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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter – 8.5

Das Komplott der Eisernen – Teil 5

Während Little sich mühte, eine Warnung zu schreien und dabei nur ein trockenes Krächzen aus seiner Kehle drückte, das in seinen eigenen Ohren lächerlich klang, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Donnahue hielt sich mit der linken Hand am Turm fest, beugte sich weit nach vorn und streckte den rechten Arm ab. Von seiner Hand pendelte ein Fisch.

Unter dem erwartungsvollen Raunen der Zuschauer tauchte ein Orca ab. Sein schwarzer Rücken glitt in die Tiefe, schimmerte durch das klare Wasser. Die unruhigen, hastigen Wellen reflektierten die Sonne und warfen Reflexe auf das Tier, als wollten sie es in einem Netz goldener Lichtstreifen fangen. Mit einigen Schwanzschlägen beschleunigte das Tier, zog nach oben und durchbrach torpedogleich unterhalb des Turmes die Oberfläche. Der gewaltige Leib stand senkrecht in der Luft und stieg aufwärts. In der Sonne glitzernde Wassertröpfchen standen wie ein Funkenregen um das aufgerissene Maul.

Donnahue öffnete die Finger und ließ den Fisch fallen. Der Fisch verschwand im Rachen des Orca. Der Orca stieg noch immer.

Ein Kreischen kam von der Tribüne. Zuschauer spritzten in die Höhe. Es sah aus, als würde sich das bunt gescheckte Fell der Tribünenreihen sträuben.

Für einen Moment schienen der Mann und der Orca zu verschmelzen. Dann löste sich die Verbindung, das Tier stürzte und drehte sich im Fallen auf den Rücken. Der Orca spaltete die Wasseroberfläche wie ein Axthieb. Zu beiden Seiten, als würden ihm für einen Moment gewaltige Flügel wachsen, stiegen weiß gischtende Wogen auf. In das Weiß mischte sich ein schmutziger Rotton.

Donnahues dünner Schrei ging in dem Aufschrei der Menge und dem Rauschen des Wassers unter. Für einen Moment verharrte er in derselben Position. Dort, wo sein rechter Arm gewesen war, stand ein Blutstrahl. Drei- vier Mal pumpte sein Herz einen kräftigen Strahl aus der klaffenden Wunde. Jeder Strahl vollführte einen perfekten Bogen, als ginge es um eine Demonstration geometrischer Kurven und löste sich im Niedergehen in einzelne rote Flecken auf, die in der plötzlichen Stille auf das Wasser pladderten.

Donnahues Gesicht war eine Maske des Schmerzes und der Verständnislosigkeit. Drei dunkle Kreise, die aufgerissenen Augen und der stumm geöffnete Mund, standen im weißen Oval seines Gesichtes. Wie in Zeitlupe kippte Donnahue nach vorn, seine linke Hand verlor den Halt, kopfüber stürzte er abwärts. Er prallte mit dem Rücken auf das Wasser, machte keine Bewegung mehr. Ein Wirbel drehte ihn, aus seiner aufgerissenen Schulter quoll Blut und zeichnete eine verwaschene Linie ins Wasser. Filzstift auf nassem Papier, fuhr es Little durch den Kopf.

Unter dem treibenden Donnahue brach die Wasseroberfläche, ein mit kegelförmigen Zähnen bewehrtes Maul schoss unter ihm hervor, packte ihn, schloss sich und schleuderte die Reste des Körpers in die Luft.

Die Zeit reichte nicht aus, um zwischen diesen wirbelnden Überresten und dem Bild eines unversehrten menschlichen Körpers eine Verbindung zu ziehen. Aus einem Krater brodelnder Gischt stemmte sich ein schwarz-weißer Leib hoch und verschlang das taumelnde, blutspritzende Etwas.

 

Das Wasser in dem großen Becken begann zu kochen. Die vier Orcas schienen von Tobsucht erfasst, sie jagten mit wuchtigen, das Wasser zu Spritzern zerschlagenden Schwanzschlägen dahin, tauchten unter, wendeten und fuhren fort, ihre Bahnen kreuz und quer zu ziehen. Sie rammten sich gegenseitig, rutschen übereinander hinweg, prallten gegen den Beckenrand und rissen ihre Mäuler gegen die Zuschauer auf. Die Tiere waren entfesselt, sie verhöhnten ihr enges Gefängnis, sie verspotteten jeden menschliche Versuch, sie zu Kunststückchen zu treiben. Ihre animalische Kraft brachte das Wasser zum Brodeln.

Auf der Tribüne brach Panik aus. Die Zuschauer der ersten Reihen rannten geduckt zur Seite, während immer wieder Gischt auf sie niederbrach, ein feiner Tropfenregen niederschäumte, hochgeschleudert von den wildgewordenen Orcas.

Aus den oberen Reihen drängten die Menschen zur Treppe. Sie verkeilten sich, stolperten, stürzten, rissen andere mit sich, gerieten unter die Füße der Nachdrängenden. Es kam zu Schlägereien, hilflosen Kämpfen, bei denen sich die Kontrahenten nicht einmal wahrnahmen, sondern nur auf den anonymen Körper eindroschen, der ihnen, ihrer Frau, ihrem Kind den Weg in die Sicherheit versperrte.

 

Littles Kopf schien zu platzen. Wie aus einem defekten Radio knatterten Misstöne in sein Bewusstsein, Splitter von Hilferufen, abgerissene Schreie, aufflackernde Bilder von Angst, zusammengesetzt aus plötzlich quellenden Albträumen der Kinderzeit.

Obwohl er sich dabei nicht wohlfühlte, schloss Little die Augen. Er versuchte, die auf ihn eindrängenden Impulse, diese Kakophonie verstimmter Seeleninstrumente zu ordnen, sich von dieser Flut freizumachen und sie gleichzeitig nach seinem Willen zu gestalten. Er legte die Fingerspitzen an die Schläfen und wurde sich selbst erschrocken bewusst, wie heftig der Puls durch die geschwollenen Adern jagte. Aber als er aufblickte, sah er gegenüber auf der Tribüne einige Männer, die sich der Panik entgegenstemmten, indem sie die Leute einfach auf ihre Plätze zurückdrückten und beruhigend auf sie einsprachen.

Ein Blick auf das Becken zeigte weiß brodelndes Wasser, von den schwarzen Finnen der Orcas gefurcht. Jetzt erst entdeckte Little die Trainerin. Sie schwamm mit aller Kraft zum Beckenrand, hatte ihn fast erreicht, als ein Orca sich unter sie schob und sie hochhob. Die Rückenflosse fuhr unter den Oberleib der Frau, hob sie aus dem Wasser und warf sie nach hinten. Bevor sie sich orientieren konnte, wurde sie in die Luft geschleudert. Sie tauchte unter, wollte anscheinend unter Wasser weiterschwimmen, dann brach ihr blonder Kopf wieder durch die Oberfläche.

 

In ihrer Panik verlor sie die Orientierung und wählte den weitesten Weg zum Rand.

»Hier hin«, brüllte Little. »Hier herüber!!!«

Sie hörte seine Stimme und wandte den Kopf. Ein Hoffnungsschimmer trat in ihre hellblauen Augen. In diesem fürchterlichen Chaos war wenigstens einer, der ihr die Richtung zeigte. Sie warf sich herum und begann mit kräftigen Zügen auf Little zuzuhalten. Wenn sie mit dem Kopf unter Wasser war, dröhnte es in ihren Ohren von den grellen, ärgerlichen Signalen, die die Orcas ausspien und dem Rauschen ihrer Flossen. In diesem Rauschen war so ungeheuer viel Kraft, dass es betäubend und entmutigend wirkte. Wenn sie mit dem Kopf aus dem Wasser kam, sah sie den Mann, der ihr zuwinkte, und hörte seine Stimme, die ihr Schneller, nur noch ein paar Meter zurief.

Es war eine kurze Strecke, eine Kleinigkeit für eine geübte Schwimmerin. Aber hinter der blonden Trainerin wölbte sich das Wasser, stand wie festes Glas über einem schwarzen Rücken, aus dem eine Finne in die Höhe stach.

Die Gesichtszüge der Frau lösten sich auf. Ihre Bewegung stoppte abrupt, die Verkniffenheit äußerster Anstrengung schwand, für einen Moment sah sie wunderschön aus, dann verschwanden ihre Beine unter schwarz glänzender Fischhaut, und ihr Gesicht verlor sich in die archaische Maske einer schmerzgepeinigten Todgeweihten.

Der erste Orca riss sie in zwei Stücke, der Torso war noch an der Oberfläche, als das zweite gierige Maul seine Zähne hineinschlug.

 

Obwohl er die Szene beobachtete, blendete Little jede Empfindung aus. Seine Zunge lag wie ein Stück bittere Wurzel in seinem Mund, aber er wusste, dass er dem Schrecken keinen Eingang gewähren durfte, sonst war er verloren, sonst würde er sich wieder, vollgepumpt mit Psychopharmaka in einer geschlossenen Anstalt wiederfinden.

Die seelische Anstrengung ließ seinen Körper zittern, aber Little blieb ungerührt und kalt wie Eis. Nur das erkärte, warum er überlebte. Denn er bemerkte, dass sich von der anderen Seite ein Schwall in seine Richtung bewegte. Das Wasser gurgelte, sprudelte, die Energie des anschwimmenden Orcas riss Strudel aus den Wellen.

Für eine Sekunde noch konnte Little den dunkelhäutigen Mann sehen, der ihm einen Blick zuwarf, bevor er sich gelassen entfernte. Little wandte sich um und zwang seine bebenden Beine zu schnellen Schritten.

Hinter ihm rauschten Wellen. Der Orca schoss aus dem Wasser und warf sich auf den niedrigen Beckenrand. Sein Schwung trieb ihn vorwärts, in den Gang, durch den Little und Donnahue gekommen waren und durch den Little nun floh. Für das Tier war es nichts als eine Abwandlung einer instinktiven Jagdmethode, mit der es sich auf dem Strand warf und eine Robbe, die sich in der Sonne aalte, überraschte.

Little spürte den Luftzug im Nacken, den Geruch, den der heranglitschende Killerwal vor sich herschob. Er glaubte, ein kehliges Röcheln zu hören, direkt hinter sich, dann traf ein heftiger Stoß seinen Rücken und es wurde schwarz um ihn.

***

Dorkas war zu müde, um sich zu wehren. Er ließ alles mit sich geschehen, versank in einer Schwärze, die seltsamerweise nach Räucherstäbchen roch.

»Der Meister muss aufstehen und tanzen«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. »Mit dem Griff kann der Meister die Lider des Drachen bewegen.«

Das musste eine Täuschung sein, eine Vision.

Dorkas ließ sich dadurch nicht beeinflussen. Er verharrte reglos in seiner sitzenden Position. Eine Hand klopfte auffordernd auf seine Schulter und die bekannte Stimme, die er nun einem seiner Begleiter zuordnen konnte, zischelte drängend in sein Ohr.

»Bitte verehrter Meister, es ist von größter Wichtigkeit, dass der Meister dem Drachen Leben verleiht! Leider konnten wir auf die Schnelle keinen schöneren Drachen organisieren, wenn sich der Meister bitte mit diesem unserem verachtungswürdigen Objekt zufriedengeben können würde!«

Eine Kette von Assoziationen bildete sich in Dorkas’ Kopf: Chinesen – Hochzeit – Drachen – Drachentanz. Das Bild eines kanariengelben, etwas kitschigen Glücksdrachens, der sich mit neckischem Augenplinkern durch eine Straße wand, kam ihm in den Sinn. Irgendwo hatte er es gesehen, im Fernsehen oder vielleicht als Fotografie.

 

Mühsam raffte sich Dorkas auf, von rückwärts wurde ihm Hilfe zuteil, sonst hätte er seine Erschöpfung nicht überwinden können. Jetzt, wo er stand, kam von unten auch etwas Licht und er konnte sich zurechtfinden. Hinter ihm standen drei seiner Begleiter und derjenige, der ihm am nächsten war, setzte Dorkas ein Gestell auf die Schultern, das den Kopf des Drachen trug. Die anderen waren von einer Art Stoffwurst bedeckt, durch die gelbe Helligkeit schimmerte. Sie stellten den Rumpf des Glücksdrachens dar.

Dorkas zog versuchsweise an einem Seil zur Rechten. Sofort klappten vor ihm zwei große Augen auf. Sie standen zu weit auseinander, um beide gleichzeitig als Auslug zu nutzen, aber das eine war direkt vor Dorkas, sodass er plötzlich auf eine Mauer ihm erwartungsvoll zugewandter asiatischer Gesichter schaute. Vor Schreck ließ er das Seil fahren und die Drachenaugen schlossen sich wieder.

»Sehr schön, der Meister hat das Prinzip sofort erkannt. Jetzt bitte den Kopf schütteln, Augen öffnen und schließen und bitte tanzen. Damit kommen wir durch die Menschenmenge und können auf der anderen Seite in einem Haus verschwinden.«

Dorkas hörte die geflüsterte Anweisung von hinten und nickte mit dem Kopf, auch wenn ihn sofort der Verdacht befiel, dass dieses Kopfnicken gar nicht gefragt gewesen war. Er zog am Seil und sah, dass sich die Menschen zur Seite schoben und eine Gasse bildeten. Es erschien ihm als unglaubliches Phänomen, dass sich eine kompakt stehende Menge noch derart komprimieren konnte.

»Tanzen, Meister, bitte tanzen! Sonst ist die Tarnung wertlos«, kam es von hinten. Der drängende hatte nun einem flehenden Unterton Platz gemacht.

Zögernd hob Dorkas ein Bein, kam fast aus dem Gleichgewicht und setzte es schleunigst wieder auf den Boden. Um nicht umzufallen, musste er nun einen Schritt mit dem anderen Bein vollführen. Eine plötzlich aufblitzende Vision peinigte Dorkas’ Geist. Er sah den Original-Dorkas auf einer Bühne, gekleidet in ein kurzes Wams und in eine eng anliegende Strumpfhose, wie sie beim Ballett genutzt wird. Seine Oberschenkel erinnerten verzweifelt an original Parmaschinken in der Räucherkammer, sofern diese Delikatessen in helle Strumpfhosen gehüllt würden.

 

Den Begriff Tanz kannte Dokas sehr wohl, und er hätte sicherlich einen halbstündigen Stegreifvortrag über archaische Ritualtänze, Tempeltänze in Kambodscha, dem indianischen Sonnentanz und den Zusammenhang zwischen antik-griechischen Reigentänzen und den Mysterienkulten halten können. Indes mangelte es ihm an der praktischen Erfahrung solcher Bewegungsabläufe, will heißen, Dorkas beschränkte seine Bewegungskultur seit seinem dritten Lebensjahr darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen ohne umzufallen und im Notfall sogar unter Zuhilfenahme eines Geländers eine Treppe herauf- oder herunterzusteigen. Ein oder zwei Leitern gehörten auch zu seiner Bewegungsbiographie, aber die hatte er eigentlich schon längst wieder verdrängt.

So befand er sich nun in einer argen Zwickmühle, denn er konnte nicht tanzen und wollte dennoch, da ihm die Argumente seiner Helfer einsichtig schienen, seinen Anteil am Gelingen des Planes Flucht durch den Drachentanz beitragen.

Das Ergebnis war ein weiteres Fußanheben, das auf die Betrachter zugleich elefantenhaft-zeremoniös und pomadig-unengagiert wirkte. Ein unzufriedenes Gemurmel stieg über den Häuptern der Zuschauerschaft auf.

»Bitte, Meister!«, kam es flehentlich von hinten. Die drei im Heck begannen ihrerseits zu springen, was aber den negativen Eindruck nur verstärkte, weil der Drache nun von schweren Koliken geschüttelt zu werden schien.

In beginnender Verzweiflung begann Dorkas den Kopf des Drachen zu bewegen, der glücklicherweise nicht allzu schwer war. Dazu klapperte er mit den Drachenaugen und war froh, wenn das zuschlagende Lid ihm den Blick auf die allzu offensichtlich unzufriedenen Betrachter seiner Vorstellung verstellte. In einem Anfall von Mut hob Dorkas ein Bein und wagte mit dem anderen einen Hüpfer, nur um diese Aktion mangels Kraft sofort wieder abzubrechen.

»Der Meister tanzt schlecht«, bemängelte draußen einer der beiden restlichen Helfer.

»Der Meister hält es für unter seiner Würde zu tanzen, solange es kein Feuerwerk gibt,« korrigierte der andere.

»Richtig, es war unser Fehler. Der Meister braucht ein Feuerwerk.«

Damit flitzten sie um die Ecke.

 

Dorkas hatte sich unterdessen an irgendwelche Satzfragmente wie Links, zwo, drei, vier oder Rechts, links, Mitte, chachacha erinnert, und versuchte sie verbissen und vergeblich in Bewegung umzusetzen.

Ein plötzlicher Blitz ließ ihn quiekend in die Höhe springen, den Knall erlebte er schwebend, während der Drache den Kopf majestätisch schüttelte und zugleich mit den Augen klimperte.

Ein erfreuter Aufschrei drang von den Zuschauern in seine gepeinigten Gehörgänge.

»Das war verehrungswürdig, oh guter Meister«, kam es von hinten, durch den nächsten Knall, der Dorkas zu seinem nächsten Hüpfer antrieb, fast verschluckt.

Die Zuschauer beklatschten begeistert den Tanz des Glücksdrachen, dessen Qualität in der Geschichte von Chinatown seit Generationen unerreicht war. Gefolgt von seinem sich heiter bewegenden Rumpf vollführte der Drachenkopf akrobatische Schrittfolgen bisher unbekannter Qualität, hüpfte jubilierend, sprang freudebringend, wedelte glücksbeschwörend mit den Beinen, wackelte majestätisch mit dem würdigen Haupt und klimperte betörend mit den Wimpern.

Begleitet wurde der Auftritt von zwei jungen Menschen, die ihren Mangel an Lebensjahren durch Hingabe und würdigen Eifer auszugleichen wussten. Sie warfen unverdrossen Feuerwerkskörper zwischen die Beine des Drachen und inspirierten ihn zu schöneren und glücksverheißenderen Sprüngen. Ihr Beispiel wirkte anregend auf andere Knaben und Jugendliche. Der Drache tanzte auf verehrungswürdige Weise zwischen den Blitzen der Knallkörper und schien auf einer Wolke von Pulverdampf zu schweben, ja, er ließ sogar immer wieder ein brüllendes Husten von wahrhaft grauslicher und drachenäßiger Heiserkeit hören. Es wurde ein denkwürdiges Fest, und alle jubelten dem Glücksdrachen zu. Das Brautpaar strahlte vor Glück und wagte sogar, sich öffentlich an den Händen zu halten. Ein Weiteres geschah.

 

Der Drache drehte sich auf der Straßenkreuzung im Kreis und seine Augen blinkten einen würdigen älteren Chinesen an, der sich daraufhin in eine beschleunigte, jedoch würdevolle Gangart versetzte. Da die jugendlich-würdevollen Feuerwerksbereitsteller ihr Werk unterbrechen mussten, um den Herrn nicht zu belästigen, setzte der Glücksdrache zu einem schnellen Lauf an und jagte ihn vor sich her, wo er atemlos vor dem Brautpaar stehen blieb, während der Drache hinter ihm den Kopf schüttelte und seine Mähne warf und, inspiriert von den wieder platzenden Knallkörpern, hochsprang und in einer Seitengasse davontanzte.

Der würdige alte Chinese jedoch hob grüßend vor dem Brautpaar die Hände und sprach: »Wie klug und weise war der Glücksdrache, dass er mich zu euch trieb. Er wusste es besser als ich starrköpfiger Mann, dass ihr füreinander geschaffen seid, meine lieben Kinder. Nehmt meinen Segen. Über das Finanzielle reden wir morgen!«

 

Hinter einem Hoftor wurde Dorkas, kurz vor dem Koma stehend, aus dem Drachenkopf gepellt. Er fiel nach hinten und wäre auf dem Boden gelandet, hätte ihn nicht ein vorsorglich bereitgestellter Sessel sorgend umfangen.

»Der Tanz ist ein inneres Feuerwerk« sprach Dorkas mit heiserer Stimme, und seine Begleiter jubelten ob dieser geoffenbarten Weisheit und notierten sie in drei Versionen in ihre Notizbücher. Der Rest des Satzes hätte gelautet: Darum brennen die Fuss-Sohlen wie die Hölle, aber Dorkas behielt ihn aus Gründen des Taktgefühls für sich.

Er wurde mit grünem Tee bewirtet und kam langsam wieder zu Atem. Dann leitete man ihn über Hinterhöfe und menschenleere Durchschlüpfe zwischen den Häusern zu einer kaum belebten Gasse.

»Dort hinten ist der Antiquitätenladen meines verehrungswürdigen Onkels, der dem Meister auch ein Taxi organisieren kann, weil sein bescheidener Laden direkt an der Grenze von Chinatown liegt«, wurde Dorkas mitgeteilt. Er bekam die besten Wünsche, viele Ermahnungen zu seiner Sicherheit und verriet in seiner Verwirrung auch noch das Hotel, in dem er und Little logierten, sodass sich seine Begleiter, voller höflichster Dankbarkeit, zu einem Besuch ankündigten.

Dann schritt Dorkas – sagen wir, wie es ist: Dann latschte Dorkas mit brennenden Füßen zum Ende der Gasse, wo neben einer Ziegelmauer ein kunstvoll gemaltes Schild die Existenz von Li Ming Pans Antiquitäten bekundete. Es gab kein Schaufenster, sondern nur eine schmale, niedrige Tür, durch die sich Dorkas hindurchdrückte, um sodann in einem recht großen, von Gegenständen jedoch überfüllten und daher eng wirkenden Raum zu stehen. Was zu klein war, um auf dem Boden gestellt zu werden, sammelte sich in Körben, Schalen oder als Einzelstücke auf Tischen.

 

Als sich Dorkas an das dämmrige Licht gewöhnt hatte, begann er voller Neugier und Entdeckerfreude in der Auslage zu stöbern. Eine Bewegung jagte ihm einen heillosen Schrecken ein. Zwischen den lebensgroßen Holzstatuen konfuzianischer Heiliger hatte sich etwas bewegt. Nachdem er allen Mut gesammelt hatte, drehte Dorkas vorsichtig den Kopf und erkannte, dass dort der Ladeninhaber oder ein Verkäufer stand. Er hatte sich die gesamte Zeit so wenig gerührt wie die Statuen, nun hatte ihn die Belästigung durch eine Fliege aus seiner Erstarrung gezwungen.

»Haben der Herr einen speziellen Wunsch«, kam nun die Frage mit einer hellen Stimme und einem Akzent, in dem Dorkas eine Spur Cambridge zu erahnen glaubte.

Dorkas dankte der Nachfrage, verneinte und wandte sich wieder dem Angebot zu. Leider stellte er bald fest, dass es für ihn nichts gab, was irgendwie interessant sein könnte. Das hier war geschaffen für Leute, die ihr Heim schmücken oder sich selbst etwas Hübsches gönnen wollten, ohne dabei exorbitante Summen zur Verfügung zu haben.

Dorkas räusperte sich und lockte damit den Chinesen näher. Der entpuppte sich als zierlicher alter Mann in Hemd und Hose, die so geschnitten waren, dass unklar blieb, ob sie traditionell chinesische oder modern westliche Kleidung darstellten. Vor seinem faltigen Gesicht saß eine runde Nickelbrille auf der Stupsnase und gab einem Paar Augen voller Klugheit und Spottlust optische Unterstützung.

»Gibt es für den verehrten Kunden einen Anlass zum Unmut?«, fragte der Mann und Dorkas war sich nun unsicher, ob diese Demut gespielt war oder die Spottlust. An einem Finger trug der Mann einen grünen Ring. Obwohl er sich nicht sicher war, glaubte Dorkas, so einen ähnlichen schon einmal gesehen zu haben. Er konnte aber nicht sagen, wo und bei wem.

Unzufrieden nahm er zwei fast identische kleine Ebenholzstatuen in die Hand. Es handelte sich um exquisite Schnitzkunst von großer Schönheit.

»Leider muss ich feststellen«, monierte Dorkas, »dass diese beiden Statuen hier unten an derselben Stelle einen kleinen, jedoch deutlich sichtbaren Schlitz haben. Ich vermute, dies ist der Ansatzpunkt der Haltevorrichtung gewesen, mit der die Rohform in eine Maschine eingespannt wurde. Fernerhin stelle ich fest, dass beide Statuen zwar deutlich individuelle Züge haben, dass jedoch bei näherer Betrachtung lediglich eine identische Ausgangssituation mittels einiger Manipulationen derart verändert wurde, dass sich der Eindruck eines individuell gefertigten Artefaktes einstellt.«

Dorkas holte tief Luft und schaute den Chinesen vorwurfsvoll an. Dann erinnerte er sich der beiden Statuen in seinen Händen und stellte sie weg, als seien sie glühend. Der Chinese verbeugte sich. »Der Herr hat den Blick eines wahren Kenners. Solche Kunden sind selten, sie sind eine Ehre für den bescheidenen Laden, den zu besitzen ich das unverdiente Vergnügen habe. Kann mir der Herr dann sagen, was er sucht?«

Genau das konnte Dorkas natürlich nicht. Er druckste herum, durch das ihm zuteilgewordene Lob unter Druck gesetzt. Endlich brachte er heraus, dass er nach besonderen Sachen suchte, die aber erst dann, wenn er sie in den Händen hielt, zeigen würden, ob sie Wert für ihn besaßen oder nicht. Für ihn selbst war seine Aussage nicht besonders einleuchtend, aber zu Dorkas’ Erstaunen nickte der Chinese, als ob er nur darauf gewartet hätte.

»Es ist mir eine Ehre, den werten Herrn in mein Kabinett der Freunde zu führen«, erklärte er und deutete zugleich die Richtung an. »Dort stelle ich jene Waren aus, die nur für Kunden von besonderer Kennerschaft von Interesse sind. Bitte mir zu folgen.«

 

Dorkas schlurfte hinter dem Chinesen her. Der steckte zuerst den Kopf durch eine Seitentür und rief etwas auf Chinesisch. Dann drückte er eine Kassette der hölzernen Wandverkleidung ein wenig zurück und ließ sie auf einer Schiene zur Seite gleiten. Nun wurde eine schmale Treppe sichtbar, die steil nach oben führte.

Die Ausmaße erinnerten Dorkas in unerfreulicher Weise auf die Treppe, die er bei seiner Begegnung mit Sarah Hamilton bezwingen musste. Er war sicher, dass seine Körpermaße sich seitdem nicht zum Vorteil für solches Extrem-Treppensteigen entwickelt hatten. Vielleicht wollte der Chinese ja bloß irgendeine Ware in diesen unteren Raum holen? Die Hoffnung platzte wie eine Seifenblase.

»Hier hinauf, wenn ich den Herrn bitten darf!«

***

Ein Röcheln und Husten drang in Littles Ohr. Weil zwischen dem Klang in seinem Ohr und schmerzhaften Zuckungen in seiner Brust ein zeitlicher Zusammenhang erkennbar war, vermutete Little schließlich einen kausalen Zusammenhang. Er vollzog diese Überlegungen in einer Art Halbschlaf, in dem sich seine Gedanken mühelos zu komplizierten Knoten verbanden, um im nächsten Moment in verschiedene Richtungen davonzuflattern.

Mit lautem Husten befreite sich Little von einem Schleimpropfen im Hals, und nun registrierte er Licht, das durch seine halb offenen Lider drang. Er schlug die Augen auf.

Vom Showbecken klangen noch immer laute Rufe. Irgendwo heulte eine Sirene. Die Hektik nebenan bildete einen scharfen Gegensatz zu der Verlassenheit von Littles unmittelbarer Umgebung.

Schlagartig verstand er, was geschehen war. Der Orca hatte versucht ihn zu erwischen und ihm dabei einen heftigen Stoß versetzt, der Little im hohen Bogen in das nächste Becken schleuderte. Dadurch wurde er vor schweren Knochenbrüchen bewahrt. Er hatte gleichzeitig das Bewusstsein verloren. Die Überlebensquote von Bewusstlosen, wenn sie im Wasser versinken, schätzte Little gering ein. Er aber war davor bewahrt worden, weil ihn etwas an die Oberfläche hob und dort trug, bis er wieder erwachte. Die Delfine hatten ihn vor dem Ertrinken bewahrt.

Neben ihm rauschte das Wasser und er vernahm aufgeregtes Schnattern. Sachte bewegte sich der Rücken, der sich unter Little geschoben hatte, zum Beckenrand. Ein kleiner Stups half Little zurück auf den festen Boden. Er richtete sich auf und wartete ein wenig, bis sich die Wasserströme aus seiner Kleidung zu Tropfen verdünnt hatten.

Die Delfine steckten die Köpfe aus dem Wasser und schauten ihn an. Wenn er versuchte, ihr Verhalten in menschliche Kategorien zu übersetzen, dann fand er darin Hoffnung und Aufforderung.

Little schaute sich um. Noch immer war keine Menschenseele zu sehen. Alles konzentrierte sich auf das große Becken und die Opfer, die es bei der Tribünenpanik gegeben haben musste.

Little grinste die Delfine an.

»Alles klar, Jungs, dann schaun wir doch mal.« Die sanften Augen der kleinen Wale blickten ihn abwartend und freundlich an.

 

Die Tür zu dem nächsten Gebäude war nur angelehnt. Little betrat einen hellen, gekachelten Gang. Es war die penible Sauberkeit von Operationssälen und liebevoll gepflegten Gaskammern. Ein Geruch nach Fisch lag in der Luft. In einem Nebenraum lagerten Futtersäcke neben einigen brummenden Tiefkühltruhen.

Für einen Moment zögerte Little. Wenn hier lediglich Futter für die Tiere gelagert wurde, dann war er am falschen Platz. Er entschloss sich, noch weiter vorzudringen. Eine Treppe führte nach oben, er konnte einen Eisenschrank erkennen, auf den die Aufkleber verschiedener Baseballmannschaften geklebt waren. Also waren dort oben die Umkleideräume.

Er wollte umkehren, berührte in der Drehung die Wand und verspürte eine leichte Vibration. Maschinen – das war es, was er brauchte.

Am Ende des Ganges war eine zweiflügelige Stahltür. Little stieß sie auf und stand in einem Maschinensaal. Unter ihren grünen Eisenhüllen summten die Aggregate im tiefer gelegenen Hauptteil. Es wirkte, als hätte sich auch hier das Prinzip des Beckens durchgesetzt. Von der Tür aus konnte man auf einem breiten Gang einmal um den ganzen Saal gehen. Einige Eisenleitern führten nach unten.

Aber Little wandte sich den Kontrollpulten zu, die an der Wand in der Nähe standen. Als er die schematische Karte des Geländes erkannte, auf der Becken, Kanäle, Schleusen dargestellt waren, setzte er sich. Es war für Little recht leicht, sich zu orientieren. Das größte Becken diente ihm als Ausgangspunkt, von dort aus suchte er sich den Weg, den er freimachen musste.

Trotzdem blieb die Unzahl von Schaltern und Signallichtern für Little ein Rätsel. Er konnte nicht ausprobieren, alles musste auf Anhieb richtiggestellt sein. Little stemmte die Ellbogen auf das Pult und schloss die Augen. Er lauschte und suchte, aber es war fast so, als müsste er in einem Konfettiregen ein Stück Papier von bestimmter Form finden.

Rechts von ihm lag ein angebissener Schoko-Riegel. Jemand hatte hier gesessen, als Alarm gegeben wurde. Vielleicht hatte er die Zugänge des Hauptbeckens gesperrt Ð das mochten die roten Lichter sein, die die blaue Fläche flankierte, und dann war er losgelaufen. Irgendwo war er noch, irgendwo in der Nähe …

Es war der Geschmack des Schoko-Riegels, der Little auf die richtige Spur führte. Von irgendwo kam dieser Geschmack wie eine Erinnerung auf seine Zunge und vermischte sich sofort mit der Bitterkeit, die vom Anblick der Verletzten auf der Tribüne ausging. Flüchtig glaubte Little, fernes Wimmern zu hören und vor seinem geistigen Augen blitzte das Bild schlaff herabhängender Arme auf, von einer leblosen Person, die zur Seite getragen wurde und deren Arme wie ausgestopfte Stoffhüllen pendelten. Das war die Oberfläche É dahinter waren andere Dinge, der neue Wagen, die Kredite, die Kumpels, Sex und der Job É.

Little grinste und begann die Schalter zu drücken. Auf der Übersichtskarte verschwanden rote Lämpchen und grüne leuchteten auf. Hinter ihm veränderte sich das Surren einer Maschine ein wenig. Little setzte die Rutsche zu dem, was Donnahue Ausnüchterungsbecken genannt hatte, unter Wasser. Von dort aus war der Weg durch geöffnete Schleusen frei bis in die Bucht. Dass ein rotes Warnlicht blinkte und ein misstönender Hupton erklang, war für Little nur verständlich. Er war gerade dabei, den größten Teil von Empire of the Sea trocken zu legen.

Nachdem er sich mit einem letzten Blick vergewissert hatte, dass der Weg frei war, rannte Little nach draußen. Die Delfine waren verschwunden. Der Wasserstand im Becken sank mit jeder Sekunde. Jetzt kamen Little Bedenken. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht und die Delfine waren zu langsam, um mit dem abfließenden Wasser mitzuschwimmen. Vielleicht lagen sie schon auf dem Trockenen?

Unruhig suchte er sich seinen Weg. Er machte sich nicht die Mühe, Übergänge zu benutzen, sondern sprang durch Verbindungskanäle und watete quer durch Becken. Das Wasser stand niedrig und entwickelte im Ablaufen einen Sog, der ihn um ein Haar mitriss.

 

Endlich sah Little die Delfine, die er schon längst als seine Tiere empfand. Sie drängten sich in einem kleinen Bereich, der unmittelbar vor der Rutsche in das Ausnüchterungsbecken lag. Das Wasser rauschte die Rutsche hinunter. In jeder Sekunde wurde der Raum enger, wurden die Tiere unruhiger, kam ein weiteres Stück des Betonbodens mit seiner abgeblätterten blauen Farbe zum Vorschein.

Little schrie und winkte, aber es war mehr ein Hilfsmittel gegen die eigene Hilflosigkeit. Hier, so kurz vor dem Erfolg, sollte die ganze Sache scheitern. Little beugte sich keuchend nach vorn und stützte die Hände auf die Knie. Ihm war speiübel. Was ist los, dachte er dann, ein wenig Selbstbestrafung, weil du die Flucht vermasselt hast? Vielleicht noch eine Prise Selbstmitleid?

Dann setzte er sich in Bewegung, mühsam, wurde schneller, rannte zu den Delfinen und warf sich mitten unter sie. Wie ein Bauer durch seine Rinderherde, drängte er sich zwischen die Tiere, klatschte auf die muskulösen Leiber und schrie ihnen zu, dass sie vorwärts machen sollten.

Neben sich hörte er ein Schnattern. Er war sicher, dass es sich um das Leittier handelte. Little verstand sofort – sie glaubten sich in einer Falle, sie waren verwirrt, ängstlich und sahen keinen Ausweg.

»Mir nach«, brüllte Little und kam sich selbst ein wenig allzu John-Wayne-mäßig vor.

Er stemmte sich über den Rand der Rutsche und glitt, Kopf voraus, abwärts. Er war noch keine drei Meter weit, als das Blech unter ihm vibrierte und er eine spitze Schnauze unter seinen Sohlen spürte, die ihn vorwärtstrieb. Gischt rauschte um seinen Kopf, Little schoss in das Becken mit eisig kaltem, klarem Wasser. Um ihn herum rauschte und klatschte es, tobten Flossenschläge und helle Rufe, er wurde nach unten gedrückt, schluckte Wasser, strampelte und wurde zur Oberfläche gehoben. Little paddelte zum Rand, spuckte sich die Lunge frei. Über ihn glitt ein dunkler Schatten. Der erste Delfin war in hohem Bogen in das letzte Becken gesprungen. Die anderen folgten ihm.

Von hier aus führte ein breiter, offener Zulauf in die Bucht.

Augenzeugen wollten ein Mann beobachtet haben, die wie ein Irrer brüllend, winkend und springend am Ufer stand. Sie behaupteten weiterhin, dass in der Bucht eine Schule Delfine erkennbar gewesen wäre. Eine Frau war sich sicher, dass die Tiere durch Töne und durch ihr Verhalten mit dem Mann kommuniziert hätten, bevor sie zum offenen Meer hin verschwanden. Diese Aussage wurde als Fantasterei aus dem Polizeiprotokoll gestrichen.

Fortsetzung folgt …