Paraforce Band 5
Sie wusste, lange würde sie dieser Tortur nicht widerstehen.
Schweiß perlte auf ihrer Stirn.
Verdammt! Verdammt!
Innerlich fluchte sie, weil sie so arglos in die Falle getappt war. Wie eine Anfängerin.
Dabei zählte Amanda Harris zu den Top-Agentinnen dieser Welt. Sie arbeitete auf eigene Rechnung. Aber weder Secret Service, noch Scotland Yard konnten oftmals nicht auf ihre Hilfe verzichten.
Allerdings konnte sie auch im Falle eines Falles von diesen Institutionen in der Situation, in der sie sich jetzt befand, kaum Unterstützung erwarten.
Ihre Einsätze gehörten jedes Mal zur Geheimhaltungsstufe Eins.
Die hochgewachsene, schwarzhaarige Agentin arbeitete immer dort, wo man diplomatische Verwicklungen nicht gebrauchen konnte.
Jetzt lag sie hier in einem Keller, vermutlich des koreanischen Geheimdienstes. Auf einer rohen Holzbank – Arme und Beine weit ausgestreckt – zum Zerreißen gespannt. Die nackten Füße steckten in einer Art Block.
»Sie werden uns Ihren Auftraggeber schon nennen, Miss Harris«, hatte der Mann gesagt, der sich als Kommandeur Fu Siam lächelnd vorgestellt hatte. »Es gibt Mittel und Wege. Methoden, deren Anwendung später niemand mehr nachweisen kann.«
Amanda schluckte trocken. Sie wusste um die Genialität der sogenannten Weißen Folter. Verdammt! In welchem Sumpf hatte sie herumgestochert? Wer hatte plötzlich Angst bekommen?
Was auf sie zukam, konnte sie sich an den Vorbereitungen ausmalen. Genüsslich hatte Fu Siam einem seiner Folterknechte befohlen: »Zieh Madame die Schuhe aus. Dann sehen wir weiter.«
Fu Siam hatte dann alle hinausgeschickt. Tief hatte er sein Gesicht über das ihre gebeugt und geflüstert: »Ich hasse es. Aber ich werde es tun. Sie haben zehn Minuten Bedenkzeit. Danach werden Sie die Hölle erleben.«
Nun lag sie allein hier.
Wie lange bereits? Fünf Minuten? Waren es schon zehn Minuten?
Dabei hatte alles wie ein Routineauftrag ausgesehen.
***
London
Sir Miles hatte sie zum Essen eingeladen.
In das feudale Casa D’or.
Amanda Harris blickte beim Dessert über den warmen Schein der beigen Kerze ihr Gegenüber an.
Der sechzigjährige Sir Miles Gernstone gehörte zum uralten Adelszweig des Britischen Empire. Über den auswärtigen Dienst gelangte er zu Scotland Yard und bekleidete seit acht Jahren den Posten des allgewaltigen Leiters. Nur dem Innenminister verantwortlich.
Amanda selbst, die hochgewachsene, sportliche Frau mit dem hüftlangen schwarzen Haar, hätte jedes Titelblatt der Vogue zieren können. Oder in einem Hollywoodfilm als absoluter Star die Piraten Queen spielen.
Aufgewachsen war sie in den Slums von Liverpool. Dort hatte sie das Gesetz der Straße kennengelernt und sich durchgeboxt. Nachdem man im Alter von sechzehn Jahren versucht hatte, sie zu vergewaltigen, hatte sie einen Boxkurs belegt. Den Boys war sehr schnell das Grinsen vergangen. Auch in der Schule verschaffte sie sich Respekt. Sie belegte einen Karatekurs über einen Freund bei der Polizeigewerkschaft. Von da an gab es niemanden mehr, der auch nur den Hauch einer Anzüglichkeit oder Tätlichkeit gegen Amanda losließ. Sie schaffte mit Bravour das College und erhielt für eine besondere Ausarbeitung über den Sozialen Stand Englands, bedingt durch zu geringes Stadtteilinteresse der zuständigen Abgeordneten ein Universitäts-Stipendium.
Amanda arbeitete nebenbei in einer Hotelbar und konnte sich bald ein winziges Appartement außerhalb der Stadt leisten.
Sie studierte Psychologie, Geschichte, Archäologie und Mathematik. Zusätzlich belegte sie ein Seminar des Bereichs Astro-Physik.
Sie schrieb zwei Doktorarbeiten. In einer erbrachte sie den Nachweis, dass es sich bei Schizophrenie nur um eine Fehlschaltung einiger Gehirnzellen handelt, weil ein erweitertes, angeborenes Bewusstsein sich nicht mit bereits belegten Gehirnspeichern verträgt, anstatt brachliegende Zellen zu aktivieren. Ein ähnlicher Vorgang, als ob sich in einem PC zwei unterschiedliche Virenprogramme bekämpfen würden. Gäbe es die Möglichkeit, durch Hypnose die sich überlagernden Dateien zu trennen, wäre bei solchen Menschen ein Superhirn möglich.
Diese Dissertation hatte die Aufmerksamkeit von Spezialisten des Yard geweckt.
Zwei Jahre lang arbeitete sie in der Psychologischen Abteilung des Yards, bis sie auf einem Ball dem Sohn eines Lords vorgestellt wurde.
Es war Liebe auf den ersten Blick.
Sie heiratete ihn und zog auf den Landsitz in Yorkshire. Als ihr Mann bei einem ungeklärten Flugzeugabsturz ums Leben kam, erbte sie viele Ländereien und einen Adelstitel.
Ihre besonderen Denkfähigkeiten brachten Sir Miles dazu, sie mit einigen besonderen Aufgaben zu betrauen, die sonst niemand – vor allem nicht offiziell – erledigen konnte.
Lady Amanda wurde im Laufe der Zeit zu einer unverzichtbaren Geheimwaffe des Yard.
»Mein lieber Sir Miles«, begann Amanda freundlich und sanft. »Das Essen ist vorzüglich gewesen. Doch ich denke, Sie sollten endlich mit dem wahren Grund herausrücken, der zu der Einladung führte.«
Der Leiter des Yard blinzelte nervös. »Wie meinen Sie das?«
Die Agentin lachte glockenhell auf. »Mein lieber Sir – irgendwo brennt wieder mal das Empire und Sie benötigen jemanden zum Löschen.«
Sir Miles schluckte. Endlich brummelte er: »So … könnte man es ausdrücken, Lady Amanda.«
Sie hob das Weinglas, nahm einen Schluck und schaute dabei ihr Gegenüber amüsiert an.
Der Chef des Yard räusperte sich und sagte dann: »Ich möchte Sie gern mit jemandem bekannt machen.« Er wandte sich halb um und machte zum Nebentisch eine einladende Handbewegung.
Sogleich erhob sich ein Mann, dem man auf hundert Yards den Aristokraten ansah.
Sir Miles erhob sich. »Lady Amanda … das ist Sir James Elwood Blackstone.«
Der Aristokrat verbeugte sich steif. Zu Sir Miles sagte er: »Nur James Blackstone.«
Der Mann des Yard lächelte verhalten. »Ah ja … ich vergaß.« Zu Amanda bemerkte er: »Sir … James lässt seinen Titel zurzeit ruhen. Er ist Mitglied des Unterhauses.«
Amanda lächelte warm. »Ich verstehe. Der Adel begibt sich ins Proletariat.«
Blackstone verzog das Gesicht. »Es mag Ihnen nicht sehr standesgemäß vorkommen, Mylady, aber wenn man in der Politik etwas bewirken will, muss man auch Sachzwänge ertragen können.«
»Nun – Mister Blackstone, es scheint Ihnen ja zu gelingen.«
Leicht verlegen bat Sir Miles seinen neuen Gast, sich zu setzen.
»Lady Amanda … wir … sagen wir mal so … Mr. Blackstone hat ein Problem. Ein Problem, das man nicht über den Yard oder über die Diplomatie angehen kann.«
Amanda blieb abwartend und löffelte eher desinteressiert ihr Dessert.
So fuhr Sir Miles fort: »Es geht um den Neffen von Sir … Mister Blackstone. Er ist verschwunden.«
Der Leiter des Yard blickte die junge Frau an, als erwarte er eine außergewöhnliche Reaktion. Doch Amanda schaute nur kurz auf.
»Hören Sie überhaupt zu?«, fragte Sir Miles leicht heftig.
Amanda schob die Dessertschale zurück und schaute auf. »Oh ja … fahren Sie fort. Ich bin ganz Ohr.«
Sir Miles verdrehte die Augen. »Also gut – der Neffe von Mr. Blackstone ist Computerexperte. Genauer gesagt, er ist Spezialist für strategische Computeranimationen.«
Amanda Harris zündete sich einen Zigarillo an. Nachdem sie den Rauch tief inhaliert hatte, wollte sie wissen: »Wo ist der Gute verschwunden?«
»In Südkorea. Er hatte eine Einladung bekommen, um dort an einer Tagung teilzunehmen.«
Amanda runzelte die Stirn. »Es kann doch kein Problem sein, ihn über die dortigen Behörden zu suchen …«
Sir Miles wand sich. Da ergriff Blackstone das Wort. »Mein Neffe – Harry Farnvers – befindet sich möglicherweise in Nordkorea. Da ist es zurzeit sehr schwierig für uns, etwas zu unternehmen. Wir gehen davon aus, dass Harry während der Tagung durch nordkoreanische Spione … hm … entführt worden ist.«
»Ist diese Animation eine sensationelle Neuentwicklung?«, wollte Amanda wissen. »Eine echte Sensation?«
»So ist es«, bekräftigte Blackstone.
»Sie sind sicher, dass Nordkorea dahintersteckt?«
Nun ergriff Sir Miles wieder das Wort. »Wir vermuten es.«
Amanda zog die Augenbrauen hoch. Dann sagte sie knapp: »Da Sie mir keinen reinen Wein einschenken wollen, interessiert mich die Angelegenheit nicht. Vielen Dank für das Essen, Sir.«
Sir Miles atmete tief durch. »Warten Sie! Es gibt da etwas Mysteriöses.«
Er zog einen braunen Umschlag hervor und legte ein großformatiges Foto auf den Tisch. Es zeigte einen Raketenangriff auf ein Dorf.
»Was ist das?«, erkundigte sich Amanda.
»Eine Simulation.« Sir Miles legte ein weiteres Bild auf die weiße Tischdecke. Es zeigte einen Panzer und davor einen Zivilisten, der erschreckt aussah.
Amanda Harris blickte den Leiter des Yard abwartend an. Der erklärte: »Das ist Harry Farnvers.«
Die Agentin runzelte die Stirn. »Und …?«
Blackstone seufzte. »Wir nehmen an, er steckt in der Simulation.«
Amanda Harris beugte sich weiter vor und ihre Augen schienen den Sprecher durchbohren zu wollen.
»Sir – Sie wollen andeuten, dass …«
Sir Miles tippte mit dem Zeigefinger auf die Person. »Farnvers ist irgendwie in die Simulation geraten. Körperlich – real!«
Amanda Harris griff fahrig nach einem neuen Zigarillo. Das musste sie erst einmal verarbeiten.
Endlich schüttelte sie den Kopf, während sie dem blauen Rauch nachsah. »Wie soll das möglich sein?«
Sir Miles ergriff die Hand der schwarzhaarigen Rassefrau. »Genau das bitten wir Sie herauszufinden.«
Die Agentin schaute Blackstone an – dann wieder Sir Miles. Ihre Augen zogen sich zusammen. »Sie wollen mir also allen Ernstes auftischen, Harry Farnvers säße als menschliches Wesen aus Fleisch und Blut in seiner eigenen Simulation fest?«
Sie sagte es in einem Tonfall, als spreche sie mit geistig Behinderten.
Der Leiter des Yard seufzte. »Es klingt verrückt. Ich weiß. Man kennt das nur aus Science-Fiction Romanen. Aber es scheint passiert zu sein.«
»Woher haben Sie die Fotos?«
Blackstone warf eine CD auf den Tisch. »Hier sind noch mehr. Man hat mir die Datei über E-Mail zugespielt. Man verlangt zwanzig Millionen Pfund und die Formatierungsformeln der Simulation.«
Amanda schüttelte den Kopf. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie verwirrt.
»Moment! Jemand, der eine Möglichkeit besitzt, ein menschliches Wesen in eine digitale Datei zu sperren, ist nicht in der Lage, solche militärische Simulation zu erstellen? Das klingt eher nach einer plumpen Ablenkung.«
Der Leiter von Scotland Yard winkte leicht ab. »Wir wissen ja nicht, wieso er darin steckt!«
Amanda blinzelte leicht.
Blackstone druckste herum. Sir Miles schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
»Sagen Sie es ihr, Menschenskind!«
Blackstones Lunge schien unkontrolliert zu pfeifen.
»Diese sogenannte Simulation ist nicht nur … Herrgott! Wie soll ich das erklären?« Er fuhr sich aufgebracht durch das Haar. Dann stieß er hervor: »Wer auf dieser Simulation ein Angriffsszenario entfaltet, der kann dies durch eine Hyperphysische Digitalformel in Realität umsetzen. Wie ein sich materialisierender Film läuft die Geschichte echt ab.«
Amanda Harris wusste nicht, ob die lachen oder einfach aufstehen sollte. Aber als sie in die Augen von Blackstone und Sir Miles sah, wusste sie, dass das Ungeheuerliche Realität war.
Fast fünf Minuten lag Schweigen zwischen den drei Menschen. Dann kam es gedehnt über die Lippen der Agentin: »Weshalb denken Sie, ich könnte den Fall lösen? Haben Sie keine Experten? Was ist mit MI-5?«
Blackstone räusperte sich. »Wir haben eine Menge ausgezeichneter Agenten. Aber …«
»Aber?«
»Aber niemanden, der in der Lage ist, ungewöhnliche Ereignisse auf einen Punkt zu bringen.«
Amanda schnaubte. »Blödsinn!«
Sir Miles schaute Blackstone an. Dann wandte er sich wieder Amanda zu. »Der Wahnsinn muss gestoppt werden. Dieses Simulationsprogramm muss vernichtet werden.«
Die schwarzhaarige Frau winkte dem Kellner. »Einen Wodka! Dreifach!«
Als das Getränk serviert war, trank die Lady es in einem Zug. Dann ergriff sie die CD und ihre kleine Handtasche, warf mit einer koketten Bewegung des Kopfes das Haar nach hinten und sagte über die Schulter: »Schicken Sie mir über verschlüsselte Mail alles über Harry Farnvers.« Dann machte sie zwei Schritte vom Tisch weg, wandte sich aber noch einmal um. Ihre Augen schienen Blackstone durchbohren zu wollen.
»Sir, ich denke, Sie verschweigen mir etwas. Daher werde ich mir überlegen, ob ich für Sie tätig werde.«
Damit rauschte sie hinaus.
Sir Miles seufzte tief auf. Er schaute seitlich zu Blackstone. »Sie hätten es ihr sagen sollen.«
Der Aristokrat hob nur eine Augenbraue. »Was?«
»Paraforce.«
»Später, lieber Miles. Später.«
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