fallen. Oder trägt sie ein Gegengewicht am Hintern?«
Little verzog das Gesicht. »Die Brüste sind ganz in Ordnung, wenn auch ein wenig allzu hart. Je nach Lage der Dinge können einen diese Glocken verletzen, wenn sie dem Gegner ins Gesicht schwingen.«
Über das Foto hinweg warf Steele einen fragenden Blick. »Voller Körpereinsatz?«, erkundigte er sich trocken.
»Jeder tut, was er kann«, grinste Little zurück. »Irgendwie musste ich ja an das Foto kommen. Aber ich sag mal so, es fiel mir nicht besonders schwer, diese Last auf mich zu nehmen – nein, es war eine durchaus süße Last, ein bisschen quietschig, aber niedlich und bemüht.«
»Da bin ich aber beruhigt, dass Sie sich nicht allzu sehr aufopfern mussten«, knurrte Steele. Sein Finger schnippte gegen das Foto.
»Ich nehme an, diese kleine Figur, Ton ganz offensichtlich, stammt aus einer illegalen Ausgrabung.«
»Woher wissen Sie von diesen Ausgrabungen?«
»Weil es Leute gibt, die Tagelöhner dafür anheuern. Und zwar nicht für Tage, sondern wochenweise. Die Leute werden gut bezahlt, aber es gibt eine ganze Reihe, die von dem Ausflug nicht zurückkommen.«
»So ist es«, stimmte Little zu. »Es gibt so etwas wie eine Schattenarchäologie. Die Fundstücke verschwinden in dunklen Kanälen und landen dann bei einer bestimmten Sorte von Sammlern. Der Sorte, die sich beispielsweise einen Munch oder einen Rembrandt oder was weiß ich aus dem Museum klauen lassen, um ihn in ihrem Keller zu bewundern.«
»Flinger?«
»Mischt da irgendwie mit. Zwangsläufig, sonst könnte er seine Forschungen nicht durchführen. Ein Arzt hat mir erst vorgestern erzählt, dass er einem US-Bürger ein Medikament in den Dschungel transportieren ließ. Es deutet alles auf Flinger hin.«
»Wo?«
»Tja«, Little nahm einen Schluck Wasser und klimperte mit der Gabel auf dem Teller, »mit Verlaub gesagt eine Scheißgegend. Nennt sich Cienaga de Oro und liegt südlich von Medellin, so zwischen 150 und 200 Kilometer südlich. Der Witz ist, dass die Regierung keine Kontrolle über dieses Gebiet hat. Jedenfalls keine offizielle. Inoffiziell gibt es genügend Politiker, die mitmischen. Es gibt dort unten Kokafelder, Heroinküchen, Guerillas und die Truppen der Drogenbarone. Irgendwo knallt es immer. Ein Paradies für den engagierten Leser von Soldier of Fortune.«
»Fundstätten gibt es auch.«
»Die gibt es auch«, bestätigte Little. »Und zwar Pyramiden einer noch nicht offiziell identifizierten Kultur. Daher stammt diese Tonfigur. Ich habe das Foto vorhin Dorkas gezeigt. Lag übrigens immer noch mit Regenmantel auf dem Bett, der Gute. Er ist fast ausgeflippt, als er die Figur sah. Völlig unbekannte Kultur, wie er meint. Er zog Parallelen zu den steinzeitlichen Idolen im thrakischen Bereich, da soll es auch Göttinnen gegeben haben, deren Gesichter vogelähnlich waren. Das trifft ja auf das Foto zu. Aber dann hielt er sich die Aufnahme direkt vor die Nase, sie ist leider ein wenig grobkörnig, der Blitz hat auch nicht richtig funktioniert und Dorkas meinte, man solle die Ähnlichkeiten nicht überschätzen. Unsere Figur habe so etwas von einer Bienenkönigin – lang gezogene Augen und statt eines Schnabels so etwas wie einen Rüssel. Er sagte, dass er auf einem Foto von Tony Tanner eine Mumienmaske gesehen hat, die diesem Typus ähnlich sah, aber er konnte sich nicht genau erinnern.«
Steele lehnte sich zurück und warf einen Blick in die Runde. Das innere Alarmsignal war weiter deutlich vernehmbar, leise, aber schrill und störend. Eigentlich hätte Little etwas merken müssen, aber er war zu sehr mit seinen detektivischen Erfolgen beschäftigt. Jetzt zog er einen Zettel aus der Tasche und schob ihn über den Tisch.
»Das sind die Koordinaten, zu denen der Hubschrauber das Medikament bringen sollte. Angeblich ein Flusslauf mit breiten Kiesstränden in den Biegungen. So wie ich das aus den Partygesprächen mitbekommen habe, sollten dann die Pyramiden in unmittelbarer Nähe sein, ein verkehrsgünstig gelegener Kultort sozusagen«
»Und sicherlich auch eine ideale Strecke für Patrouillenboote und ein beliebter Landeplatz für Helikopter«, fügte Steele sarkastisch hinzu. »Wir dürfen mit jeder Menge Kurzweil rechnen …«
Noch bevor Little etwas sagte, hatte Steele das nervöse Aufblitzen in den Augen des Amerikaners registriert. Durch die großen Scheiben war nichts Außergewöhnliches zu bemerken, kein neuer Gast war eingetreten. Entweder Little hatte ein ungeheuer scharfes Gespür für Gefahr oder die Gegner waren von besonderer Klasse.
»Alles klar«, befahl Steele knapp. »Sie gehen sofort für kleine Jungs und ich werde mal sehen, wer uns was Gutes tun will.«
»Da stecke ich in der Falle«, wandte Little ein.
»Eben!«
Ohne ein weiters Wort warf Little einen Geldschein auf den Tisch und verschwand zu den Toiletten. Steele schürzte anerkennend die Lippen – bezahlen und ein sattes Trinkgeld geben, auch wenn es einem an den Kragen geht, das war mehr als sozial, das hatte Stil.
Also folgte er diesem positiven Beispiel und stand in dem Moment auf, als das Geräusch der Straße durch die geöffnete Tür lauter anschwoll. Aus den Augenwinkeln bemerkte Steele zwei Männer, die eintraten. Er selbst drehte ihnen den Rücken zu und machte sich ruhig auf denselben Weg, den Little eben gegangen war.
Das Risiko schätzte Steele eher gering ein. Wenn die beiden Männer es auf die laute Art angehen wollten, dann hätten sie jetzt schon mit Maschinenpistolen ohne Rücksicht auf Unbeteiligte gefeuert. Also war an diesem Abend Dezenz angesagt, und da kam es den freundlichen Ausknipsern gerade recht, dass sich Little und nun Steele in die intime Nachbarschaft von Pissoir und Kloschüssel begeben wollten.
Natürlich kannte Steele das Manövergelände. Der Gang machte einen Knick, führte geradeaus zu den Damentoiletten und über eine kleine Treppe hinab zu der entsprechenden Herrenabteilung. Nachdem er in aller Ruhe um die Ecke gebogen war, wollte Steele beschleunigen, sah sich aber jetzt einer Gruppe kichernder und nach einer Melange frisch aufgelegter Parfümvarianten duftender Damen gegenüber. Er musste sie erst vorbeilassen, verlor dabei wertvolle Sekunden, die schon längst die Treppe hinunter und durch die Tür der Herrentoilette geführt hätten.
So blieb ihm nur der Satz die Treppe hinunter. Unten kam Steele hart auf, prallte gegen die Tür, stieß sie auf und rollte sich auf dem nicht besonders sauberen Fliesenboden ab. Rechts waren zwei Waschbecken und drei Pissoirs, links die Toilettenkabinen.
»Little?«
»Hier hinten!«
»Kluger Junge«, knurrte Steele anerkennend.
Little hatte sich in die letzte Kabine der Reihe verzogen. Außer ihnen war niemand anwesend, eine Tatsache, die Steele nicht überraschte, denn er hatte das Publikum ja die ganze Zeit im Auge gehabt.
Durch das Rauschen eines Entlüfters waren Schritte auf der Treppe zu hören. Mit einem Fußtritt setzte Steele die Spülung eines Pissoirs in Betrieb und sprang dann in die nächste Kabine. Bevor er seine Tür schließen konnte, waren die beiden Männer im Raum. Sie hatten das Spülgeräusch gehört und feuerten zuerst in diese Richtung.
Steele bemühte sich nicht um besondere Raffinesse bei seiner Aktion. Er feuerte auf den Rücken des ersten Mannes und bevor der zweite den Lauf schwenken konnte, hatten ihn Steeles Plastikgeschosse erwischt, hoben ihn von den Beinen und warfen in gegen die Wand.
»Fertig, abputzen!«, sagte Steele und schleppte mit Little zusammen die beiden Männer in eine Kabine. Dann verließen sie das Restaurant.
Alles in allem, konnte Steele jetzt, wo er am Knüppel der Sikorsky saß, mit dem Ablauf der Ereignisse ganz zufrieden sein.
Fortsetzung folgt …