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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.10

Die Hyleg-Schädel – Teil 10

»Ein epileptischer Anfall!«, stieß Tony hervor und machte einen neuen Versuch, den Wagen zu verlassen. Und wieder landete die sehnige Pranke Steeles auf seiner Schulter und ließ Tony erstarren, als hätte er dort einen Nothalt-Knopf.

Allerdings war jetzt auch Steele etwas besorgt.

Häuptling Koala, nachdem er wie vom Blitz gefällt zu Boden gestürzt war und dann mit bebenden Armen zum Himmel gegriffen hatte, spannte jetzt seinen mageren Körper zwischen Fersen und Hinterkopf und zog sich zu einer Brücke zusammen, nur um sofort wieder den Rücken auf den Boden fallen zu lassen. Staubwolken stiegen auf und verdeckten schließlich den Häuptling und seine Zuckungen.

Steele fuhr sich mit dem Handrücken über das Kinn. Es gab ein kratzendes Geräusch, das auch Tony daran erinnerte, dass er sich seit Längerem nicht mehr rasiert hatte.

Aus der Staubwolke tauchte Häuptling Koala wieder auf. Mit rollenden Augen und gefletschten Zähnen rannte er auf den Pick-up zu. Den Speer trug er hoch über der Schulter. Er hielt erst kurz vor der Motorhaube und stieß den Speer krachend gegen das Blech. Dann brach er in schrilles Triumphgeschrei aus und hämmerte auf die heiße Motorhaube, dass Tony bei dem Lärm fast die Trommelfelle platzten.

Im nächsten Moment schwang sich Koala auf die Ladefläche und schrie: »Los, ihr Käseärsche, fahrt, los, los. Worauf wartet ihr noch?«

Steele zog die Brauen hoch und warf Tony einen Blick zu. Dann fuhren sie weiter.

 

Tony fand in der Wasserflasche, die unter seinem Sitz verstaut war, noch einige lauwarme Tropfen. Die Menge reichte nicht aus, um die Kehle zu netzen und diente nur dazu, den Wunsch nach mehr anzufachen. Dennoch schwieg Tony. Er hatte sich geschworen, sich weder vor Steele noch vor diesem durchgeknallten Häuptling eine Blöße zu geben. Steele mochte ein harter Typ sein, aber irgendwann musste auch er Flüssigkeit zu sich nehmen und auch Häuptling Koala konnte seinem Namen nur im engen Rahmen der menschlichen Physiologie Ehre machen – irgendwann musste auch dieser Widerling trinken.

Immer wieder trieb Koala nun den Fahrer zur Eile an, bis schließlich Steele der Geduldsfaden riss und er den Alten anbrüllte.

»Solange ich hinterm Lenkrad sitze, werde ich keinen Achsbruch riskieren, aber wenn ich dir zu langsam bin, dann kannst du diese Schrottkarre ja auf den Buckel nehmen!«

Worauf Koala ungerührt zurückbrüllte: »Ihr Käseärsche habt doch auch sonst niemals Zeit, warum gerade jetzt. Schneller, wir haben es eilig.«

Mit zusammengebissenen Zähnen starrte Steele über die Motorhaube und versuchte, den besten Weg zu finden. Der alte Koala hatte ja recht. Sie hatten keine Zeit. Aber sie hatten auch kein Wasser, keine Kraft und keine Idee, wo es langging.

Immerhin hatte sich Steele eine ungefähre Vorstellung verschafft, auf welchem Flecken des Kontinents sie sich befanden. Nach seiner Meinung waren sie irgendwo an der Grenze vom Nord-Territorium und Queensland, irgendwo östlich musste der Dingozaun langlaufen, irgendwo nordwestlich befand sich Alice Springs. Sie – oder genauer Koala – suchten sich einen Weg, der immer am Rand der Simpsonwüste lang führte.

Manchmal mahlten die abge­fahrenen Reifen des Pick-up schon durch den roten Wüstensand und aus der rötlichen, flirren­den Weite hauchte sie trockene Gluthitze an, als hätte man dort hinten einen riesigen Ofen geöffnet. Dann wieder fuhren sie durch hellen Sand, kamen an Gestrüpp vorbei, an Baumgruppen, die an den Ufern eines versiegten Wasserlaufes wuchsen oder an Röhrichtbüscheln, die an den Rändern von Sandflecken dahinvegetierten und den letzten Rest an Feuchtigkeit dieser vertrockneten Pfützen aufsaugten. Es gab hier sogar Leben – obwohl Steele sich nicht als besonderer Spurenleser ansah, erkannte er die gewundenen Schlangenzeichen oder die seltsamen Spuren – eine Zickzacklinie, beiderseits begleitet von Tatzenabdrücken – die eilig fliehende Echsen mit ihrem hin- und herwischenden Schwanz hin­terlassen.

Dieses Land war für Echsen geschaffen, für Schlangen, kleine Nagetiere und für Dingos. Dennoch empfand Steele eine seltsame Sicherheit, dass er hier nicht umkommen würde. Er kannte die Methoden, um Echsen und Schlangen zu fangen, manche waren giftig, aber die Säfte der meisten konnte man trinken. Das reichte, um sich östlich zum Dingozaun durchzu­schlagen und wo der war, würde alle zwei Tage der Zaunreiter langkommen und einen auf­sammeln. Alles kein Problem.

»Ich brauche was zu trinken, sonst …«, hörte er Tony Tanner neben sich krächzen. »Sonst trinke ich den Kühler leer«, kam es über Tonys zersprungene Lippen.

Inzwischen stand die Sonne niedrig, jede Senke, die sie durchquerten, wurde schon zu einem Nest tiefer Dunkelheit. Kamen sie aus der Senke heraus, blendete die Sonne, als kämen sie aus einem Tunnel.

Häuptling Koala trommelte auf das Dach und brüllte seine Anweisungen. Er lotste den Wagen zu einer Kuppe. Dahinter erkannten sie hellbraunes Land, gestreift von den langen Schatten, die Büsche und Bäume zogen. Im Hintergrund war eine Baumreihe erkennbar.

»Larapinta«, rief der Häuptling triumphierend. »Weißt du, was das heißt, Käsearsch?«

»Wahrscheinlich Leck mich an meinem Käsearsch, du verschrumpelter Hundescheißefarbe-Arsch«, gab Steele freundlich zurück.

Daraufhin zog er den Kopf ein, denn Koala nutzte jetzt beide Fäuste zum Trommeln und hüpfte dazu noch, sodass der Wagen in seinen ausgeleierten Federn wippte.

»Falsch, es heißt ewiges Wasser und nun bitte zu dem Felsen weiter links, wenn der Herr die Freundlichkeit haben würde.«

 

Bis sie den Felsen erreichten, war die Nacht schon hereingebrochen. Der Wagen hatte nur einen Scheinwerfer, der wegen eines matt gewordenen Reflektors auch nur ein schwaches Licht gab. Langsam tastete sich Steele vorwärts.

Koala, der plötzlich gänzlich zahm gewor­den war, gab knappe Anweisungen, und obwohl auch er in der Dunkelheit nicht besser sehen konnte als die anderen, brachte er den Wagen auf diese Weise bis an den Fuß einer steil auf­ragenden Felsformation.

Hier sprang Koala ab, noch bevor Steele den Motor abschalten konnte, schlug mit der Faust gegen Tony Tanners Tür und rief: »Komm, junger Käsearsch, ich habe ein Geschenk für dich.«

Tony wäre nicht ausgestiegen, weil er sich zu schwach fühlte. Er brachte nur noch Ich protestiere hiermit entschieden gegen die von Ihnen gewählte Bezeichnung Käsearsch für einen Angestellten des königlich-britschen Reisedienstes. Sie sind kein Herr, mein Herr! heraus.

Damit kippte er aus dem Wagen, weil Koala die Tür aufgerissen hatte. Der Häuptling fing ihn auf und schleifte ihn durch die Dunkelheit.

Tony stolperte, spürte nach dem weichen Sand harten Felsen unter den Schuhsohlen und witterte Wasser.

Steele kam mit einer Lampe. In dem unsicheren Licht erkannten sie eine Spalte und stiegen eine schräge Rampe in eine Höhle herab. Kühle Luft schlug ihnen entge­gen, die Wände, an denen sie sich abstützten, waren feucht unter ihren Fingerspitzen.

Tony konnte es kaum glauben. Da war klares, frisches, kühles Wasser. Ein ganzer See, dessen Oberfläche das Licht der Laterne widerspiegelte und gegen die Höhlendecke warf.

»Voilà, ihr Käseärsche«, rief Häuptling Koala aus und machte die Andeutung eines Kratzfußes. »Und bin ich auch kein Herr, so weiß ich doch zu schenken wie ein solcher. Zur gefälligen Bedienung.«

Mehr wurde in der nächsten Zeit nicht gesprochen, denn alle drei Männer legten sich auf den Bauch, steckten den Kopf in das Wasser und tranken, bis sie sich kaum noch bewegen konnten. Dann rülpsten Koala und Steele ausführlich, während Tony Tanner diese Reaktion unterdrückte und dafür einen lästigen Schluckauf bekam, der sich erst legte, als ihn Koala von hinten anschrie, sodass der Schock Tonys innere Nervenbahnen entweder vollständig ver­öden ließ oder wieder einrenkte.

Steele kümmerte sich inzwischen um Brennmaterial und schleppte die Vorräte heran. Zu essen hatten sie genug dabei gehabt, jetzt war der Durst auch kein Problem mehr und es ent­wickelte sich so etwas wie ein Festnudelmahl.

Koala führte sie ein Stück weiter die Höhle entlang. Dort mündete sie in einem offenen, trockenen Felsenbassin, von dem aus man mit einiger Mühe wieder nach oben klettern konn­te. Auf der anderen Seite war eine Grotte erkennbar. Koala bestand darauf, in diesem kleinen Kessel das Feuer zu machen. Es stellte sich bald heraus, dass diese Entscheidung gut war, denn mit der Nacht kam eine beißende Kälte, und obwohl die kalte Luft in diesen Kessel herabfloss, hatten sich die Felsen doch mit der Tageshitze so weit aufgeheizt, dass man ohne zu frieren schlafen konnte.

Tony legte sich längelang auf den Boden und genoss die Wärme, die aus dem Untergrund aufstieg und ihn durchströmte. Er fühlte sich völlig erschöpft, war aber dennoch guter Hoffnung, dass er nach einer Mütze voll Schlaf am nächsten Tag wieder einigermaßen seinen Mann stehen konnte.

»Dieses Wasser ist ein kleines Wunder«, murmelte Tony schlaftrunken zu Steele gewandt, der neben ihm lag. Zu seiner Überraschung antwortete Koala von der anderen Seite.

»Larapinta, ewiges Wasser. Wenn es regnet, ist dieser Sandstreifen hier ein Fluss. Er über­schwemmt diese Senke und alles ist voller Wasser. Das Wasser verdunstet, aber in der Höhle ist es geschützt vor der Hitze, wenn es verdampft, kondensiert ein Teil an den Wänden und der Decke und tropft wieder zurück. Darum bleibt dieser Vorrat bis zum nächsten Regen.«

»Warst du schon einmal hier?«, fragte Steele.

»Nein, aber meine Ahnen waren hier, das ist dasselbe, als wenn ich selbst hier gewesen wäre. Sie haben die Wege angelegt und ich muss nur den Spuren der Ahnen folgen.«

»Scheint nicht immer leicht zu sein«, merkte Steele an.

»Nichts ist leicht«, gab Koala energisch zurück. »Aber heute musste ich mit den Ahnen kämpfen, damit sie mir die Erlaubnis gaben, euch hierhin zu führen.«

»Und sonst hättest du uns da draußen verdursten lassen? Mein Dank an deine großzügi­gen Ahnen.«

»Unfug«, antwortete Koala energisch. »Es gibt genügend andere Wasserstellen. Überall sind Dingospuren, wenn man ihnen folgt, kommt man mit Sicherheit an ein Wasserloch. Das Wasser war nicht die Hauptsache.«

»Für mich schon«, sagte Tony träge, »und was war es dann?«

Keiner der beiden sah, wie der Häuptling Koala zu der Grotte wies.

»Dort ist die Hauptsache. Ich werde es euch morgen erklären.«

 

Tony schlief tief und traumlos, so wie der Schlaf der Felsen sein mochte, auf denen er lag und die ihn wärmten. Er erwachte, als er neben sich ein Murmeln hörte. Steele und Koala unter­hielten sich leise. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber das graue Licht der Morgendämmerung hatte die Nacht schon vertrieben. Die Luft war kühl, der Atem der Männer stieg in weißen Wolken auf. Koala hüpfte auf und ab, um sich zu wärmen und Steele schlug die Arme um die Seiten. Als sie sahen, dass Tony die Augen geöffnet hatten, kamen sie zu ihm.

»Dauert nicht mehr lange«, sagte Koala. »Bis dahin gehen wir hoch.«

Sie krochen aus dem Felskessel und setzten sich oben hin, um die ersten wärmenden Strahlen der Sonne aufzufangen.

»Es war eine kalte Nacht«, sagte Koala unvermittelt. »Solche Nächte nennen wir Zwei-Hunde-Nacht. Früher haben wir Dingos als Decken benutzt. Sie wärmen gut, an den Geruch muss man sich allerdings gewöhnen.«

Als die Sonne schon etwas höher gestiegen war, schaute Koala über die Schulter in den Kessel und nickte dann mit dem Kopf. »Es ist soweit«, verkündete er dann. »Folgt mir.«

Er rutschte zurück in die Vertiefung und Steele und Tony folgten ihm. Koala setzte sich und beobachtete aufmerksam die Grotte. Sie lag noch im Dunkeln, aber mit jeder Minute schob sich das Sonnenlicht näher an sie heran.

»Nicht lange und ihr werdet es sehen. Ich habe mit den Ahnen gekämpft, damit ihr es sehen und verstehen könnt«, sagte Häuptling Koala.

***

Dorkas und Little streiften durch die Stadt, ohne wirkliches Interesse an den vielen Sehenswürdigkeiten zu haben. Das Wetter war kalt und regnerisch, der Neckar floss schwarz durch das Tal und ließ sie alleine durch den Anblick seiner manchmal glatten, manchmal durch Böen geriffelten Oberfläche frösteln. Die zahlreichen Touristen schienen sich in Nichts aufgelöst zu haben. Die beiden Männer standen alleine im Hof des Schlosses, schauten auf die regengepeitschte Fassade und auf die Bäume, die ihre letzten Blätter den heftigen Böen als Tribut anheimgaben.

Von Troiger hatten sie seit zwei Tagen nichts gehört. Dorkas hatte sich ein Herz genom­men und angerufen, aber niemand hatte abgehoben. Er war sich nicht einmal sicher, ob Troiger überhaupt noch lebte.

Der Gedanke daran erfüllte Dorkas mit Trauer. Obwohl er Troiger erst seit wenigen Tagen kannte, gab es ein tiefes Verständnis, sogar eine Freundschaft zwischen ihnen und Dorkas empfand den Verlust dieses neu gefundenen Freundes tief und schmerzlich. Er fragte sich, wie sein eigenes Leben oder das Troigers verlaufen wäre, wenn sie sich schon vor ein paar Jahren kennengelernt hätten. Sicherlich ganz anders und bestimmt nicht schlechter. Nein, nicht schlechter. Dorkas fühlte die Nässe, die durch die Schulternähte seines abgetragenen Mantels in sein Hemd und bis auf seine Haut durchdrang.

»Wollen Sie vielleicht noch …?«, fragte er bedrückt.

Little schüttelte den Kopf. »Nein, meinetwegen können wir gehen. Suchen wir uns eine Gastwirtschaft, ich brauche was Warmes, und Sie sehen auch so aus, als könnten sie das gebrauchen.«

Dorkas rieb sich die tropfende Nase.

»Sicher doch«, sagte er lustlos und trabte hinter Little her. Das alles zehrte an seinen Nerven. Das Schloss mochte unter anderen Umständen seine Begeisterung in höchste Höhen getrieben haben, jetzt wirkte es so anregend wie der Besuch in einem Krankenzimmer.

»Wir dürfen nicht den Mut verlieren«, murmelte Dorkas, mehr zu sich selbst gewandt. Aber der Wind riss die Worte von seinen Lippen und trieb sie zu Little.

Der drehte sich um.

»Welchen Mut?«, antwortete er nur.

***

Als die ersten Sonnenstrahlen ihren Weg in die Grotte fanden, erkannte Tony Tanner plötzlich farbige Flächen an den Wänden. Er schaute zu Häuptling Koala hinüber, aber der rührte sich nicht vom Fleck und wartete, bis die Grotte vollkommen in Sonnenlicht getaucht war. Der Wanderung der Schatten nach zu urteilen, würde dieser Zustand einer kompletten Erhellung nicht lange dauern, weniger als eine Stunde, so schätzte Tony.

Koala gab seinen beiden Gefährten einen knappen Wink und betrat die Grotte. Jetzt, aus unmittelbarer Nähe betrachtet, offenbarten die Wände ihre Zierde aus Tausenden, sich teilwei­se gegenseitig überdeckenden Malereien. Es war schwer, in diesem Wirrwarr von Linien und Flächen einzelne Figuren zu erkennen.

Erst nach einer Weile erkannte Tony, dass immer wieder seltsame Gestalten mit übergro­ßen Köpfen, von denen weiße Linien ausgingen, gemalt worden waren. Zuerst hielt er die Linien für Haare, dann bemerkte er, dass sie sich wie Leitungen über die Wände hinzogen und mit den Linien anderer ähnlicher Figuren trafen. Es schien fast so, als würden diese seltsa­men Figuren ein Netz bilden. Obwohl erkennbar war, dass viele verschiedene Eingeborene hier ihre Malereien an die Wände gesetzt hatten, schien es doch eine eindeutige Konvention bei der Darstellung dieser Figuren, die Tony bei sich Netzmacher nannte, zu geben. Immer wurden sie mit viel grüner Farbe dargestellt, immer hatten sie statt Augen nur zwei Linien auf ihren runden Gesichtern, die Nase fehlte völlig, dafür war der Mund wie eine rundliche Schnauze dargestellt und es schien, als würden Zähne aus den Lippen ragen.

Koala betrachtete die Malereien ebenso aufmerksam wie die beiden anderen, berührte an manchen Stellen den Fels und fuhr dann mit den Fingerspitzen einzelnen Linien nach, wobei seine Lippen leise unverständliche Worte murmelten.

»Heiliger Ort«, flüsterte er schließlich. »Ein heiliger Ort der Ahnen. Meine Vorfahren erzählten mir davon. Ich habe ihn noch nie betreten und ihr seid die ersten Weißen, die ihn zu sehen bekommen.«

Der Ort mochte so heilig sein, wie er wollte, Tony Tanner fühlte sich darin ausgesprochen unwohl. Je länger er hier verweilte, desto deutlicher traten die einzelnen Figuren hervor, als wären es Tiere, die sich erst langsam zutraulich dem Fremden nähern. Er erkannte die Ähn­lichkeit dieser Malereien mit den Bildern von Gainsworth. Einem gestrengen Professor der Kunstgeschichte hätte er diese Meinung gegenüber kaum aufrecht halten können, sie war weder nach Stil noch nach Material noch nach Form und Inhalt eindeutig beweisbar und den­noch sagte Tonys Instinkt, dass er hier vor einer Verbindung stand, die Zeiten und Kontinente überbrückte. Der Gedanke hatte nichts Erhabenes, er wirkte lediglich Furcht einflößend, denn die Monstrositäten auf den Bildern des englischen Malers vereinten sich mit den Schreckgestalten, die den Visionen australischer Ureinwohner entsprungen waren.

Immer noch fuhr Koala murmelnd über Umrisse und Linien, presste die Stirn auf Farbflächen, verstummte und riss sich wieder los, einen plötzlichen Schwall halb gesungener, halb gemurmelter Worte von den wulstigen Lippen lassend.

Steele näherte seine Lippen Tonys Ohr.

»Unser Abo ist jetzt offensichtlich völlig durchgeknallt.«

Tony schüttelte den Kopf und schob Steele aus der Grotte hinaus. Draußen drückte er ihn auf die Schulter, bis sich Steele setzte, und legte zugleich den Finger auf den Mund. Schweigend schauten sie zu, wie die Schatten den heiligen Ort wieder in Besitz nahmen. Koala tauchte aus dem Halbdunkel auf, stierte mit hervorquellenden Augen um sich, rannte dann mit einem schrillen Schrei aus dem Kessel und verschwand.

»Und Tschüss«, kommentierte Steele sarkastisch, um dann zu fragen: »Was sollte diese Aktion vorhin eigentlich bezwecken?«

»Wir durften ihn nicht stören«, erklärte Tony Tanner seine Handlungsweise. »Er lernte gerade die Geschichten seiner Vorfahren.«

»Er lernte was …?«

»Die Geschichten aus der Traumzeit.«

»Er lernt sie, indem er die Malereien mit seinen schmutzigen Fingern antatscht? Dafür würde ihn jeder Rettet die Kunst der Eingeborenen-Fuzzi in Europa oder den USA steini­gen«, zweifelte Steele mit sarkastischem Unterton.

»Diese lästige Rasse von Gutmenschen hat hier keine Bedeutung«, gab Tony Tanner zurück. »Das ist Koalas Land, das ist Koalas Kunst, und er macht das Richtige damit.

Verdammt, das ist keine Kunst, das ist tägliches Leben, die Eingeborenen haben keine Museen und kein gläubiger Christ würde darauf verzichten, eine Marienstatue zu berühren, bloß weil so ein intellektueller Schnarchsack das als Kunstfrevel bezeichnen würde. Es ist so …« Tony stockte und musste sich die Worte erst zurechtlegen. Es war schwer, das, was der Instinkt erkannt hat, in diese Verpackung zu verstauen, ohne dass dabei einiges zu Bruch ging.

»Also nehmen wir mal, an Maler hat eine Idee von dem, was er malen will … er geht hin, stellt sich vor die Leinwand und führt den Pinsel – Farben, Linien, Umrisse, was weiß ich. Irgendwann ist er fertig und wir stellen uns davor und zerbrechen uns den Kopf, um zu ver­stehen, was er eigentlich darstellen wollte. Bei Koala ist es umgekehrt. Er fährt über die Linien, reibt an den Farben – es sah ja ganz so aus, als ob er die Malereien nachmalen woll­te. Und er hat es gewisserweise auch getan und dabei hat er erkannt, was die Künstler damit ausdrücken wollten, er hat die Ideen und Visionen seiner malenden Vorfahren in sich aufge­nommen.«

»Scheint keine gute Story gewesen zu sein, sonst hätte er nicht so aus der Wäsche geschaut«, sagte Steele.

»Ich fürchte, das alles ist keine gute Story, sonst würden wir sie mehr genießen als wir es tun!«

Sie mussten lange warten, bis Koala zurückkehrte. Er war erschöpft und über und über mit Sand und Erde bedeckt. Unter der Schmutzschicht glaubte Tony ein Schmuckstück zu erken­nen, das ihm bisher noch nicht aufgefallen war, irgendein klumpiges Ding, das an einem geflochtenen Seil um den Hals des Häuptlings hing. Aber sicher war sich Tony nicht.

Koala ignorierte die beiden Weißen völlig, trank, aß und saß dann in einiger Entfernung in der Hocke und starrte in die Weite.

»Ich habe die Erzählungen der Ahnen gehört«, erklärte er dann unvermittelt, nachdem er wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen und zu Tony und Steele gerannt war. »Es waren keine guten Geschichten. Sie haben mir Angst gemacht. Ich werde sie euch erzählen, aber nicht alles, denn ich haben keine Worte für manche Dinge und andere Dinge kann ich in meiner Sprache benennen, aber nicht in der Sprache der Käseärsche. Meine Ahnen sagen, dass Fremde kommen werden, die die Felsen spalten, bis sie so klein sind, dass man die Stücke nicht mehr sehen kann.«

Koala schaute auf die Gesichter Tonys und Steeles und beide schauten ebenso verwirrt zurück.

»Die Weißen«, sagte Tony plötzlich, »die Weißen und die Kernspaltung. Die Kernspaltung ist gemeint. Wie bei Demokrit und seinem Stück Käse …«

»Die Fremden werden tiefe Wunden in den Leib der Erde schlagen und ihre Lebendigkeit zerstören. Wenn das geschehen ist, werden aus den Löchern grüne Ameisen kommen, riesige Ameisen, und sie werden alles Lebendige weiß machen, weiß, kalt und tot.«

Tony erinnerte sich an Gainsworth, der auch von Ameisenspuren geredet hatte.

Er wollte Koala antworten, aber dann unterbrach ihn ein Lärm, der langsam anschwoll und sich zum infernalischen Dröhnen steigerte.

 

Das Brausen sauste heran und durchrüttelte die Erde.

Das Geräusch schwoll an, wurde zu einem Donnern und Dröhnen, einem Heulen und Pfeifen, das die Ohren zu betäuben drohte. Tony Tanner konnte sich die Quelle dieses hölli­schen Lärms nicht vorstellen. Bilder monströser Maschinen oder gigantischer drachenartiger Echsen blitzen durch seinen Kopf. Sein erster Impuls war, zu fliehen. Dann aber besann er sich und rannte zusammen mit Steele, der keine Sekunde gezögert hatte und Häuptling Koala auf einen niedrigen Hügelkamm zu, der ihnen die Sicht nahm.

Als er sich keuchend neben Steele auf den Boden warf, war der Lärm so gewaltig, dass er wie Knüppel auf die Ohren einschlug und die Luft zu harten Stoßwellen zu verdichtete.

Tony starrte ungläubig und blickte dann zur Seite, wo Koala Augen und Mund aufriss und den staunenden Steele mit zusammengekniffenen Augen, wie ein Schütze vor dem Abziehen, konzentriert beobachtete.

So etwas hatte Tony Tanner noch nie im Leben gesehen. Was da in weniger als hundert Metern Entfernung an ihnen vorüberzog, erinnerte an ein Flugzeug, aber es war von giganti­scher Größe und es flog unmittelbar über dem Boden, sodass Tony sofort an einen Absturz dachte und berechnete, wie weit die Wolke des explodierenden Kerosins wohl alles zu Asche verwandeln würde.

Aber es war kein Absturz. Das Fluggerät zog mit hoher Geschwindigkeit vorbei, und Tony versuchte, während ihm das Herz bis zum Hals schlug, sich alle Einzelheiten einzuprägen.

Ihm war klar, das dieses Gerät in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ort stand, zu dem sie hinstrebten. Es flog – oder schwebte in dieselbe Richtung.

Tony Tanner kannte sich, berufsbedingt, ein wenig mit Flugzeugen aus. Also konnte er schätzen, dass sich das Fluggerät mit einer Geschwindigkeit fortbewegte, die höher war als die Abhebegeschwindigkeit eines Jumbojets oder selbst einer Concorde. Zwischen 400 oder 500 Stundenkilometern mussten es demnach sein. Wenn Tony sich weiterhin die größten Flugzeuge, die er gesehen hatte, vor Augen führte, sechsmotorige Antonows oder die B-52 des Strategischen US Bomberkommandos, die er einmal zu Gesicht bekommen hatte, als es irgendeinen Kriegserinnerungstag mit königlicher Anwesenheit zu feiern gegeben hatte, dann war dieses Monster da vorne noch um einiges größer.

Tony bemerkte, dass der Rumpf Ähnlichkeiten mit einem Flugboot hatte. Die Piloten saßen in einer rundum verglasten Kanzel, die ihnen auch freien Blick nach unten gewährte. Tony Tanner glaubte, für eine Sekunde zwei oder drei Gestalten hinter frei stehenden Instrumentenborden erkennen zu können. Das Ding war ein Hochdecker, auf den enorm lan­gen und enorm breiten Flügeln saßen drei oder vier Turbinen pro Seite, da war sich Tony nicht sicher. Die Heckflosse ragte so hoch, dass sie auf jedem Flughafen den Tower übertroffen hätte, das Höhenleitwerk war weit oben angebracht.

Als das Ding auf ihrer Höhe war, spürte Tony den heulenden Sog, den es ausübte und merkte, wie sich neben ihm die Sandkörner in diese Luftströmung stürzten und über seine Haut schmirgelten. Er klammerte sich am Boden fest. Sein Hemd flatterte und zerrte, als woll­te es ihn mitreißen.

Die Beobachtungen waren wie Schnappschüsse, die jemand automatisch macht, um sie sich erst hinterher, nach dem Ereignis, in Ruhe anzuschauen und dann erst alles zu begreifen.

Es waren nur einige Sekunden vergangen, da geriet das Fluggerät schon außer Sicht, verbor­gen von der aufwirbelnden Staubschleppe, die es wie einen Lindwurm hinter sich herzog.

Die drei Männer husteten und würgten, als sich der Staub in ihre Richtung bewegte und sie mit rötlichem Puder überzog. Aus der Ferne rollte noch der Turbinendonner, der endlich erstarb.

»Wahnsinn«, hustete Steele. »Ein Ekranoplan.«

»Ein was?«

»Ein Ekranoplan. Ein … ein Bodengleiter, ein Bodeneffekt-Flugzeug.«

»Ich verstehe immer noch nichts«, erklärte Tony Tanner.

Sie waren aufgestanden und gingen die wenigen Schritte bis zu der Stelle, über die das Fluggerät hinweg gebraust war. Deutlich waren die Verwirbelungen auf dem Boden zu sehen. Wo Büsche gestanden hatten, waren sie von dem Sog ausgerissen worden. Es wirkte tatsäch­lich so, als hätte sich eine Riesenraupe durch das Land gewälzt.

»Also?« Tony Tanner schaute Steele auffordernd an. »Was ist ein Ekranoplan oder ein Bodengleiter oder ein Gleitzeug oder was auch immer?«

»Im 2. Weltkrieg hatten die Deutschen riesige Transporter, sechsmotorige Dornier-Flugboote, die ihre Afrika-Armee versorgten. Diese Dinger rauschten im Tiefflug über das Mittelmeer, weil die Piloten merkten, dass sie auf diese Weise Treibstoff sparen konnten. In den 70er oder 80ern haben die Westdeutschen Versuche mit kleinen Flugbooten gemacht, die über der Ostsee operieren und Schnellboote ersetzen sollten. Aber die Sowjets bauten nach dem Prinzip einige große Flugzeuge und nannten sie Ekranoplane. So weit ich mich erinne­re, wurden sie über dem Kaspischen Meer eingesetzt. Die US-Aufklärung bekam zwar per Satellitenbild mit, dass da irgendwas Großes mit riesiger Geschwindigkeit über das Wasser sauste, aber was es war, bekamen sie erst heraus, als die UdSSR schon nicht mehr existierte.«

»Aber das gerade eben, das war kein russisches Ekrandingsbums?«

»Nein, das Ding vorhin war drei- oder viermal so groß wie die sowjetischen Geräte.«

»Bei dieser Staubfahne müssen diese … diese Ekranoplane doch auf jedem Satellitenbild deutlich zu erkennen sein«, mutmaßte Tony Tanner. Steele schaute ihn nur kurz an und zuck­te mit den Schultern.

»Na und? Die australischen Roadtrains wirbeln auch Staub auf. Was kümmert es einen Bildauswerter, ob so eine Staubfahne auf einer offiziell bekannten Piste entsteht oder irgend­wo sonst. Vielleicht hat ein Fahrer sich ja eine neue Route erschlossen?«

»Aber kein Lastwagen zieht eine solche Staubschleppe hinter sich her.«

»Wissen wir das wirklich? Im Übrigen sollten wir uns über eine Sache klar sein – die Genies in Langley sind vor allem eine Erfindung von Hollywood. Ist doch klar – wenn ich aus dem Weltraum Fotos machen kann, auf denen ich unterscheiden kann, ob drei Araber, die zusammenstehen, den Scheitel links oder rechts tragen, dann komme ich mir ganz clever vor. Aber ich weiß noch nicht, was in den Köpfen vorgeht. Reden die drei Araber über ein Geschäft, über Frauen, über Pferde oder über einen Terroranschlag – diese Frage werden mir die Bilder nicht beantworten. Der Witz ist – drei oder vier Bücher, die sich kritisch mit der CIA beschäftigen, wurden im Auftrag der CIA geschrieben. Vordergründig wird über man­gelnde demokratische Kontrolle abgejammert und darüber, dass die CIA-Agenten auf raffi­nierte Weise böse Dinge tun. Aber was damit gesagt werden soll, ist schlicht: Wir können so was, nehmt euch in acht. Das ist die Botschaft.«

»Nun ja, vom CIA hatte ich eigentlich auch keine Hilfe erwartet«, resümierte ein frustrier­ter Tony Tanner.

»Immerhin haben wir jetzt einen Lotsenservice – immer der Spur nach«, erklärte Steele und stapfte zurück zum Wagen.

 

Jetzt erst fiel Tony auf, dass Häuptling Koala keinen Ton gesagt hatte. Einerseits fand er das ganz erfrischend, kamen aus dem Mund des alten Aborigines doch vorwiegend Bosheiten über die Käseärsche. Auf der anderen Seite hatte Koala Tony und Steele an einen heiligen Ort seiner Ahnen geführt und ihnen dadurch Vertrauen erwiesen. Das war für Tony Grund genug, sich bei Koala zu erkundigen, ob alles klar sei.

Der Häuptling zuckte beim Klang von Tonys Stimme zusammen und schaute ihn aus sei­nem staubgepuderten Gesicht an.

»Der Wurm aus Staub wird den heiligen Weg fressen«, flüsterte Koala.

Zuerst verstand Tony nicht. Dann sagte er: »Es waren doch nur ein paar Büsche und geknickte Bäume und …«

Energisch schüttelte Koala den Kopf. Für einen Moment war er von einer Staubwolke umgeben, die aus seinen Haaren aufstieg.

»Es ist eine Prophezeiung. Es ist das, was die Vorfahren gesehen haben.« Koala ver­stummte, schien zu überlegen. Dann brüllte er plötzlich los: »Alles geschieht so, wie die Ahnen es gesehen haben. Ich bin Zeuge. Meine Augen haben es gesehen. Der weiße Dreck lässt die grünen Ameisen aus der Erde.« Damit wandte sich Koala abrupt ab, stampfte davon, drehte sich noch einmal um und rauschte zurück zu Tony, als wolle er ihm wüste Beschimpfungen ins Gesicht schreien. Aber Koala blieb stumm. Für einen unendlich schei­nenden Moment starrten sich Häuptling Koala und Tony Tanner an, dann drehte sich der Farbige um und ging zum Wagen. Tony folgte ihm. Er beobachtete, wie aller Zorn, der Koala eben noch aufgebläht hatte wie einen Ballon voll hochexplosivem Gas, langsam entwich und der Gang des alten Mannes schleppend wurde, wie er in sich zusammenfiel und mühsam und stumm auf die Ladefläche des Pick-up krabbelte.

Sie versorgten sich mit Wasser und fuhren los.

»Was war das eben?«, fragte Steele nach einiger Zeit. »Sah aus, als wollte Häuptling Koala einen Mord an einem Käsearsch begehen.«

»Ja«, bestätigte Tony, »den Eindruck hatte ich auch fast. Er wollte mir stellvertretend für alle Weißen eins auf die Glocke geben. Er behauptet, die Ahnen hätten dieses Fluggleitdings gesehen.«

Steele antwortete nicht und starrte über die Motorhaube auf die Spur von ausgerissenen Büschen und geknickten Bäumen, denen sie folgten.

Schließlich überschritten sie endgültig die Grenze zur Simpsonwüste und rollten über röt­liche Dünenlandschaft. Die Eintönigkeit des steten Auf und Ab schlug Tony ebenso auf die Stimmung wie die Hitze.

Der Himmel hatte sich mit einem grauen Schleier bedeckt, durch den die Sonne als weiß­licher Fleck brannte. Die Luft war trocken und saugte den Schweiß von der Haut wie Löschpapier. Nach einigen Stunden hatte Tony das Gefühl, seine Zunge läge wie ein totes, aufgeblähtes Stück Fleisch in seinem Mund. Zum Glück war ihr Wasservorrat ausreichend und er konnte viel trinken. Aber die Empfindung, ausgedörrt zu werden, blieb und steigerte sich mit jeder Stunde, die sie sich vorwärts kämpften. Schließlich reichte Tonys Notvorrat an Ausreden und Selbstbeschwichtigungen nicht mehr und er musste sich eingestehen, dass es nicht an der Hitze lag oder an der trockenen Luft.

Es war irgendetwas anderes, das hier über der Wüste lag und ihm das Mark aus den Knochen saugte, ihn schwächte und ihn zugleich aufblähte.

»Wenn das so weitergeht, sehe ich aus wie das Michelin-Männchen«, verkündete Tony mit träger Stimme und betrachtete seine aufgedunsenen Finger, die so dick geworden waren, dass sie unangenehm aneinander scheuerten, wenn er sie nicht ganz bewusst abspreizte.

»Das macht die Hitze«, erklärte Steele. Es klang nicht überzeugt. Auch er registrierte, dass irgendetwas vorging. Vielleicht war er nicht so sensibel wie Tony Tanner, vielleicht nicht so hysterisch, vielleicht war er einfach besser in Form. Aber Steele entging nicht, dass etwas Trübes, Niederdrückendes in der Atmosphäre lag, eine Pestilenz der Seele, die jeden Gedanken bleischwer machte und jede Entscheidung durch den zähen Sirup von Zweifel und Zaudern festklebte wie eine Stubenfliege.

So wusste Steele nicht einmal, wie lange er gebraucht hatte, um sich zu einer Rast durch­zuringen. Es mochten Stunden gewesen sein, in denen er stumpf am Lenkrad gedreht hatte und auf den Pfad glotzte, dem sie folgten. Vielleicht hatte er den Gedanken gehabt und ihn sofort verwirklicht, er wusste es nicht.

 

Es war inzwischen dunkel geworden. Häuptling Koala hockte als dunkle Masse auf der Ladefläche und machte keine Anstalten abzusteigen, und die beiden anderen hatten keine Lust, ihn dazu aufzufordern. Steele zwang sich mit aller Energie, die er noch in sich spürte, auf den Weg von routinemäßigen Handgriffen. Er holte Holz vom Wagen, entzündete ein Feuer und begann, die unvermeidlichen Nudeln zu kochen.

Solange er nicht nachdachte, sondern sich blind auf die vertrauten Handgriffe verließ, war alles in Ordnung. Sobald er aber für eine Sekunde von diesem Pfad abwich, schien Steele wie­der in einem Sumpf festzustecken und musste sich mühsam dazu zwingen, mit dem Löffel, den er in der Hand hielt, den Inhalt des Topfes anzurühren oder etwas Holz ins Feuer zu wer­fen.

Koala trat in den gezackten, unruhig springenden Bereich des Feuerscheins. Er trug wei­teres Feuerholz unter dem Arm.

»Das Feuer ist gut«, murmelte er. »Das Feuer verbrennt alles Böse.«

Damit begann er, rund um ihr Lager vier kleinere Feuer anzuzünden.

Tony Tanner fragte sich, ob die Wirkung auf Suggestion beruhte oder ob etwas anders im Spiel war. Jedenfalls fühlte er sich nach kurzer Zeit so erfrischt wie seit Stunden nicht mehr.

Häuptling Koala setzte sich zu ihnen, nahm wortlos seine Ration in Empfang und ver­speiste sie.

»Kennt ihr die Geschichte von Molly Kelly?«, fragte Koala unvermittelt. Er erntete nur erstaunte Blicke aus zwei Augenpaaren. Koala achtete nicht darauf, als wäre die Antwort schon vorher für ihn klar gewesen.

»Keine aufregende Geschichte – Molly Kelly, Mischling, Mutter aus dem Stamm der Mardudjara, Vater weißer Wanderarbeiter. Mit 14 wurde sie aus Jigalong abgeholt und nach Moore River gebracht. Ein Lager, zweitausend Kilometer entfernt, in dem unsere Kinder zusammengepfercht wurden, um sie umzukrempeln. Molly haute ab und ging die ganzen zweitausend Kilometer zurück, zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Cousine. Neun Wochen unterwegs und die Weißen mit Spurensuchern hinter ihnen her. Sie hat es geschafft. Aber nach einigen Jahren haben sie die Weißen wieder geschnappt, wieder das Lager und Molly haute wieder ab, mit ihrer kleinen Tochter, die ältere musste sie bei einer Verwandten im Lager lassen. Sie kam wieder durch.«

»Ich glaube … ich hab da mal einen Film … oder zumindest eine Vorankündigung«, sagte Tony Tanner zögernd in das Schweigen.

»Na und?«, blaffte Koala grob zurück. »Es gab einen Scheißfilm und es gab ein Scheißbuch, nach dem der Scheißfilm gemacht wurde. Ich würde mir mit dem Papier von die­ser Schwarte nicht mal den Arsch abwischen wollen.« Koala starrte vor sich und begann mit den Fingern im Sand zu wühlen.

»Das Schicksal meines Volkes auf dem Nachttisch von Käseärschen, Bettlektüre für diese Drecksäcke von Liberalen, die sich vor lauter Betroffenheit routinemäßig in die Designerhose pissen. Ich könnte kotzen!«, brach es aus ihm heraus. Seine Faust krallte sich um einen Sandklumpen und schleuderte ihn weit in die Dunkelheit.

Im flackernden Schein des kleinen Feuers konnte Tony Tanner das Gesicht des alten Mannes nicht genau erkennen. Es war verzerrt, aber er wusste nicht, ob es Zorn oder Trauer war, die sich in den veränderten Zügen einen Ausdruck schafften. Tony war sicher, dass er etwas sagen musste, dass er etwas tun musste, um der Spannung ein Ventil zu verschaffen. Zwischen den drei Männern herrschte eine Stimmung, als müsste jeden Moment eine Prügelei ausbrechen.

»Wenn dir unsere Käsearschgesellschaft nicht passt, Häuptling«, kam Steeles ruhige Stimme aus dem Dunkeln, »dann kannst du dich ja von uns scheiden lassen. Du bekommst die Kinder und den Hund und die Hälfte vom Wasser und dann zieh Leine.«

»Falsch, ganz falsch«, giftete Koala zurück. »Ich kann nicht Leine ziehen, ich gehöre hier hin, es ist mein verdammtes Land und dieses Land ist ein Teil von mir wie mein Blinddarm oder meine Leber. Ihr könnt eure Käseärsche wieder in ein Flugzeug setzen, die Ozonschicht zerblasen und euch in euer Scheißamerika oder euer Scheißeuropa verziehen, aber ich muss bleiben, das wollte ich euch nur mal klarmachen.«

»Ist angekommen«, sagte Steele. Seine Stimme war immer noch so gelassen und kühl, als würde er sich mit einem sehr höflichen Hotelboy unterhalten.

Tony Tanner räusperte sich. Die krallenartigen Narben auf seiner Schulter begannen zu schmerzen, ein stechender Schmerz, als würde ihm ein Unsichtbarer einen Stachel ins Fleisch stechen, um ihn vorwärtszutreiben.

»Also, ich fürchte«, begann Tony zögernd und lauschte etwas erstaunt dem Klang seiner eigenen, kratzigen Stimme, so als würde sie ihm Mitteilungen machen, die sein bewusstes Ich noch nicht kannte, »… das mit der Scheidung wird wohl nicht so einfach.«

»Warum nicht? Ich kann aufstehen und gehen!«, polterte Häuptling Koala.

»Wohl wahr«, hörte sich Tony sagen. »Du könntest auch darauf verzichten zu atmen oder zu essen. Aber dann erfüllst du deine Aufgabe nicht.«

»Komm du mir nicht mit meiner Aufgabe. Du nicht und auch kein anderer Käsearsch.«

»Dein heiliger Zorn in allen Ehren, Häuptling Koala«, fuhr Tony Tanners Stimme fort, »aber er nutzt weder dir noch jemand anderem, nicht einmal einem räudigen Kaninchen irgendwo in seinem Bau irgendwo auf diesem Kontinent. Du hast uns die Bilder gezeigt, die deine Ahnen auf die Felsen gemalt haben. Ich verstehe nichts davon – aber eines habe ich gesehen – dieses seltsame Wesen mit den sechs Beinen und dem schwarz-weißen Fell. Nicht zwei Beine, nicht vier, sondern sechs. Und kein schwarzes Fell und kein weißes Fell sondern ein schwarz-weiß geflecktes Fell. Also werden wir uns jetzt, verdammte Scheiße noch mal, zusammenraufen, oder wir können die ganze Sache vergessen.«

Es folgte ein erstauntes Schweigen und dann fragte Koala: »Ich habe euch nichts von dem Wesen mit den sechs Beinen gesagt. Ich selbst habe erst durch einen Traum davon erfahren. Woher weißt du davon?«

»Ich weiß es eben«, antwortete Tony Tanner und das war tatsächlich die einzige Antwort, die er geben konnte.

Keiner sprach noch ein Wort. Sie starrten in die langsam verglimmenden Feuer, schlugen zum Schutz gegen die Nachtkälte die Arme um sich und zogen die Beine an und irgendwann schliefen sie alle ein.

 

In der Nacht kam ein heftiger Wind auf. Im Halbschlaf krochen die Männer in den Schutz des Pick-up, um dessen Kanten und Ecken der Wind heulte. Sandkörner rieselten auf sie nie­der und Steele hatte kurz den Gedanken, dass dieser Wind sämtliche Spuren des Ekranoplans verwischen würde.

Am Morgen sah sich Tony von einer rötlichen Sandschicht bedeckt. Der Sand war in sei­nen Ohren, in seinen Haaren, unter seinen Fingernägeln und in seiner Nase. Als er den ersten Schluck trank, würgte er einen Pfropfen aus Schleim, Sand und Wasser herunter.

Steele hatte versucht, den Motor zu starten und musste feststellen, dass der Vergaser ver­stopft war. Mit einem Knurren begann er mit der Reinigung, stellte dann fest, dass der Sand sich in weitere Leitungen hineingedrückt hatte, und kündigte eine längere Reparatur an.

Während Steele in der geöffneten Motorhaube verschwand, streifte Tony in der Umgebung herum.

Er fand Häuptling Koala, der auf einer Sanddüne sah und regungslos in eine Richtung starrte. Tony hatte wenig Lust, dem alten Mann zu begegnen und wollte einen weiten Umweg machen, aber Koala bemerkte ihn, stand auf und ging zu Tony.

»Der heilige Weg ist zerstört«, sagte Koala anstelle eine Begrüßung.

»Und was heißt das?«

»Ich weiß es nicht. Es ist noch nie geschehen. Immer hat es die heiligen Wege gegeben. Ich konnte sie sehen mit meinem inneren Augen. Aber dieser Weg ist zerstört, er ist zerrissen, ich kann ihn nicht mehr weitergehen.«

Trotz der Hitze überkam Tony bei diesen Worten ein Frösteln. Der Himmel war von grau­em Dunst bedeckt, durch den die Sonne nur als schwacher heller Fleck erkennbar war. Trotz der weiten und flachen Wüstenlandschaft nahm der Dunst alle Sicht und umzingelte sie mit matter, stumpfer, trüber, undurchdringlicher Luft. Es hatte etwas Feiges, wie das lauernde Umkreisen von Hyänen und es erfüllte Tony mit einer hilflosen Wut. Er wünschte sich einen Knüppel, um damit schreiend auf den Dunst loszustürmen und ihn in Stücke zu schlagen.

Aus der Ferne glaubte er plötzlich ein Geräusch zu hören. Er erstarrte und lauschte, konn­te aber weiter nichts mehr vernehmen. Koala schaute Tony erstaunt an und hatte selbst wohl nichts gehört.

Plötzlich, als würde ihm ein Schleier von den Gedanken gerissen, wurde Tony klar, dass sie ganz nahe am Ziel waren. Irgendwo in der Nähe, hinter diesem Schleier trüber Luft, ent­stand ein Hyleg. Bisher war das für Tony nichts als ein seltsam klingendes Wort gewesen, um das der Conte di Saloviva auf seine etwas zeremonielle Art viel Aufhebens machte und das in dem Weltbild der Fraternidad eine zentrale Rolle spielte. Aber jetzt spürte Tony Tanner am eigenen Leib, das etwas vor sich ging. Etwas Bedrohliches, etwas Ungutes, etwas Gewaltiges. Er hatte noch das seltsame metallische Donnern im Ohr, er spürte die drückende Atmosphäre und die sonderbar schmeckende Luft, die das Atmen schwer machte. Tonys Unruhe stieg, er begann auf etwas zu warten, das in der nächsten Sekunde geschehen konnte und doch war jede Sekunde unendlich und quälend lang. Seine Nerven schienen durch die Haut zu wachsen und die elektrische Spannung aus der Luft zu saugen.

»Du spürst es auch«, sagte Koala plötzlich. Von hinten hörten sie das vergebliche Orgeln des Anlassers und daraufhin das wilde Fluchen Steeles.

»Und er spürt es auch«, fügte Häuptling Koala hinzu.

»Ja …« Tony schaute sich um. Alles in ihm kribbelte, sein Herz pochte, als könnte er das Knistern einer Zündschnur hören, alles in ihm drängte zur Flucht. Nur weg von hier, nur irgendwie einen Abstand zwischen sich und diesem Ort bringen. Er versuchte ruhig zu blei­ben, biss die Zähne zusammen und musste sich der Bilder erwehren, die ihm durch den Kopf rasten. Es waren undeutliche Erinnerungen an mittelalterliche Gemälde, an Höllenklüfte, aus denen Flammen blakten und an grinsende, missgestaltete Teufel, die schreiende Menschen in diesen Abgrund stürzten. Und er dachte an die Gemälde von Gainsworth, die genau das illus­trierten, was Tony Tanner jetzt empfand.

Mit einem Krachen zündete der Motor des Pick-up. Eine schwarze Abgaswolke zog über die Wüste und Steele hämmerte auf die Hupe.

Tony schob sich wieder auf den Beifahrersitz. Zu seinem Erstaunen kletterte Koala auch in das Führerhaus und setzte sich auf den schmalen Notsitz, der über dem Getriebetunnel angebracht war.

Er deutete die Richtung an.

»Der Weg ist zerstört. Aber ich kann die Reste sehen.«

»Warum tun wir das eigentlich?«, knurrte Steele. »Wir könnten uns doch jeden Tag mit dem nackten Hintern auf eine heiße Herdplatte setzen, das wäre doch irgendwie entspannen­der.«

***

Es gab eine Tatsache, die Dorkas das Warten auf Troigers Anruf noch schwerer machte. Dorkas zermarterte sich den Kopf darüber, betrachtete die Sache von allen Seiten und in allen Einzelheiten und dennoch blieb ein Rest Misstrauen gegenüber Little bestehen. Dorkas selbst vermochte nicht einzuschätzen, ob sein eigenes Misstrauen nur ein Rest war oder eine ziem­lich große und ziemlich störende Masse an Misstrauen. Vor allem misstraute Dorkas seinem Begleiter Little, weil der mit seiner ganz speziellen Sensibilität Dorkas Misstrauen registriert haben musste, sich aber nichts anmerken ließ.

Die Sache wurde von Troiger in die Wege geleitet, aber Little war es, der sie zum Problem machte, indem er eine entsprechende Frage mit einem Och, nichts antwortete und damit log. Aber vielleicht log er ja nicht, sondern wusste es wirklich nicht und dann hatte entweder Troiger einen Irrtum begangen oder etwas war mit Little geschehen, das zu Sorgen Anlass gab.

Dorkas rieb sich müde über die Stirn und rutschte auf der harten Parkbank, um sei­nem gefolterten Gesäß eine Entlastung zu gönnen. Heidelberger Parkbänke schienen einen ganz besonderen Härtegrad zu besitzen. Vielleicht lag es ja auch an einer gewissen Verweichlichung, die durch den Komfort von Collesalvetti hervorgerufen worden war.

Dorkas war allein. Little hatte sich verabschiedet, um zwischendurch zum Hotel zurück­zukehren und sich zu erkundigen, ob Troiger angerufen hatte.

Dorkas schaute der kleiner werdenden Gestalt Littles nach, bis ein kahles Gebüsch ihn verdeckte. Ein leichter Nieselregen setzte ein, und Dorkas schlug den Mantelkragen hoch. Noch einmal suchte er sich alles zusammen, was er wusste und versuchte, es zu bewerten. Sie beide, Dorkas und Troiger hatten in der Bibliothek gestanden und sich unterhalten. Plötzlich war Troigers Gesicht von einem seltsamen Ausdruck des Schreckens verzerrt worden und der alte Mann war zusammengebrochen. Als sich Dorkas über ihn beugte, hatte Troiger etwas wie Ich habe ihn verraten geflüstert. Dorkas erinnerte sich, dass er geschrien hatte und dass hin­ter ihm, wo Little gestanden hatte, das Klappen eines Buchdeckels zu vernehmen gewesen war. Dann war Little gegangen, um Hilfe zu holen und Dorkas hatte Troiger beim Aufstehen geholfen und sie waren gemeinsam durch die verwinkelten Gänge der Privatbücherei geschlurft. In dieser Zeit hatte Troiger es ihm erzählt, aber Dorkas war sich nicht sicher, ob Troiger wirklich klar im Kopf gewesen war oder ob er einfach wirres Zeug gefaselt hatte. Dorkas grunzte, klatschte sich auf die Schenkel und wiegte den Kopf. Eine Kindergärtnerin, die mit ihren Schützlingen auf einem Spaziergang war, spähte zu dem kuriosen Mann hinü­ber und trieb die Kleinen dann zu größerer Eile an. Dorkas bemerkte nichts davon.

Nein, Troiger war völlig klar im Kopf. Selbst als er zusammenbrach, hatte das nichts mit einer geistigen Schwäche zu tun. Es war eine körperliche Reaktion auf einen Schreck, der Troiger durch Mark und Bein gefahren war. Als Dorkas ihn gefragt hatte: »Was ist Ihnen?«, da antwortete Troiger: »Ich habe es vermasselt.« Dorkas verstand den Begriff vermasselt nicht, aber aus dem, was Troiger danach sagte, wurde klar, dass es um einen ganz fürchterli­chen Fehler ging, den Troiger sich zuschrieb. Zuerst hatte Dorkas befürchtete, es ginge um die Berechnungen der Energieströme und der Hylegs. Aber dann schlurften sie durch die Bücherei und hatten diese ungewohnte Nähe zweier, sich aneinander klammernder Menschen, die für beide zugleich peinlich und irgendwie doch angenehm gewesen war.

Dorkas hatte das Gespräch noch wörtlich im Gedächtnis. Er hatte sogar noch den Klang von Troigers Stimme im Ohr und gewann dadurch die Sicherheit, dass Troiger ganz klar im Kopf gewesen war.

»Ich fürchte, Ihr Begleiter hat etwas in die Finger bekommen, was er niemals sehen soll­te. Er nicht und kein anderer Mensch«, hatte Troiger gesagt. Auf Dorkas verständnislose Nachfrage hatte Troiger etwas unwillig Ein Buch natürlich geantwortet und ihm war anzu­merken gewesen, dass ihn die ganze Angelegenheit persönlich sehr erregte.

Endlich begann Troiger zu erzählen. Von einem alten Freund namens Josef Israel Rosenzweig, der ihm 1937 seine Bibliothek vermacht hatte.

»Rosenzweig hatte panische Angst davor, dass die falschen Leute seine Sammlung in die Finger bekommen könnten.«

»Welche falschen Leute?«, hatte Dorkas etwas naiv gefragt.

»Semberger, von Altmeyer und die.«

Die Namen hatten Dorkas nichts gesagt, aber Troiger hatte ihm etwas weitschweifig erklärt, dass die Nationalsozialisten ein starkes Interesse an Esoterik gehabt hätten.

»Natürlich redet man nicht darüber und lässt sich über sozio-kulturelle Voraussetzungen im marxistischen Sinn aus oder übt sich in Vulgärpsychologie. Hitler als verkappter Homosexueller, Himmler als halb homosexuelles Muttersöhnchen und so weiter. Da hat doch vor einiger Zeit so ein englischer Professor behauptet, Hitler habe nur einen Hoden gehabt«, hatte Troiger gesagt. Das Thema war Dorkas unangenehm und er hatte nur mit einem undeut­lichen Murmeln geantwortet.

»Wissen Sie, was es bedeutet, dass Hitler nur einen Hoden hatte? Gar nichts, außer viel­leicht, dass Hitler Engländer war … verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht persönlich …«

»Keine Ursache«, kam die Antwort von Dorkas. »Ich halte von diesem ganzen Kram auch gar nichts.«

»Eben. Mit diesem ganzen Mist verdeckt man nämlich nur die eigentlichen Lehrmeister dieses Wahnsinnigen – Lanz von Liebenfels, der Thuleorden, dieser gesamte Sumpf aus Esoterik, Astrologie, Rassismus, Antichristentum. Satanismus. Sagt Ihnen der Name Hartwig Hundt-Radowsky etwas?«

»Nie gehört«, lautete die Antwort eines neugierig gewordenen Dorkas.

»Rosenzweig hat seine Dissertation über Hundt-Radowsky geschrieben. Eine ziemlich widerwärtige Gestalt – ich meine natürlich Hundt-Radowsky. Hat sich gegen 1840 irgendwo bei Bern totgesoffen. Vorher hat er Bücher geschrieben, in denen er verschiedene Vorschläge machte, wie man die Juden am praktischsten ausrottet, als Sklaven an die Engländer verkau­fen, die Frauen ins Bordell und so. Außerdem hat er die weißen Juden erfunden. Die Engländer zum Beispiel waren weiße Juden, und natürlich war auch Deutschland – er war Deutscher – voller weißer Juden. Das waren diejenigen, die zwar nicht wirklich Juden waren, aber eigentlich doch Juden, weil sie diesem Hundt-Radowsky nicht in den Kram passten.«

»Die Juden als Superbösewichter. Das ist nicht besonders originell.«

»Absolut nicht. Sie waren für Hundt-Radowsky ungefähr das, was die Deutschen oder die Nazis für einen braven Hollywoodproduzenten von heute ist. Egal. Rosenzweig fand jeden­falls heraus, dass Hundt-Radowsky, bevor er durch seinen Suff vollends auf den Hund kam, eine eifrige Korrespondenz mit Auerthaler hatte. Auerthaler hat Hundt-Radowsky mit Geld versorgt, obwohl ihm klar sein musste, dass dieser es nur in Alkohol anlegen würde.«

»Er hat also mitgeholfen, dass sich dieser Hund zu Tode getrunken hat?«

»Rosenzweig hat das vermutet. Es ist so, dass Auerthaler Hundt-Radowsky diese antise­mitischen Geifereien mehr oder weniger gestohlen hat. Er hat den weißen Juden durch den Seelenjuden ersetzt und konnte dadurch theoretisch jede Form von Vernichtung gegen jeden rechtfertigen, der ihm im Weg stand. Der Seelenjude war die Erbsünde. Manche Menschen waren ohne diese Erbsünde, das war die Elite, die über jeglicher Moral stand. Moral, also christliche Moral war sowieso nur ein Trick des Judentums. Wo Hundt-Radowsky Jesus noch zum Arier gemacht hatte, schaffte Auerthaler den Nazarener ab.«

»War dieser Auerthaler so etwas wie ein Satanist?«, hatte Dorkas vorsichtig gefragt.

»Sie haben es mit Ihrem Scharfsinn sofort erkannt, mein teurer Freund. Auerthaler war bekennender und praktizierender Satanist. Gott war für ihn nichts als ein unverschämt über­heblicher Judenbengel, und Luzifer war der Lichtengel, der sich gegen diese himmlische Judenmischpoche stellte und dafür fürchterlich gestraft wurde. Die Hölle war also mehr oder weniger der einzige Ort ohne Juden. Lauter arische Teufelchen, es muss besser gewesen sein als bei einer SS-Feier. Verzeihung … kleiner Scherz sollte das sein. Auerthaler gründete in Wien einen esoterischen Zirkel, der sich einer gewissen notorischen Beliebtheit wegen seiner Orgien erfreute. Es gab unerfreuliche juristische Untersuchungen, weil bei diesen Orgien eini­ge junge Mädchen zu Tode gekommen sein sollen. Dass die Mädchen Sarah oder Rachel hie­ßen, sollte eigentlich niemanden besonders verwundern.«

»Sehr interessant«, war es von Dorkas gekommen, der inzwischen schon gekeucht hatte, weil er das Gewicht von Troiger kaum noch halten konnte. Trotzdem war es wirklich interes­sant, was Troiger erzählt, nur verstand Dorkas den Zusammenhang nicht und er sagte es auch.

»Der Zusammenhang wird gleich deutlich werden, mein Freund. Auerthaler soll angeb­lich den Verstand verloren haben, so genau weiß man es aber nicht. Er starb unter unklaren Umständen in einem brennenden Haus. Sein Nachlass wurde von Mitgliedern seines Zirkels verwaltet und schließlich kam er zu einem Wiener Buchhändler – Salomon Fischel, da sage noch einer, das Schicksal oder der Zufall hätte keinen Sinn für Ironie. Von diesem Fischel kaufte Rosenzweig die Bücher. Die andere Seite der Geschichte ist, dass sich der Zirkel der Satanisten auflöste, aber natürlich nicht verschwand. Es bildeten sich verschiedene Gruppen, Zirkel und Orden, die sich teilweise gegenseitig magisch oder sehr handfest bekriegten. Um es kurz zu machen, sie bildeten genau jenen Humus aus Rassismus, Größenwahn, Geilheit, Verklemmung und Erwählungsfantasien, in dem das Pflänzlein Adolf Hitler aufwuchs. Hitler und Wien, ein sehr interessantes Thema.«

Troiger verstummte.

»Mein Freund Rosenzweig saß also auf dem Erbe von Auerthaler und seiner Satanistenbrut und fügte die Bücher der Bibliothek seiner Schule des kabbalistischen Weistums ein. Er fand das außerordentlich witzig. Nun gut, ich komme jetzt zum Kern der Sache.«

Dorkas verschränkte die Arme und zog, wie eine verärgerte Schildkröte, den Nacken so weit es ging in den hochgeschlagenen Mantelkragen hinein. Diese Parkbank im herbstlich vernieselten Heidelberg war sicherlich nicht der Ort, an dem er die German Gemütlichkeit in ausreichendem Maße genießen konnte. Dennoch passte der Ort zu der Stimmung, in der sich Dorkas gerade befand, und aus dieser Tatsache heraus wäre ihm im Moment gar kein anderer Ort eingefallen, der seinen Bedürfnissen eher entgegengekommen wäre. Mit der Ausnahme eines walisischen Friedhofs um Mitternacht vielleicht.

Den vorsichtigen Seitenblick, den Little ihm zuwarf, registrierte Dorkas nicht. Er legte das Kinn auf die Brust und erinnerte Little an eine Mischung aus Napoleon bei Waterloo, Mussolini, der befriedigt den Beifall der Menge entgegennimmt, zusätzlich mit etwas Patton, der über Taktik brütet und einem Schuss Der Denker von Rodin. Alles in allem keine Mischung, die Little zu besonderem Entzücken herausgefordert hätte – zumal er selbst eini­ges hatte, über das er nachdenken musste. Little hatte einen üblen Verdacht, was ihren Gewährsmann Troiger anging, eine Vermutung, die ein anderes Licht auf die Fraternidad warf und es zudem schwer machte, Dorkas, dessen Freundschaft zu Troiger ebenso so groß war wie das Vertrauen, das er in den Deutschen setzte, zu einer Aussprache zu bewegen.

Little schabte nervös mit den Sohlen über den nassen Asphalt des Parkweges. Er holte tief Luft, um den einen entscheidenden Satz herauszupressen und sank dann wieder in sich zusammen. Nein, dieser Moment war nicht geeignet, um Dorkas die Wahrheit über seinen Freund Troiger zu sagen.

»Ich gehe mal ins Hotel. Horchen, ob ein Anruf von Troiger gekommen ist«, erklärte Little und erhob sich. Als Antwort kam nur ein kurzes Grunzen, als akustischer Blankoscheck, auf dem er sich alle Varianten selbst notieren konnte. Zögernd drehte sich Little um und ging dann den Weg in Richtung Parkausgang entlang.

Dorkas rollte das Kinn ein wenig zur Seite, so, dass er Littles kleiner werdender Gestalt mit den Augen folgen konnte, bis sie hinter einem Busch, in dessen kahlen Ästen letzte Blätter wie die Notsignale Schiffbrüchiger flatterten, verschwand. Ein Schauer überlief ihn. Es war weniger die Kälte als das, was Troiger ihm gesagt hatte.

Es war nicht so, dass Dorkas aus purer Lebensfreude vor sich hinmurmelte, noch aus einem eklatanten Mangel derselben, obwohl die Gesamtlage eher letztere Variante wahr­scheinlich gemacht hätte. Er wiederholte vielmehr jenes Gespräch, das die Ursache seiner Besorgnis war. Dorkas konnte sich an jedes Wort erinnern, er hatte sogar noch den Klang und den Tonfall von Troigers Stimme im Ohr, als würde in seinem Kopf ein Tonband abgespielt.

»Sie hätten Rosenzweig kennen sollen«, hatte Troiger seine Ausführungen fortgeführt. »Er war groß, blond, blauäugig, sozusagen das Ideal jedes arischen Rassisten, er war gebildet, intelligent, charmant, hatte Beziehungen und verfügte über beträchtliche Geldmittel. Das erklärt, warum er der Machtergreifung der Nationalsozialisten zuerst mit einer Art von amü­siertem Ekel zuschaute, sozusagen das übliche Naserümpfen des Intellektuellen, wenn die Massen aufmarschieren. Er hatte Hitlers Buch gelesen, ich meine Mein Kampf und ich glau­be, er fühlte sich in gewisser Weise geschmeichelt – zu einer derartig verworfenen Rasse zu gehören, wie die Nazis es von den Juden behaupteten, das war für Rosenzweig so ungefähr, als wäre er Mitglied der übelsten Räuberbande des Universums. So eine Art von kindischer Romantik gehörte auch zu seinem Wesen. Im Übrigen hielt er Hitler nicht für einen Politiker, sondern für einen der vielen, durch den Weltkrieg traumatisierten Künstler, die in der Nachkriegswelt genau das richtige Material fanden, um es nach ihrem Willen zu formen. So lebte er also einige Jahre unbehelligt, als seine Glaubensbrüder schon übelsten Schikanen unterworfen waren. Ich fürchte, in dieser Hinsicht war er nicht besonders solidarisch. Aber eines Tages kam er in meine Wohnung und wirkte völlig aufgelöst. Wissen Sie, mein Freund, ich erkannte das daran, dass Rosenzweigs Binder keinen perfekten Knoten hatte. Ansonsten hatte er sich wie immer völlig in der Gewalt, aber diese Einzelheit sagte mir, dass etwas pas­siert sein musste. Ich konnte niemals herausfinden, was es war. Jedenfalls eröffnete mir Rosenzweig, dass er seine Schule des kabbalistischen Weistums aufgelöst hätte und das Land verlassen würde. Er hatte sich entschlossen, in die Türkei zu gehen, genauer, nach Istanbul. Dann vertraute er mir etwas an und nahm mir einen heiligen Eid ab. Am nächsten Tag ver­schwand er. Er hatte mir versprochen, sich brieflich bei mir zu melden, aber ich habe nie wie­der etwas von ihm gehört.«

Hier wollte Troiger weitersprechen, aber seine Stimme versagte, der letzte Satz hauchte aus und wirkte wie eine zerflatternde Rauchfahne aus einem Scheiterhaufen, der aus Freundschaft und Vertrauen aufgetürmt ist.

»Das war sicherlich sehr schwer für Sie«, hatte Dorkas ziemlich hilflos gemurmelt. Und dabei hatte er sich doch gefragt, wann Troiger endlich auf den Kern der Sache kommen würde.

Aber jetzt hielt es Dorkas nicht länger auf der unbequemen Parkbank. Er stand auf, ver­schränkte die Hände auf dem Rücken und stemmte sich gegen die Nieselböen. Die Nässe drang durch die aufgeplatzten Seitennähte in seine Schuhe, aber Dorkas nahm es als eine geradezu naturnotwendige Ergänzung zu den Unbilden des Wetters.

Während er Schritt vor Schritt setzte, dachte er nach. Er hatte sich ermahnt und die moder­nen Kommunikationsmöglichkeiten genutzt, um in Collesalvetti Erkundigungen über Hundt-Radowsky einzuziehen. Troiger war in allen seinen Behauptungen bei der Wahrheit geblie­ben. Dorkas hatte zwar nichts anderes erwartet, war aber heimlich dennoch beruhigt gewesen. Das aber war jetzt nicht das Problem, dessentwegen er seine Stirn in grüblerische Falten zog. Er dachte vielmehr an diesen hasserfüllten Antisemiten Hundt-Radowsky, der sich selbst zu einem geistigen und moralischen Wrack herabgesoffen hatte, als hätte sich sein Hass, sein geballter Antisemitismus, plötzlich umgewendet und hätte ihn selbst an der Gurgel gepackt und geschrien Du bist doch selbst der Jammerjud, der dreckige, und nun vernichte dich gefälligst selbst, denn für dich darf kein Platz sein in der Welt. Diese Überlegung wiederum führte Dorkas zu der Frage, ob der Mensch zum Gut-Sein zugleich ein wenig Glücklich-Sein brauchte, damit er nicht mit den heißen Kohlen des Selbsthasses nach den anderen werfen musste, um sein seelisches Gleichgewicht zu erhalten. Von dort aus kam Dorkas zu dem christlichen Mythos vom Fall Luzifers – Dorkas wunderte sich selbst ein wenig, warum sich gerade diese Gedanken in seinem Kopf bildeten, aber sie schienen recht logisch in seine Über­legungen zu passen – des von Gott am meisten geliebten Engels, der von Ehrgeiz besessen war und was ist Ehrgeiz anders als eine Form des Sich-selbst-nicht-Mögens, weil man hier ist und nicht ein Stück weiter oben. Das Christentum, oder vielmehr die Religionen an sich, schienen hier der Wahrheit mal wieder sehr nahe gekommen zu sein, denn wen mag man sich unglück­licher vorstellen als den Satan, während menschliche Güte ja immer auf dem Fundament eines kleinen Fetzchens Glück steht, das da heißt, der Erlöser ist für dich gestorben oder Gott ist groß oder Zeus ist gnädig oder was auch immer.

Andererseits war es wohl so, dass es das Böse gar nicht zu geben schien, weil kein Mensch und erst recht nicht Luzifer, dieser pubertäre Dauerrebell, wirklich etwas Böses tut, sondern immer nur etwas, das er für gut hält, auch wenn die Gesellschaft oder die Richter oder die Siegermächte es als böse einstufen. Und für den Notfall berief man sich auf ein überge­ordnetes Gutes, das seinen güldenen Schein auf das Böse warf und es zu einer Vorstufe des Guten machte. Manche Menschen schienen das Gute gepachtet zu haben. Eltern beispielswei­se. Sie erzogen ihre Kinder, für die Erziehung das Böse in Reinform sein konnte, um das Gute einer vollendeten Erziehung zu bewirken, in der Hoffnung, dass sich die Kinder irgendwann einmal für jeden Rutenstreich bedanken werden und ihren eigenen Kindern eine gleichartige Behandlung angedeihen ließen. In diesem Moment wehte Dorkas kurz eine Erinnerung an eine dunkle Kammer an – er wusste nicht genau, woher diese Erinnerung kam, vielleicht war sie Teil seiner Kindheit gewesen, vielleicht real, vielleicht als Drohung, vielleicht als Furcht. Aber sie stand vor seinem inneren Auge als Kontinent des Schreckens, auf den man den klei­nen Dorkas verbannen konnte, eine Menagerie von Albtraumgestalten, die nur darauf warte­ten, aus seinem Kopf zu springen und ihn zu zerfetzen. Hiob – Dorkas hämmerte den Namen wie einen Sicherungsnagel ein, um der bedrängenden Erinnerung zu entfliehen. Hiob – das Theodizee-Problem – der Gott, der die Menschen prüft, der das Böse schickt oder es zumin­dest zulässt, weil sein Allmachtsblick das Gute hinter dem Hügelkamm des Bösen zu erken­nen mag, während sein Geschöpf sich noch in Qualen windet und wenig göttliche Fürsorge darin zu erkennen vermag, dass es nun von Krebsgeschwülsten aufgefressen werden darf … Die Moslems waren zumindest in der Urform ihrer Religion konsequenter und belästigten ihren Gott nicht mit menschlichen Kindereien. Allah gab und nahm, weil er Allah war. Dorkas vermochte, wenn er sich den Zustand der Welt anschaute, ein wenig von dem Duft islamischer Mystik aufzunehmen. Angesichts einer recht gedankenlosen Religionslosigkeit der westli­chen Zivilgesellschaft und einem offiziellen, hinter Wortklauberei und äußerlichem Brimborium versteckten, kalt berechnendem Atheismus, schien ihm alleine der Gedanke, dass es so etwas gibt wie eine höhere Instanz, als Kostbarkeit. Mochte dieser Gott gütig sein oder sich keinen Deut um seine Geschöpfe scheren, es reichte zu wissen, dass er da war. Von hier aus, und weil ihn unbewusst die Impulse einer inneren Pein erreichten, gelangte Dorkas zu dem Bild eines Atheisten, dem im tiefsten Höhlensumpf der Dreizack eines eifrigen Unterteufels in den Gottesleugnerarsch gerammt wird und der darob in Jubelgesänge aus­bricht, weil die Tatsache, dass er in der Hölle gelandet ist, ihm endlich als Beweis für die Existenz Gottes dient, was den Atheisten nicht nur zum Gläubigen, sondern zum Glücklichen macht, wodurch zu Dorkas Verwirrung die Hölle ein Ort des individuellen Glücks, mithin zum Paradies geworden wäre und also mitnichten mehr als Hölle zu bezeichnen wäre. Es sei denn, der Teufel wäre dem Kosmos erhalten geblieben, während Gott, vielleicht aus bloßem Ekel über seine missratenen Geschöpfen gestorben wäre, was aber wiederum bedeuten würde, dass er nicht Gott war, weil Gott nicht aufhören kann, zu existieren und sich natürlich ande­rerseits die Frage eröffnete, was das Böse, also der Teufel, ohne den Gegenspieler bei dem kosmischen Match anfangen sollte, außer auch seinerseits vor lauter Langeweile einzugehen.

An dieser Stelle drängte sich Dorkas nun eine seltsam wichtige Frage auf, nämlich ob er es riskieren sollte, sich hinter diese dicke Buche zu stellen und seine ächzende Blase von ver­dauten Überresten der zwölf morgendlichen Tassen Tee zu entlasten oder ob er damit in Gefahr geriete, sich außerhalb der Zaunpfähle der Kultur zu bewegen und des Exhibitionismus verdächtigt zu werden.

Eine Weile überlegte Dorkas und wog Gut und Böse ab, bis er nervös auf der Stelle trip­pelte und sich schließlich von seinem Instinkt hinter den Baum gezogen fühlte. Die Situation war ihm ebenso peinlich wie fremd und er stand vor einigen handwerklichen Problemen, bis er unter gymnastischen Verrenkungen alle Maßnahmen soweit getroffen hatte, dass er sich nun ganz der Erleichterung widmen konnte.

Das getan setzte Dorkas seine Stoffhüllen wieder in den Zustand des Vorher zurück und steckte sodann vorsichtig den Kopf heraus, um eventuelle Passanten vermeiden zu können. Schließlich gewann er mit hüpfenden Schritten den nassen Weg und schritt geradewegs aus. In ihm brummte mit tiefem Bass die Befriedigung, eine urmännliche Handlung vollzogen zu haben, geradezu eine Initiation in die Gefilde echten Mannestums. Die Euphorie schwand schlagartig, als er einer Gestalt ansichtig wurde, die sich ihm näherte. Der Verdacht, dieser Mensch könne seine Aktion trotz aller Vorsichtsmaßregeln beobachtet haben, floss Dorkas wie Eiswasser den Nacken herab. Er drehte sich um und stiefelte eilig in der Gegenrichtung davon. Aber ein unbewusster Impuls zwang ihn dazu, sich noch einmal umzuschauen. Der Unbekannte war Little, der nun seinerseits die wenig verwechslungsfähige Außenansicht von Dorkas erkannt hatte und die Hand zum Winken hob.

Dorkas versenkte erneut seine Hände in den Taschen, wartete auf den heranschlendernden Little und spulte die Erinnerung an sein Gespräch mit Troiger weiter ab.

Dorkas hatte, während er mit dem hinfälligen Troiger dem Ausgang der Bibliothek zuge­strebt war, über die Doppeldeutigkeit der Wendung Er vertraute mir etwas an gegrübelt. Hatte Rosenzweig Troiger ein Geheimnis anvertraut oder einen Gegenstand?

Schließlich hatte Dorkas etwas zögernd gefragt.

Troigers Antwort kam erst nach einer Weile. Er hatte inzwischen so geschwächt gewirkt, dass Dorkas Zweifel hatte, ob sie überhaupt die Tür noch erreichen würden. Schließlich straff­ten sich Troigers Züge wieder. Man konnte merken, wie sich der kranke Greis mit ungeheu­rer Energie und einem Willen, den Dorkas nur bewundern konnte, selbst wieder aufrichtete.

»Sowohl als auch«, hatte Troigers Antwort gelautet. »Es war ein Buch. Aber eben nicht irgendeines. Es handelte sich um ein Exemplar aus dem Fundus der Wiener Satanistenloge. Um ein ganz spezielles Exemplar. Rosenzweig hatte durch einige Bekannte erfahren, dass die Abteilung XIII des Reichssicherheitshauptamtes von dem Buch wusste und intensiv danach suchte.«

»Die Abteilung Esoterik der SS, sehe ich das richtig?«, hatte Dorkas nachgefragt.

»Absolut. Die Leute, die Otto Rahn bei seinen Gralsforschungen unterstützt hatten, die nach Beweisen für die Welteistheorie suchten und in Tibet esoterische und rassische Forschungen betrieben. Sie können sich denken, werter Freund, dass Rosenzweig es nicht für opportun hielt, dieses satanistische Werk in die Hände der neuen Machthaber fallen zu las­sen.«

»Ich nehme an, dass dieses Buch etwas ganz Besonderes war.«

»In der Tat«, hatte Troiger genickt. »Wenn ich einen modernen Vergleich wählen darf, es wäre gewesen, als hätte man den Nazis eine Atombombe geschenkt. Manchmal denke ich, dass die V-Waffen, diese gegen Ende des Krieges immer propagierten Siegwaffen, die von der Propaganda angekündigt wurden, als ob sich diese Hoffnung auf … na ja, lassen wir das.«

»Warum bekamen gerade Sie dieses Buch?«

»Ich war Rosenzweigs bester Freund. Er vertraute mir und er wusste, dass ich von meiner Stellung her – alte Offiziers- und Beamtenfamilie – ziemlich sicher war. Soweit in der Hitlerzeit überhaupt jemand sicher sein konnte, meine ich. Er nahm mir einen heiligen Eid ab, dieses Buch zu bewahren und nicht herauszugeben und dafür zu sorgen, dass niemand auch nur einen Blick in dieses Buch werfen würde, einschließlich meiner eigenen Person.«

»Warum vernichtete Rosenzweig das Buch nicht einfach, wenn er es für derart gefährlich hielt?«, wollte Dorkas wissen.

»Sie wissen doch, die Juden und ihr Respekt vor dem geschriebenen Wort«, kam die Antwort. »Rosenzweig hätte es nicht über sich gebracht. Im Übrigen … wissen Sie, wie oft man zwischen 1933 und 1945 versucht hat, Hitler zu töten? Es war mehr als ein Dutzend Mal. Und wer hat Hitler schließlich getötet? Er selbst!«

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Es ist doch offensichtlich, mein werter Freund: Nur Hitler konnte Hitler töten. Und Rosenzweig war der Überzeugung, dass dieses Buch sich nur selbst vernichten könne. Aberglaube sicherlich, aber er wollte es nicht riskieren, diesen Aberglauben durch Versuch zum Faktum zu machen.«

»Ich nehme an, Sie haben die Geschichte mit dem Buch nicht geglaubt?«, forschte Dorkas nach.

»Nun, ich kannte Rosenzweig und seine manchmal etwas exaltierten Gedankenkonstruktionen. Wissen Sie, Rosenzweig war in gewisser Weise ein typisch Jüdisch-Berliner Mischmasch.«

»Mischm…???«

Für Dorkas klang das Wort wie Mischna und er vermutete einen hebräischen Spezialausdruck, der ihm bisher unbekannt gewesen war.

»Eine Mixtur, werter Freund. Er war in durchaus orthodoxer Tradition aufgewachsen. Sein Großvater, glaube ich, war ein sehr strenggläubiger Rabbi. Da haben wir die Spitzfindigkeiten, die Wortklauberei und die Wortmystik. Rosenzweig kannte den Sohar aus­wendig. Aber er erlebte auch den Zusammenbruch des Kaiserreiches, diese Fiebrigkeit, die­ses Gefühl, das alles, an das man vorher glaubte, zu Klump gehauen ist und man nun zu neuen Ufern streben darf und zugleich muss. Wissen Sie, die goldenen Zwanziger – für die einen waren das die Tingeltangel-Girls mit Bubikopf und kurzen Paillettenkleidern und für andere fand der Tingeltangel auf geistiger Ebene statt. Alles war schrill und aufgeregt und überspitzt. Ein bisschen wie Rosenzweig eben. Aber ich musste feststellen, dass Rosenzweig untertrie­ben hatte.«

»Die Sache mit dem Buch stimmte also?«

»Nun, ich stellte fest …« Troiger senkte seine an sich schon leise Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern, »… das Buch wandert.«

»Wie bitte??«

»Das Buch wandert. Ich stellte es in den Giftschrank im Obergeschoss. Dort stehen Hitlers Mein Kampf, einige satanistische Bücher, die Werke von Sade … und eben dieses besagte Buch. Aber eines Tages fand ich es in einem Regal im Untergeschoss. Es war aus dem verschlossenen Schrank verschwunden und dort unten, neben einigen Werken, die ich öfter aufschlug, aufgetaucht. Ich stellte es sofort wieder zurück, aber als ich nach einigen Wochen den Schrank erneut öffnete, war es wieder verschwunden und ich fand es nach Jahren im ers­ten Stock wieder. Seitdem ist es allerdings verschwunden.«

»Das klingt so, als ob das Buch aufgeschlagen werden WOLLTE«, mutmaßte Dorkas.

»So ist es, und wissen Sie warum? Es enthält einige Holzschnitte, darunter auch, von sei­ner eigenen Hand geschnitten, ein Selbstporträt des …« Hier verklang Troigers Stimme zu einem Murmeln, aber Dorkas hatte verstanden und wurde von einem Schaudern geschüttelt.

»Vorhin«, fügte Troiger noch an, »vorhin überkam mich das fürchterliche Gefühl, nein, es war eher eine Gewissheit, das ich meinen Eid gebrochen habe.«

»Sie meinen … mein Begleiter …?«

»Wenn es so sein sollte, dann ist er eine Gefahr. Rosenzweig versicherte mir, einer seiner Schüler, ein Blinder, habe die entsprechende Seite versiegelt. Aber die Kräfte, die diesem Buch innewohnen, werden Wege finden, um dieses schwächliche Hindernis zu überwinden. Und wenn ihr Herr Begleiter …, dann … dann …«

»Ich verstehe!«, hatte Dorkas gesagt.

»Was verstehen Sie«, kam die Stimme Littles und riss Dorkas aus seinen Gedanken. Ohne es zu wollen, musterte Dorkas den Amerikaner mit größerer Aufmerksamkeit, als es bei die­ser kurzen Trennung angebracht war. Little bemerkte es nicht, denn seine Gedanken waren mit einem schweren Problem beschäftigt.

»Troiger hat angerufen. Wir sollen sofort zu ihm kommen und uns beeilen. Anscheinend geht es ihm schlecht.«

»Dann los!«

Dorkas stapfte den Weg herunter, zögerte und drehte sich dann um, weil er die falsche Richtung gewählt hatte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir zu Troiger gehen sollten«, sagte Little plötzlich. Dorkas machte noch drei Schritte, dann blieb er wie angewurzelt stehen und starrte Little an.

»Nicht zu Troiger gehen? Ich verstehe nicht ganz«, stammelte er.

»Troiger ist ein Nazi. Oder war einer, besser gesagt. Oder er hat zumindest von den Nazis profitiert, um seine Bücherei aufzubauen.«

Dorkas kam langsam näher. Ohne die Sohlen von Boden zu heben, wie ein Pinguin, schlurfte er heran, bis er so nahe vor Little stand, dass die äußerste Ausbuchtung seiner Leibesfülle an den Gürtel des Amerikaners stieß.

»Wie kommen Sie zu dieser Behauptung?«

»Weil er in seiner Bücherei Werke hat, die Exlibris mit eindeutig jüdischen Namen haben und Adressen aus Berlin.«

»Das beweist doch gar nichts.«

»Für mich schon«, stieß Little hervor. Seine eigene Stimme klingelte ihm seltsam schrill in den Ohren.

»Was für Namen denn?«

Diese Frage hatte Little befürchtet. Er wusste, dass es einen Namen gab, er lag ihm auf der Zunge, aber immer, wenn er zugreifen wollte, löste sich der Name wieder in Nichts auf, in einen bloßen Nachhall, dem man keinen Ton zuordnen konnte. Little lauschte mit ange­strengt gerunzelten Brauen in sich und formte unbewusst mit den Lippen eine Reihe von Namen.

»War der Name vielleicht Rosenzweig?«, half ihm Dorkas mit lauerndem Unterton.

Energisch schüttelte Little den Kopf. Nein, Rosenzweig war es sicherlich nicht.

»Unfug, alles Unfug«, grollte Dorkas im Weitergehen. »Kommen Sie, Herr Little. Für meinen Freund Troiger lege ich meine Hand ins Feuer.« Für Sie allerdings nicht mehr, ergänz­te er insgeheim und hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge.

Hinter ihm trottete Little, der sich fragte, warum er diesen Aufstand überhaupt gemacht hatte, welcher Teufel ihn geritten hatte, eine derart blöde und unbewiesene Anschuldigung gegen ein Mitglied der Fraternidad zu erheben. Der Spalter, fuhr es ihm durch den Kopf, der Versucher, der Verführer, der Spalter … Er lauschte in sich, horchte in sich, grub sich um und schauderte zurück, weil er einen Schatten registrierte, etwas in ihm selbst, das ihm unbekannt schien und von dem er nicht wusste, ob es schon immer zu ihm gehört hatte.

Troiger empfing beide Besucher an seinem Schreibtisch. Sein Handschlag war so schwach und zugleich so kalt, als wäre alles Lebendige aus ihnen gewichen und hätte sich in Troigers Augen, die wach und scharf blickten, konzentriert. Er zog eine Schublade auf und suchte nach einem Schlüssel. Als er ihn gefunden hatte, erhob er sich mit Dorkas’ Hilfe, ließ die Lade aber offen stehen.

»Gehen wir, wir haben einen weiten Weg«, flüsterte Troiger und schob sich an den Regalwänden entlang. Nachdem sie sich eine lange Zeit durch die Gänge zwischen den Regalen vorwärtsbewegt hatten, kamen sie zu einer Wand. Troigers zitternde Greisenhand begann, das schmale Stück freier Tapete abzuklopfen. Nach einigen Versuchen klang es hohl, und er bat Dorkas, eine Tapetentür aufzudrücken. Der Raum dahinter reichte gerade aus, um die Tür zur Hälfte aufschwingen zu lassen. Dann stieß sie gegen eine massive Stahltüre, auf der Dorkas in altertümlicher Schrift das Wort Luftschutz erkannte. Troiger konnte den rich­tigen Schlüssel in das Loch stecken, um ihn zu drehen, brauchte er wieder Hilfe.

Quietschend schwand die Stahltür auf. Kalte Luft, voller Modergeruch und Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen.

»Auf der rechten Seite ist ein Lichtschalter«, erklärte Troiger. Dorkas tastete und drehte schließlich den altmodischen, lautstark klackenden Bakelitschalter. Einige Glühbirnen leuch­teten auf. Trotzdem brauchte Dorkas eine Weile, bis er in dem dunklen Loch, vor dem er stand, Einzelheiten ausmachen konnte. Dann erst erkannte er eine steile Eisentreppe, die tief unten in einem weiß gekalkten Gang endete.

»Müssen wir da nach unten …«, erkundigte er sich überflüssigerweise und ohne Hoffnung.

»Stellen Sie sich einfach vor, mein Freund, die Engländer würden einen Luftangriff flie­gen … dann werden Sie liebend gerne in dieses Loch klettern, ich spreche aus Erfahrung«, ant­wortete Troiger sarkastisch.

»Ich danke Air-Marshall Harris für seine Mithilfe«, knurrte Dorkas und schob sich dann, das Hinterteil voraus, vorsichtig die Treppe hinunter. Little wollte Troiger helfend unter die Arme greifen, registrierte aber eine kaum merkliche, wohl auch unbewusste Abwehrbewegung des alten Mannes und lenkte seine hilfreiche Geste zu einem verlegenen Nasereiben um.

Es dauerte lange, bis sie unten waren, und manchmal schien es, als hätte sich Troiger zu viel zugemutet. Aber er kam doch unten an, schwankte zur Wand und lehnte sich gegen den feuchten Stein. Seine Stirn war mit Schweißperlen bedeckt und er atmete keuchend in der sti­ckigen Feuchte.

»Gehen wir«, flüsterte Troiger endlich. »Hier entlang.«

Fortsetzung folgt …