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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.9

Die Hyleg-Schädel – Teil 9

Little überkam die erschreckende Vision, alle diese Bücher könnten von den Regalen stür­zen, auf die drei Männer niederprasseln wie Steinbrocken in einer Gebirgsklamm und sie erschlagen. Dorkas alleine mit seiner nicht unbeträchtlichen Breite hatte schon Schwierigkeiten, sich durch die engen Gänge zu schieben. Jetzt, wo er mit Troiger zusammen ging und immer an den Regalen entlangschrammte, schienen die Bücherwände in leises Schwanken zu geraten. Little war froh, als sie den Raum verlassen hatten.

Aber der angrenzende Raum sah nicht besser aus. Die Wände waren hier ebenfalls mit Bücherregalen bedeckt, und auch hier war, mit Ausnahme der schmalen Gänge zwischen ihnen, jeder weitere Quadratzentimeter an Fläche von hohen, bis zur Decke reichenden und von Büchern überfüllten Regalen bedeckt.

Troiger zögerte, als sie diesen Raum betraten, wandte sich nach einiger Überlegung einem Gang zu, an dessen Ende sie auf einen Quergang stießen. Wieder musste Troiger überlegen, bevor er sich nach links wandte. Dort aber kamen sie an eine Sackgasse, gingen ein Stück zurück, durch einen weiteren Gang. Schließlich lehnte sich Troiger erschöpft an ein Regal. Das Holz gab ein bedenkliches Knarren von sich.

»Ich muss mich erst einmal orientieren«, erklärte Troiger, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. Dann zog er einen Band aus dem Regal und betrachtete den Titel.

»Abhandlungen der geophysikalischen Abteilung der Universität Reval von 1902«, las Troiger laut. Dann bat er Little und Dorkas, in entgegengesetzte Richtungen zu gehen und am Ende des Ganges jeweils ein Buch aus dem Regal zu ziehen.

»Recherches sur les Nomades d’ Afrique du Nord sive Les Voyageurs du sable par Matthieu de Parchonne, Cargassogne, 1892«, entzifferte Dorkas mit einigen Schwierigkeiten.

»Spektakulum Mundi, Nachdruck, 1907, Danzig«, kam es von Little.

»Ja, danke!«. Troiger lehnte immer noch an dem Regal und rieb sich nachdenklich die Nase. Dann winkte er Dorkas zu sich heran.

»Schauen Sie doch bitte nach – kommen Sie hierhin, hierhin, ja richtig, noch ein Stück bitte, halt, jetzt einen Schritt zurück! – ob in dem Regal über Ihnen ein Buch von Hacquet steht?«

Dorkas machte sich auf die Suche. Außer seinem Schnaufen war kein Ton zu hören. Sie waren hier abgeschnitten von der Welt, in einer Festung, deren Mauern von Büchern, Gedanken und Hypothesen gebildet wurden.

»Belsazar Hacquet, Physikalisch-politische Reise aus den dinarischen Alpen durch die julischen, carnischen, rhätischen in die norischen Alpen, Leipzig 1785, Verlag von Friedrich Adam Böhme«, las Dorkas in triumphierendem Ton den Titel des Buches. »1785 – das ist ja ein wahrer Schatz«, fügte er dann hinzu und versuchte, dem Buch seinen Platz in dem Stapel wieder zurückzugeben.

»Sehr schön«, antwortete Troiger. »Jetzt weiß ich wieder, wo ich bin. Wir müssen zurück und bei den Beschreibungen tibetanischer Klostergebäude einbiegen, bis wir zu den polyne­sischen Seekarten kommen, dann geht es nach rechts zu den Zugwegen der Vandalen und dann sollten wir schon an der Tür sein.«

 

Obwohl weder Dorkas noch Little der Wegbeschreibung viel abgewinnen konnten, mach­ten sie sich auf und fanden tatsächlich an der bezeichneten Stelle eine Tür, die den Durchgang zu einer schmalen eisernen Wendeltreppe öffnete.

Hier musste Troiger ohne Unterstützung die Stufen hochsteigen. Er tat es tapfer, aber mit wachsenden Schwierigkeiten und immer längeren Pausen. Die Treppe war früher den Dienstboten vorgehalten gewesen, wie Troiger erklärte. Er fügte eine etwas weitschweifige Erklärung über den Aufbau des Hauses an, der Dorkas begeistert lauschte, während Little, der nur Bruchstücke verstand, sehr wohl merkte, dass Troiger auf diese elegante Art die Notwendigkeit einer weiteren Ruhepause in diesem wenig einladenden, kalten zugigen Schacht, der an einen tiefen Brunnen erinnerte, überspielen wollte.

Endlich erreichten sie die obere Tür und fanden die Einrichtung ebenso labyrinthartig wie in der unteren Etage. Nur die Räume waren nicht ganz so hoch. Troiger und Dorkas fanden zusammen wie ein altes Ehepaar und schoben sich aufs Neue durch die Gänge.

Zu Littles Erstaunen trafen sie nun aber auf einen kleinen freien Platz zwischen den Regalen, der an ein vergessenes Baugrundstück zwischen Hochhäusern erinnerte.

Ein Hocker lag auf dem Boden, daneben erhob sich ein Gegenstand, dessen Formen durch Tücher verdeckt war.

»Wenn Sie bitte …«

Troiger hatte noch nicht ausgesprochen, da bückte sich Dorkas schon und rückte den Hocker zurecht. Troiger nahm umständlich Platz und streckte mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein mit dem verbundenen Fuß aus. Er brauchte einige Minuten, um sich zu sammeln, saß reglos mit hängenden Schultern, als müsste er über seinen Schmerz meditieren.

Dann zog er ein Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ist es nicht erstaunlich«, sagte Troiger und deutete auf den Verband, »dass die Zeit manchmal nichts zu bedeuten hat? Schmerz scheint das Einzige zu sein, was an einem Menschen jung bleibt. Oder wenn nicht jung, dann zumindest unverändert. Wir verlieren die Liebe, wir verlieren die Leidenschaft, die Neugier, die Abenteuerlust, der Körper verfällt, aber der Schmerz ist immer noch kräftig und jung. Ich habe viel darüber nachgedacht, allerdings ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Aber es scheint mir, dass der Schmerz so eine Art Äquivalent der Brennnessel im Garten ist. Sie verstehen? Widerwärtig, nutzlos, aber von tita­nischer Kraft.«

Dorkas zuckte beim Wort Titanen ein wenig zusammen.

»Nicht nutzlos«, erwiderte er dann, »Die Brennnessel, meine ich. In Schottland machte man Flachs für Kleidung aus ihr, man kann Salat daraus machen und ich glaube, man macht aus ihr einen Tee, der den Körper reinigen soll.«

»Sehen Sie, das waren auch meine Gedanken. Wenn dieses ganze bombastische Chaos namens Universum einen Sinn und Zweck haben soll, dann muss die Brennnessel und der Schmerz auch einen Sinn haben. Ich habe mir auch gedacht, welches Privileg der Schmerz sein kann. Stellen Sie sich vor, die alten Asketen oder auch die seltsamen Heiligen von Opus Dei oder die schiitischen Gläubigen oder auch die katholischen Priester – sie alle geißeln sich zu Zeiten, fügen sich Schmerz zu. Weil sie keinen eigenen Schmerz haben, diese bedauerns­werten Kreaturen«, sagte Troiger und wieder war sein Sarkasmus kaum zu überhören. Dann richtete er sich ein wenig auf: »Wenn Sie bitte die Freundlichkeit hätten, den Lichtschalter zu betätigen, der dort an der Tür ist?«

Nachdem Dorkas in der dunklen Ecke getastet und endlich den Schalter gefunden hatte, leuchteten zwei Strahler auf.

»Die Inszenierung ist ein wenig theatralisch, wie mir nun auffällt«, erklärte Troiger entschuldigend. »Aber ich brauchte das Licht für meine Arbeit. So, nun könnten Sie das Tuch wegziehen, aber vorsichtig.«

Troiger wies mit einer schwachen Handbewegung auf einen verhüllten Gegenstand, etwa einen Meter siebzig hoch und offenbar kugelförmig wie ein antiker Zimmerglobus. An ver­schiedenen Stellen stachen Auswüchse nach allen Seiten weg.

Dorkas bibberte vor Neugier. Er griff begierig, aber vorsichtig nach dem Tuch. Als er es in der erhobenen Hand hatte, erstarrte er voller Verwunderung und betrachtete das seltsame Ding, das er soeben selbst dem Lichtschein ausgesetzt hatte.

Tatsächlich handelte es sich wohl ursprünglich um einen alten Globus. Troiger hatte die­sen aber nur als Träger oder als Modell seiner Maschine benutzt, und je mehr er daran umge­baut hatte, desto mehr war auch von der eigentlichen Struktur mit einer gerundeten und bemalten Oberfläche verschwunden. Der ganze Körper des Gerätes wirkte skelettiert, an den verschiedensten Stellen waren mechanische Vorrichtungen aus goldenem Messing oder weiß­lichem Stahl eingearbeitet, die mit schimmernden Drähten verbunden waren. Wo früher die Ozeane gewesen waren, gab es deutlich weniger Installationen, aber aus den Kontinenten rag­ten Stäbe, in Scharnieren abwinkelbar oder ineinandergeschoben und ausziehbar, hervor, ein Gewirr von blinkenden Zugseilen und Schiebestangen verband sie, an seltenen Stellen waren Messingtuben mit kleinen, geschliffenen Linsen angebracht. Troiger hatte sich mühsam nie­dergebeugt und einen Schalter bedient. Einige Lämpchen waren knisternd angesprungen, und wie aus winzigen Projektoren geschleudert begannen Lichtstrahlen, an den zitternden Drähten entlangzulaufen. Wenn Troiger nun einen der Hebel bediente, schwangen, wie durch ein mechanisches Weichensystem gesteuert, kleine Spiegel um, und das Licht suchte sich einen anderen Weg, oberhalb der noch zu erahnenden Erdoberfläche, aber auch darunter, sogar quer durch den ganzen Globus. An bestimmten Stellen liefen sehr viele Seile, Fäden und Gestänge zusammen und bildete Knoten, und im Gesamteindruck war der ganze Globus von diesem Netz überspannt. Nur wer genauer hinsah, erkannte, dass dieses Netzwerk unharmonisch und unvollständig war, dass es Enden aufwies, die im Nichts verliefen und Drähte, die proviso­risch an Klemmleisten versammelt waren, ohne zu einer Bestimmung zu führen.

Dorkas bemerkte nun, dass an einem hölzernen Ausleger auch noch ein blasser Messingmond befestigt war, zu dem ebenfalls einige Goldfäden führten, die offenbar geeig­net waren, die Mondbewegungen mitzunehmen und weitere Weichen und Gelenkarme im Globus zu verstellen.

 

Troiger bewegte nach und nach einige seiner Stellhebel, Licht umwanderte den seltsamen Globus auf immer neuen Pfaden, und Winkel und Hebel verstellten sich, hoben netzartige Strukturen aus spinnenwebfürmigen Betten und ließ sie wieder darin zurücksinken. Ab und zu murmelte Troiger einige Erklärungen, die ihm in den Sinn kamen, während er Drahtfäden glatt strich, so sagte er zum Beispiel »der Ural« und an einer anderen Stelle »japanischer Graben«. Seine Finger fuhren über angestaubte Plättchen, in welche die Namen von Orten, Flüssen, Bergen und Seen eingraviert waren. Schließlich trat er einen Schritt nach hinten und schien damit auch in die Wirklichkeit zurückzukommen, wo ein neugieriger Dorkas auf ihn wartete.

»Wie lange haben Sie daran gearbeitet?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, antwortete Troiger. Das Aufsehen, das sein Werk bei den beiden Gästen erregt hatte, war ihm sichtlich peinlich, und dennoch bekamen seine blassen Wangen eine fri­sche rosige Farbe, denn er freute sich ebenso offensichtlich über diese Reaktion. »Ich habe damit vor vielleicht fünfzig Jahren angefangen. Vor ein paar Jahren habe ich dann aufgehört. Ich hatte Schwierigkeiten, von unten hierhin zu kommen. Außerdem fragte ich mich, wozu ich das alles mache. Ich habe nie damit gerechnet, dass irgendein Mensch dieses Ding jemals zu Gesicht bekommt.«

»Dieses Ding enthält vermutlich mehr an Kenntnissen, als die gesamte Gemeinschaft sie zurzeit hat.« Dorkas umrundete den Gegenstand bewundernd, bückte sich, ging ächzend in die Knie und arbeitete sich schnaufend wieder in die Senkrechte. Er wirkte wie ein enthusiasti­scher Museumsbesucher vor einem besonders exklusiven Exponat.

»Wie kommen Sie zu diesen Schlussfolgerungen?«, wollte er nach einer Weile wissen.

»Einiges ist aus der Literatur ziemlich eindeutig herauszulesen. Hier – dieser Knoten – das dürfte in Gizeh sein. Aus den Tempeltexten und den Totenbüchern geht eindeutig hervor, dass sich hier ein Knoten, vielmehr ein Hyleg verbergen muss, den die alte Priesterschaft der Ägypter mit den Pyramidenbauten ausgleichen wollte – er ist in Ihrem – Modell?«

»Gut!«, sagte Troiger. »Es ist ein Modell. Mehr ist es nicht.«

Dorkas ließ sich in seinem Eifer nicht bremsen.

»Andere Dinge beruhen nur auf Schlussfolgerungen, aber sie scheinen trotzdem ziemlich gesichert zu sein. Dieser Hyleg in der Gegend von Khartum. Ich habe mich früher einmal gefragt, ob er etwas mit dem Mahdi-Aufstand zu tun haben könnte. Schließlich war dies das erste Beispiel für islamischen Fundamentalismus in der Neuzeit. Aber ich glaube jetzt eher, dass wir in Europa uns lieber an die eigene Nase fassen sollten, anstatt diese doch etwas unap­petitliche Art von Seelendurchleuchtung bei anderen Völkern zu betreiben.«

»Leider habe ich nicht mehr den kompletten Plan im Kopf«, grübelte Dorkas. »Aber ich glaube, dass es trotz allem einige fundamentale Unterschiede gibt, zwischen Ihrem Modell und der Karte, die Conte di Saloviva und ich erstellt haben.«

»Ich behaupte nicht, dass ich mich nicht täusche. Wenn die Tatsachen, die Sie oder besser der hochverehrte Conte di Saloviva in seinem Brief offenlegte, wirklich Tatsachen sind, dann wünschte ich, ich würde mich sehr täuschen.«

Dorkas nickte versonnen und schritt weiter schweigend um den Gegenstand seiner Bewunderung.

 

Nachdem Troiger lange zugesehen hatte, wie sich Dorkas leise murmelnd mit seinem Werk vertraut machte, fühlte er sich zu einer Erklärung genötigt. Seine Stimme klang so brü­chig, dass Little erschrak. Er erkannte, dass sich Troiger über Gebühr angestrengt hatte und sich nun allein durch Willenskraft aufrecht erhielt. Bei nächster Gelegenheit, dies nahm er sich fest vor, würde er Dorkas zum Gehen bewegen. Morgen war auch noch ein Tag, an dem ein dann hoffentlich frischerer Troiger sie empfangen konnte. Little blickte zu Dorkas hinü­ber, sah aber nur das vor Eifer fiebrige, gerötete, runde Gesicht des Wissenschaftlers, der so völlig bei der Sache war, dass ihn nicht einmal ein Erdbeben von seiner Tätigkeit abbringen würde.

»Es ist so«, mühte sich Troiger um eine verständliche Erklärung, »dass ich gewisse Berechnungsgrundlagen gefunden habe, die sich sozusagen experimentell als brauchbar herausgestellt haben. Trotzdem stieß ich immer wieder an Punkte, wo sich die Formeln als falsch herausstellten. Oder vielleicht ist falsch das falsche Wort. Nennen wir es unvollständig. Außerdem …«

Troiger beendete diesen Satz nicht. Er hoffte, dass seine Gäste dieses leise Herausstehlen aus dem Sinn eines Satzes nicht bemerken würden, aber Dorkas war sofort da, wie ein Hund, der eine Fährte wittert.

»Wie bitte? Ich habe nicht ganz verstanden.«

»Ich hatte den Satz nicht beendet«, antwortete Troiger. »Ich glaube – Verzeihen Sie, ich bin plötzlich sehr müde, anstrengend so ein Besuch – ich glaube, dass es eine andere Logik gibt, die dahinter steht. Nichts, was wir mit unseren logischen Gesetzen fassen können.«

»Ohne Zweifel«, nickte Dorkas. »Die Methode, die der Conte nutzt, ist auch nicht logisch. Sie ist eher … esoterisch. Und es gibt einen Maler, Gainsworth, der … wie soll ich sagen? … künstlerisch-unbewusst-intuitiv vorgegangen ist. Trotzdem, Ihr Plan, Ihr Modell übertrifft alles. Haben Sie vielleicht Hilfsmittel, die Sie uns noch zeigen könnten?«

Troiger nickte. »Morgen«, versprach er. »Jetzt helfen Sie mir bitte nach unten. Ich bin zu erschöpft.«

 

Als Dorkas und Little draußen auf der Straße standen, war es schon dunkel. Seite an Seite gingen sie zum nächsten Taxistand.

»Haben Sie es auch gesehen?«, fragte Dorkas düster.

»Was?«

»Troiger hat in seinem Globus einen Hyleg eingetragen. Hübsch in der Mitte von Zentralaustralien.«

»Diese Schrottkarre besitzt einen zweiten Tank«, erklärte Steele befriedigt, nachdem er sich im Licht einer Taschenlampe das Fahrgestell des Pick-up angeschaut hatte. Er fand den kleinen Hahn und legte ihn auf die andere Seite. Nach der Größe des Tanks zu urteilen und dem Klang, wenn man mit dem Knöchel die Füllhöhe prüfte, enthielt er Treibstoff für meh­rere Hundert Kilometer. Dazu kamen weitere Kanister, die in Halterungen an der Fahrerhausrückwand steckten.

Steele warf sich auf den Fahrersitz und ließ den Anlasser orgeln, bis der Motor wieder Benzin angesogen hatte und zündete. Vorsichtig fuhr Steele an.

»Treibstoff, Wasser und Nudeln – da wollte uns einer so richtig was Gutes tun«, kommen­tierte Steele zu Tony Tanner gewandt.

Tony kauerte auf dem Beifahrersitz. Er war müde und erschöpft und langsam wurde ihm sogar kühl. Er hatte, ebenso wie Steele, sein Hemd ausgezogen, um daraus für den alten Aborigine ein Kissen zu improvisieren. Der Alte lag hinten auf der Ladefläche, starrte in die Luft und rührte sich nicht. Er schien keine äußeren Verletzungen zu haben. Nachdem Steele ihn eingehend untersucht hatte, war er überzeugt, dass es auch keine inneren Verletzungen gab. Aber so genau konnte er es nicht feststellen, er war weder Mediziner, noch standen ihm die notwendigen Geräte zur Verfügung. Steeles Diagnose Schockzustand erschien Tony allerdings sehr einleuchtend. Der Alte lag reglos, reagierte kaum und zeigte nur durch seinen flachen Atem, dass er noch lebendig war.

»Und nun?«, fragte Tony und stellte damit die Frage, die auch Steele schon seit Stunden beschäftigte.

 

Nach ihrer Flucht aus dem Lager war zuerst Tony wie ein Teufel durch das unwegsame Land gerast und hatte dann aufatmend Steele das Lenkrad überlassen. Der war weitere Stunden durch die Dunkelheit gefahren, und immer hatten sie damit gerechnet, dass hinter ihnen die Scheinwerfer verfolgender Wagen auftauchen würden oder dass in der Nähe das bekannte Hämmern eines Hubschraubers ertönte.

Nichts dergleichen geschah. Sie waren aus der namenlosen Ansiedlung verschwunden und keiner kümmerte sich darum. Mit dieser Erkenntnis stellte sich in der Tat die Frage, was sie jetzt tun sollten.

Steele warf seinen Zeigefinger schwungvoll in Richtung der Kühlerhaube.

»Da lang. Bei der nächsten Gelegenheit machen wir eine Rast. Wir brauchen beide Schlaf. Morgen schauen wir, was wir für den alten Mann tun können und dann werden wir auch sehen, wo es hingeht.«

So ganz vermochte Steele seinen optimistischen Worten selbst nicht zu glauben. Ihre Situation war besser als die von Raumfahrern, die auf dem Mars gestrandet sind, aber nur insofern, als es keine Probleme mit dem Luftvorrat gab. Ansonsten gab es vier Möglichkeiten, das Falsche zu tun, und sie lauteten Norden, Süden, Osten und Westen.

Als der Wagen eine sanfte Böschung hinabrollte und sich im Licht der Scheinwerfer eine mit Gestrüpp bewachsene Mulde öffnete, stellte Steele den Motor ab.

Sie sammelten Holz, machten ein kleines Feuer und flößten dem alten Mann etwas Wasser ein. Dann entschieden sie, dass es keinen Sinn machte, sich etwas zu Kochen. Also zerschlug Steele das brennende Holz, verteilte die Stücke, schaufelte eine Schicht Sand darüber, prüfte die Wärme und nickte befriedigt. In der Nacht brauchten sie nicht zu frieren und waren trotz­dem nicht auf ein auffälliges Lagerfeuer angewiesen.

»Es ist schon etwas kurios«, sagte Tony. »Tagsüber schwitzt man sich tot und in der Nacht bibbert man.«

»Das nennt man die Welt, wie sie ist«, antwortete Steele.

Tony hörte die Stimme schon wie von Ferne. Er wunderte sich darüber, dass er jetzt neben Steele schlafen sollte und im nächsten Moment wunderte er sich nicht mehr, sondern tat es.

In der halben Bewusstlosigkeit des Aufwachens glaubte er, einen fernen Gesang zu hören. Tony öffnete die Augen und erkannte vor sich Sandkörner. Die Dämmerung hatte eingesetzt und hob mit ihrer Graufärbung die Umgebung langsam aus der Nacht.

Als Tony sich aufsetzte, bemerkte er, dass Steele nicht mehr an seinem Platz lag. Er blick­te sich um und erkannte seinen Begleiter als helle Fläche vor der schwarzen Masse des Buschwerks. Jetzt fiel Tony auf, dass der Gesang immer noch in seinen Ohren erklang. Schritte knirschten, als Steele herankam und sich neben Tony niederließ.

»Der Alte singt schon seit mindestens einer Stunde.«

»Wo ist er?«

Steele deutete mit einem Kopfnicken den Weg an.

»Hinter dem Kamm. Er schaut in Richtung Osten. Scheint auf die Sonne zu warten.«

Fröstelnd rieb sich Tony die von Feuchtigkeit und Sand panierte Haut.

»Kann ich verstehen. Ein bisschen Sonne könnte jetzt nicht schaden.«

»Ja, für etwa eine Stunde zum Aufwärmen«, grinste Steele. Er stand auf.

»Ich werde mir unseren Passagier mal aus der Ferne betrachten.«

Auch Tony streckte die Glieder und stapfte hinter Steele her. Gemeinsam schauten sie in die Richtung, aus der der gleichförmige Gesang heranwehte.

 

Im Osten änderte sich das stumpfe Grau des Himmels. Am Horizont schob sich ein heller Punkt, wie eine neue Gewissheit, in die mürrische Dämmerung. Jetzt wurden auch die Umrisse des alten Mannes sichtbar, der reglos saß, den Kopf leicht erhoben und in die aufge­hende Sonne hineinsang.

Tony musste schon bald die Augen vor der Helligkeit zusammenkneifen. Es dauerte nur wenige Minuten, dann zog sich die nächtliche Dunkelheit in die Senken und Mulden der Landschaft zurück und nach einigen weiteren Minuten spürte Tony zum ersten Mal an diesem Tag die Sonnenstrahlen wie ein Gewicht auf der Haut. Es war wie ein erster Schlag, als woll­te diese Sonne sagen: Täusche dich nur nicht, ich bin nicht gekommen, um dir etwas Gutes zu tun!

Inzwischen hatte Steele schon ein neues Feuer entzündet, einen Topf aufgetrieben und kochte ein Frühstück.

»Oh, zur Abwechslung Nudeln«, fragte Tony.

»Ja, und zwar Nudeln pur. Wir könnten natürlich als Gewürz etwas Asche darüber streu­en. Oder vielleicht finden sich irgendwo Maden, für den Eiweißbedarf.«

»Wer hat eigentlich behauptet, dass die amerikanischen Fast-Food-Ketten die Welt über­schwemmen würden?«, stellte Tony angesichts der Pampe im Topf resignierend fest. »Ich jedenfalls habe hier noch kein McDonalds-Filiale gesehen. Bedauerlicherweise, wie ich mit gewissem Erstaunen über mich selbst feststellen muss.«

Erst als der alte Mann hinter ihnen stand, wurde ihnen bewusst, dass der Gesang schon seit Längerem aufgehört hatte.

Obwohl das Feuer ein leises Knistern von sich gab, ärgerte sich Steele, dass er die heran­kommenden Schritte nicht gehört hatte. Der alte Mann musste sich mit völliger Lautlosigkeit genähert haben. Er setzte sich grußlos zu den beiden, nahm einen Teller in Empfang und ver­zehrte in völliger Selbstverständlichkeit seine Nudelration.

Danach blieb er einfach sitzen, als wäre er ein Stück vom Inventar und schaute vor sich auf den Boden.

Tony zuckte nach einer Weile die Achseln und ging mit den Tellern ein Stück weiter, um sie mit Sand zu säubern.

Er hörte die Stimme Steeles, die sagte: »Na, Kumpel, was sollte die Vorstellung von ges­tern eigentlich sein?«

Darauf antwortete eine andere tiefe Stimme: »Ich musste den Weg gehen.«

Tony ließ die Teller fallen und fuhr hoch. Steele schaute ihn an. Er machte sich gar keine Mühe zu verbergen, wie verdattert er war. Also sammelte Tony schnell die Teller wieder ein und lief zum Lagerfeuer.

»Welchen Weg?«, fragte er.

Der alte Mann drehte langsam den Kopf und schaute Tony prüfend an. Tony versuchte locker zu bleiben, aber die Augen des Alten tasteten zu lange und zu ausführlich über sein Gesicht, sodass er spürte, wie er unter diesem Blick rot anlief. Dann nickte der alte Mann, als müsste er sich selbst einer Zustimmung vergewissern.

»Der alte Weg«, sagte er dann einfach.

Steele legte den Kopf in den Nacken und blies die Backen auf.

»Mein untrüglicher Instinkt sagt mir, dass wir an der richtigen Stelle sind.«

»Ihr seid an der falschen Stelle«, erwiderte der Alte.

»Warum?«

»Weil hier alles falsch ist!«

Unterdessen versuchte Tony verbissen alles, was er über australische Ureinwohner und ihre Mythologie wusste, aus seinem Gedächtnis zu kramen. Dem Begriff Traumpfade war er schon oft begegnet – allerdings eher in Büchern von Bruce Chatwin. Aber es war im Grunde auch egal, was er wusste. Der alte Mann vor ihm hatte von den alten Wegen gesprochen und Tony brauchte sich keine besondere Mühe zu geben, um die Verbindungen zu dem zu ziehen, was er und Steele suchten.

Obwohl er die wachsende Erregung eines Forschers verspürte, ließ sich Tony Tanner nicht davon abhalten, zuerst den Pflichten des kultivierten Herrn nachzukommen und sich vorzu­stellen.

»Mein Name ist Koala«, antwortete darauf der alte Mann. »Ich bin Häuptling der Landili, aber das tut nichts zur Sache, weil es diesen Stamm nicht mehr gibt.«

»Aber den Häuptling gibt es also noch?«, bohrte Steele nach.

»Ja, mich gibt es noch. Denn ich heiße nicht nur Koala. Ich bin auch Koala. Koala bedeu­tet Derjenige, der nichts trinkt. Ich bekam den Namen nach der Missionsschule. Früher lau­tete mein Name anders. Es war der Name meiner Kindheit. Dann musste ich auf die Missionsschule und bekam einen neuen Namen. Denjenigen eines Heiligen. Ich mochte den Namen nicht. Nachdem ich gelesen hatte, dass dieser Heilige ein Inquisitor war, der ermordet wurde, mochte ich ihn noch weniger. Ich mochte gar nichts. Ich musste Kleidung tragen, die kratzte und mich störte. Ich musste still sitzen und Dinge lernen, die mich nicht interessier­ten. Aber ich schickte mich in die Umstände, lernte die Sprache der Weißen, tat, was die Weißen wollten. Sie waren zufrieden mit mir. Sie wollten mich auf eine andere Schule sen­den. Aber in der Nacht vor der Abreise floh ich und ging zurück zu meinen Leuten. Die Polizei suchte mich, aber ich zog mit meinem Vater und mit meinen Onkeln durch das Land, wo sie mich niemals finden konnten. Mein Vater nannte mich Koala, weil ich nichts von den Weißen angenommen hatte. Ich hatte mich geweigert, etwas von ihnen zu nehmen, genauso wie sich ein Koala weigert, etwas zu trinken. So war das.«

»Schön, Häuptling Koala«, sagte Steele trocken. »Und weil du nichts von den Weißen annimmst, stiefelst du mitten in ein Lager voller verschwitzter Kerle, die nichts lieber tun, als Abos zu klatschen.«

»Ich musste den alten Weg gehen.«

»Was für ein alter Weg, verdammt«, fragte Steele verärgert. »Warum konntest du nicht um dieses stinkende Lager herumgehen? Das wären hundert Meter gewesen und keiner von die­sen Vögeln hätte dich auch nur bemerkt!«

»Weil der alte Weg durch das stinkende Blechdorf führt«, beharrte Häuptling Koala ruhig.

»Es ergibt einen Sinn«, mischte sich Tony Tanner ein, der um die Harmonie der Morgenstunde fürchtete. »Wenn es die Art von Weg ist, wie ich es vermute, würde es in das Schema passen, dass genau dorthin so ein bewohnbarer Schrottplatz gesetzt wird.«

»Schema …«, schnaubte Steele. Dann beruhigte er sich und hob die Hände, als wollte er dem Häuptling zeigen, dass er keine Waffen bei sich hatte. »Gut, beginnen wir von vorn. Es man sein, Häuptling Koala, dass wir von derselben Sache reden. Aber zuerst müssen wir eini­ge Begriffe klären. Du sprichst unsere Sprache. Das ist gut, denn wir beherrschen die deine nicht. Also erkläre uns in unserer Sprache, was die alten Wege sind.«

»Die alten Wege sind die Fesseln, die die grünen Ameisen binden.«

Die schönen Theorien über Traumpfade und Energieströme, die sich Tony schon zurechtgelegt hatte, platzten wie eine Seifenblase.

»Wir müssen die alten Wege gehen«, erläuterte Koala. »Wir müssen sie gehen und dabei singen, damit die Wege erhalten bleiben. Wir sind die Hüter der Wege. Wisst Ihr, wie dieses Land heißt? Es heißt Wo die Erde blutet. Es ist kein gutes Land. Kein Land für Jäger, kein Land für die Frauen, um Samen und Wurzeln zu sammeln.«

»Jemand in Sydney sagte uns, es wäre heiliges Land. Land, wohin die Eingeborenen gehen, um Träume zu haben«, sagte Tony verschüchtert.

Die Reaktion des Häuptlings war ungefähr so, wie Tony sie erwartet hatte. Er presste wütend die Lippen zusammen und blies den Atem aus der Nase, dass sich deren Flügel bläh­ten.

»Die Weißen verstehen gar nichts. Sie kommen zu uns, halten uns ein Mikrofon unter die Nase, lassen uns erzählen und schreiben Bücher darüber. Aber sie verstehen gar nichts. Sie kennen die Worte nicht, die Klänge nicht, die Tänze nicht, die Lieder nicht, die Malereien nicht. Sie walzen mit ihren stinkenden Autos durch die Gegend und sind nicht in der Lage eine Eidechsenspur von einer Krokodilfährte zu unterscheiden. Seit ich die verständnisvollen Weißen kenne, weiß ich erst die Missionare zu schätzen. Die frommen Männer prügelten einen durch, schrien einen an, sagten uns, dass wir Vater und Mutter ehren sollen, aber nicht den Vater und die Mutter, der noch auf die alte Art leben will, denn das ist sündhaft. Die Missionare machten es uns leicht, wir selbst zu bleiben. Aber die verständnisvollen Weißen! Sie kommen gebückt und sind voller Verständnis und wollen uns helfen. Wir Abos haben Bürgerrechte! Ist es nicht wundervoll – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach wei­ßer Zählung hat man die Abos als vollwertige Menschen anerkannt. Aber soll ich euch was sagen? Es sind die verdammten Bürgerrechte der Weißen. Es ist dasselbe, als würden sich grüne Männchen in fliegenden Untertassen auf der Erde breitmachen, die Menschen zweihun­dert Jahre zugrunde richten und dem kläglichen Rest dann sagen, ab jetzt seid ihr Ehrengrünemännchen. Ich pfeife auf die Bürgerrechte. Ich will sie nicht. Koala nimmt die Bürgerrechte der Weißen nicht an. Die Weißen haben sich auch entschuldigt, wisst ihr das? 1998 hat sich die australische Bevölkerung bei den Abos entschuldigt. Es hat ihnen sicher Spaß gemacht. Aber uns? Wir sind die Leiche, über die der Mörder heult und sagt Tut mir so leid, dass ich dich abgemurkst habe

»Fein, wenn ich mal fünf Minuten Zeit auf dem Scheißhaus habe, werde ich mich in Betroffenheit üben«, knurrte Steele. Er hatte zu oft in zu vielen Bars zu vielen Versager zuge­hört, wie sie ihr jämmerlich gescheitertes Leben mit dem Hinweis auf die bösen Anderen schönredeten. Seine Abneigung war um so größer, weil er wusste, dass er selbst vielleicht weniger weit davon entfernt war, selbst so ein haltloser Säufer zu werden, als es ihm lieb war. »Trotzdem wüsste ich jetzt gerne, was es mit diesem Traumland auf sich hat.«

Zu Tonys Erstaunen reagierte Häuptling Koala auf Steeles rüde Art keineswegs gekränkt. Er grinste Steele vielmehr an und kniff Tony schnell ein Auge, als wollte er sagen, dieser Typ hat die falsche Hautfarbe, aber er benimmt sich richtig.

»Es sind böse Träume, die aus der Erde steigen«, antwortete Koala ungerührt. »Sie sind Gift. Wie der Dunst eines Sumpfes, der Fieber bringt. Diejenigen, die dorthin gehen, um die bösen Träume zu träumen, nehmen sie in sich auf. Nur starke und weise Männer und Frauen können dieses Werk tun. Ich sah welche unter ihnen, die kurz darauf starben. Andere zogen in die Städte der Weißen und gingen unter. Andere verloren den Verstand und ihre Augen wur­den schwarz wie polierter Stein und sie redeten in Sprachen, die keiner kennt. Sie mussten gefüttert werden wie die Säuglinge und in der Nacht kreischten sie vor Angst.«

»Na gut und warum kauft ihr euch nicht einfach eine Tüte schwarzer Afghane und zieht sie euch rein, wenn ihr scharf auf einen Horrortrip seid? Warum dieser Aufwand?«, fragte Steele.

»Weil es sein muss. Weil die Erde sonst nicht mehr bestehen kann. Weil die Weisen es tun müssen.«

»Wenn sie Weise sind, sollten sie es vielleicht besser sein lassen!«

»Ist ein Mensch weise, der aufhört zu atmen?«

»Wir suchen etwas«, mischte sich jetzt Tony wieder ein.

»Was sucht ihr?«

»Wir suchen einen Ort, der … einen Ort, wo das Böse wohnt.«

»Dann geht nach Sydney oder nach Melbourne. Ich war auch schon einmal in New York. Ich weiß, auch dort wohnt das Böse.«

Damit erhob sich Häuptling Koala, ging zum Wagen und kletterte auf die Ladefläche.

»Kommt«, rief er, »wir müssen los. Zu dem Ort, wo das Böse wohnt.«

 

Steele schlenderte achselzuckend zum Wagen und auch Tony setzte sich wieder auf den durchgescheuerten Beifahrersitz.

Nach einigen Minuten hämmerte Häuptling Koala wütend auf das Wagendach und forder­te eine Richtungsänderung.

»Wenn ich da lang fahre, zerschlage ich mir nur das Differenzial an den Steinen«, antwor­tete Steele.

Mit einem verächtlichen Zischen sprang der alte Mann von der Ladefläche und ging vor dem Wagen her.

»Hier ist der alte Weg«, rief er.

Steele schob den Ellbogen aus dem Seitenfenster und lehnte sich halb nach draußen.

»Das ist schön, dass hier der alte Weg ist. Aber falls wir irgendeine Chance haben wollen, mit dem Wagen weiterzukommen, dann werde ich jetzt durch die Senke fahren.«

»Dann fahrt doch, fahrt!«, Koala wedelte mit dem Arm. »Es reicht, wenn ich den alten Weg gehe.«

Er schritt weiter, ohne den Wagen zu beachten. Steele lenkte durch die Senke, hatte Probleme, weil der Untergrund zu weich war, brachte den Wagen aber doch weiter und hielt an einer ebenen Stelle auf festem Sand. Im Rückspiegel sahen sie die winzige Gestalt des Häuptlings Koala, der bedächtig in Schlangenlinien einem unsichtbaren Pfad folgte.

»Bin ich der Einzige, der den Typen für einen Arsch hält?«, fragte Steele unvermittelt.

Tony zögerte mit der Antwort. Zwar hatte Steele exakt das formuliert, was ihn selbst schon als Verdacht beschlichen und sich fast zur Gewissheit kondensiert hatte. Was ihn zögern ließ, war dennoch mehr als Höflichkeit. Er zweifelte einfach an seiner eigenen Wahrnehmung.

»Er macht sich jedenfalls keine Mühe, sympathisch zu erscheinen«, lautete daher Tonys ebenso ausweichende wie zutreffende Antwort.

Sie warteten, bis Koala den Wagen erreicht hatte. Inzwischen war die Sonne höher gestie­gen und das Führerhaus ähnelte einem Grillofen.

Der Häuptling schwang sich auf die Ladefläche und wies auf einen kleinen Hügel in der Ferne.

»Dorthin!«

»Dann woll’n wir mal«, murmelte Steele, ergeben wie ein Taxifahrer, der eine ungeliebte Fuhre zu erledigen hat und drehte den Zündschlüssel.

Auf diese Weise verbrachten sie den Tag. Meist stand Koala auf der Ladefläche, glich mit gebeugten Knien die Bewegungen des Wagens aus und gab dem Fahrer nach einem heftigen Hämmern auf das Dach seine Anweisungen. Manchmal weigerte sich Steele, die angewiese­ne Strecke zu nehmen und Koala stieg ab und lief sie zu Fuß. In einigen Fällen traf er aller­dings selbst diese Entscheidung und tanzte singend und den Speer schwingend vor dem Wagen her. In der Hitze glänzte sein dunkler Körper vor Schweiß wie polierter Stein und schien nicht mehr aus dem verletzlichen Stoff des menschlichen Fleisches zu bestehen.

»Ich frage mich, wie er diese Anstrengung aushält«, murmelte Tony, als Koala wieder ein­mal eine Serie von hohen Sprüngen, begleitet von markerschütterndem Geschrei und wilden Speerattacken absolvierte. Tony klebte die Kleidung auf der Haut. Bei jeder Bewegung muss­te er sich erst mit einem schmatzenden Geräusch von dem heißen Kunstleder des Sitzes lösen.

»Vielleicht liegt es ja einfach daran, dass diese Bauart von Mensch für genau diese Gegend konstruiert ist. Ach, schau an, unser Abo hat Orientierungsprobleme!«

***

»Was Sie habään gämacht mit Doktor Troigär?«, lautete die Begrüßung, die Dorkas sei­tens Milena Kollar entgegenschallte.

Erschrocken hielt sich Dorkas die Hand vor den Mund.

»Was ist mit Herrn Troiger? Kann er uns nicht empfangen? Ist er etwa krank?«

»Er täläfoniert. Mit Italiän!«

Schon im Flur hörten sie hohe Stimme Troigers und die Vermutung, die Dorkas und Little sofort gehabt hatten, wurde zur Gewissheit, als Troiger sich von dem hochverehrten Herrn Conte verabschiedete.

»Ich soll Ihnen die besten Grüße übermitteln«, erklärte Troiger. »… ähm, speziell ganz besondere Grüße von einem Doktor Tebaldi an Herrn Little.«

Dorkas spitze die Lippen, als wolle er ein Liedchen pfeifen und betrachtete die Zimmerdecke. Little schaute auf den Boden und lief rot an. Trotzdem freute er sich, mehr als er es in Worten ausdrücken konnte. Seltsamerweise hatte seine spezielle, erworbene Begabung dort ihre Grenzen, wo es um seine eigenen Gefühle ging. Bisher war ihm Dorota Tebaldi stets als eine knabenhaft muntere, spottlustige und von unzerstörbar guter Laune getragene sympathische Kollegin erschienen. Das heißt, Little zwang sich zu dieser Sichtweise, weil er es nicht wagte, der Fährte zu folgen, die seine Gefühle ihm zeigen woll­ten. Aber nun … Winke mit dem Zaunpfahl gehörten ohne Zweifel auch zu ihrem Arsenal.

»Es muss schön sein, wenn man so beliebt ist«, spottete Dorkas. »Denke ich mir wenigs­tens, ich kenne das Gefühl ja nicht.«

Mit seinem Spott versuchte Dorkas vor allem sich selbst abzulenken, denn der Anblick Troigers war erschreckend. Er hatte sich vielleicht etwas erholt, wirkte aufgeräumt und sogar munter, aber die Blässe seines Gesichts zeigte überdeutlich, wie krank und gebrechlich er tat­sächlich war.

Der Eindruck bestätigte sich, als sie nun in den Arbeitsraum gingen, in dem sie Troiger gestern empfangen hatte. Der alte Mann hing schwer wie Blei an Dorkas’ Arm und musste nach wenigen Schritten eine Pause anlegen. Dorkas bemerkte den kalten Schweiß, der auf Troigers Stirn stand.

»Sollen wir vielleicht morgen wiederkommen?«, flüsterte er. »Wir haben Zeit.«

»Sie vielleicht, mein Freund«, erwiderte Troiger, »aber ich nicht. Nein, nein, es geht mir schon wieder ganz gut. Ich kann schon weiter.«

 

Als er sich bei Dorkas unterhakte, spürte der deutlich, dass sich Troiger nur mit fremder Hilfe aufrecht halten konnte. Vor jedem Schritt gab es kleines Zögern, als müsste Troiger sich erst einmal wieder an die Technik des Gehens erinnern. So kamen sie in quälender Langsamkeit vorwärts. Dorkas und Troiger unterhielten sich angeregt. Zuerst war es nichts als der Versuch, dieses Vorwärtsschlurfen, dessen Schmerzhaftigkeit für Troiger allzu offensicht­lich war, unter der Maske eines lässigen, entspannten Schlenderns zu verstecken. Aber bald wurden beide von dem Gespräch erfasst, blieben stehen, weil sie dem anderen intensiver zuhören wollten oder Troiger lehnte sich an ein Bücherregal, um Dorkas Gelegenheit zu geben, seine Sätze mit weit ausholenden Gebärden zu unterstreichen.

Für Little boten die beiden das Bild alter, sehr enger Freunde, die sich in einer nur ihnen zugänglichen Welt der Ideen bestens vergnügten. Wenn er sich konzentrierte, konnte er ein anderes Bild sehen – gut gekleidete, nicht mehr ganz junge, aber dennoch schlanke und kräf­tige Männer, die um einen Tisch im Freien saßen, mit Kannen und Tassen auf dem Tisch und einer sonnenglitzernden Wasserfläche im Hintergrund und dem fröhlichen Geschrei von Kindern und dem Kreischen von Möwen und dem Rauschen von Brandung. Little verspürte ein plötzliches Gefühl der Behaglichkeit, als sei diese Szene ein Getränk, das das Innere von wohltuender Wärme füllte. Ja, und Wärme füllte tatsächlich auch dieses Bild, milde Sommerwärme, gebändigt durch einen erfrischenden Seewind und es war eine herzerweitern­de Fröhlichkeit dabei, wie am ersten Tag von sehr, sehr langen Sommerferien, ein entspann­ter Genuss im Kreise von guten Freunden, ein ruhiges Vertrauen in das Leben, verbunden mit dem Wissen, dass der Tag noch sein Gutes bringen würde – gute Gespräche, den Genuss der nächsten Tasse Milchkaffee, den Spaziergang am Abend, das Glas Wein unter dem Sternenhimmel und der nächste Morgen lächelte ebenso freundlich und öffnete mit der leich­ten Verbeugung eines treuen Dieners die Tür in eine helle Zukunft, hell wie dieser Sommersonnentag …

Mit einem Seufzen schaute Little hinter dem weiterschlurfenden Paar her. Seine Neugier war geweckt, aber zugleich war ihm bewusst, dass er wohl nie erfahren würde, welchen Moment im Leben des Doktor Troiger er soeben nacherlebt hatte. Und er konnte nicht einmal sicher sein, dass es tatsächlich diesen Moment gegeben hatte …

Er folgte den beiden fröhlichen Plauderern. Wieder einmal blieb Troiger stehen und lehn­te sich wie zufällig an ein Regal. Er lauschte dabei gebannt dem Vortrag von Dorkas, der mit allen Mitteln, einschließlich Fußstampfen und einem angedeuteten Bauchtanz seine Gedanken erläuterte.

Zufällig blieb Littles Blick, als er die Augen über die unzähligen Buchrücken schweifen ließ, an einem Titel hängen und er griff unwillkürlich zu, wie von einem instinktiven Schnappreflex getrieben, ohne sich selbst Rechenschaft über seine Handlungen abzulegen, bevor er das Buch aufgeschlagen in den Händen hielt. Little stutzte und blickte noch einmal auf den Buchrücken. Der Titel war völlig unleserlich geworden, die vielen Hände, die das Buch gehalten hatten, hatten das Gold der Buchstaben abgeschliffen und nur die eingepräg­ten Umrisse waren geblieben. Little wurde ein wenig verlegen, als hätte er sich dabei erwischt, automatisch nach einer Zigarette oder Süßigkeiten zu greifen. Er peilte zu Dorkas hinüber, der ihn gerade anblickte. Little begann, in dem Buch zu blättern. Es war eine Geste blanker Verlegenheit, mit der er seiner Handlung den Anschein des Durchdachten und Vernunftgemäßen geben wollte. Dabei schauspielerte Little derart übertrieben, tat dermaßen fasziniert und gebannt von dem Inhalt des Buches, dass er selbst die Lächerlichkeit dieses Versuches anerkennen musste. Ein zweiter Blick zeigte Little, dass sich Dorkas nichtsdesto­trotz wieder Troiger zugewandt hatte. Er ärgerte sich über sich selbst, über diese blöde, ver­legene Komödie, die er gespielt hatte, wo es doch Dorkas vollkommen egal sein musste, ob er hier in einem der zehntausend Bücher blätterte oder gegen die Decke starrte.

Dennoch hinderte ihn nun etwas daran, das Buch zurückzustellen. Wenn er über die Seiten fuhr, bemerkte er eine Stelle, an der das Papier hart war wie Karton. Er schlug sie auf und stellte fest, dass hier einige Seiten zusammengeklebt worden waren. Eher aus Langeweile als aus Neugier, denn Troiger gönnte sich immer noch eine Pause, begannen Littles Fingernägel, sich zwischen zwei der verleimten Blätter zu drücken. Er schob und drückte vorsichtig, dann hatte er eine kleine Ecke freigemacht und konnte die Seite von der anderen abziehen. So weit Little es feststellen konnte, bot der Text keine besonderen Sensationen – den Inhalt konnte er sich nicht aneignen, aber er hatte mit handgeschriebenen Notizen oder eingelegten Zetteln gerechnet. Nichts davon war vorhanden. Nun allerdings bemerkte er, dass in dem schwachen Licht der Neonröhre, wenn er das Buch in einem bestimmten Winkel zum Lichteinfall hielt, etwas durch die Seite hindurchschimmerte – etwas Schwarzes, dessen Schatten das Druckbild leicht änderte. Entschlossen begann Little, die nächste Seite freizumachen. Es fiel ihm schwe­rer, denn allem Anschein nach war es gerade diese Seite gewesen, die eine unbekannte Person verschwinden lassen wollte, ohne sie herausreißen zu müssen. Hier war an den Rändern entlang Leim aufgetragen worden, während die anderen Seiten nur durch die herausquellenden Reste verklebt worden waren. Jetzt plötzlich empfand Little keine Langeweile mehr, auch keine Neugier, sondern so etwas wie eine fiebernde Hast. Misstrauisch schaute er über den Buchrand zu Dorkas und Troiger und befürchtete, das Paar könnte sich jede Sekunde wieder in Bewegung setzen. Unter seinem Fingernagel quoll Blut hervor, das Papier fuhr ihm wie eine scharfe Klinge in das empfindliche Fleisch. Little zuckte zurück, steckte den Finger in den Mund, schmeckte den seltsam metallischen Geschmack – und drehte das Buch dann um, um die andere Hand nutzen zu können. Endlich hatte er auch hier ein Eselsohr produziert und konnte vorsichtig die beiden verklebten Seiten auseinanderziehen. Zum Glück war das Papier stark genug, um nicht zu reißen. Was Little schon vermutet hatte, bewahrheitete sich. Es war ein Holzschnitt, der mit seinen schwarzen Flächen durch die Zeilen der anderen Seite geschimmert hatte.

 

Little lutschte wie ein Kind an seinem Finger, nachdem er einige Bücher nach hinten geschoben hatte, um sein Buch auf ein Regalbrett stützen zu können. Der Holzschnitt hatte eine schlechte Qualität. Die Umrisse waren verlaufen, als hätte man eine Tintenlinie über sehr holziges Papier gezogen, die Schwarzflächen waren unregelmäßig und gingen teilweise in ein Grau über. Little brauchte eine Weile, um sich in diesem Wirrwarr von Flächen und Linien zurechtzufinden. Erst als er zurücktrat und ein wenig den Kopf neigte, sprang ihm die Abbildung förmlich entgegen, so wie man bei der Betrachtung bestimmter dreidimensionaler Bilder lange auf sinnlose Wellenlinien blicken muss, bis sich das Auge und das Gehirn ent­schließen, die Informationen entsprechend zu verarbeiten. Möglicherweise war es eine Täuschung, die durch diesen überraschenden Effekt entstand, aber Little war sich sicher, dass auch dieser Holzschnitt dreidimensional war, sodass ihm das Buch nun wie ein Kasten erschien, in dem ihm die Figuren entgegentraten.

Und was für Figuren es waren!

***

»Vielleicht hat sich der alte Häuptling überschätzt und er kann nicht mehr?«, vermutete Tony Tanner. Seine Stimme hörte sich besorgt an. Er schaute auf die dunkelhäutige Gestalt, die schon seit einiger Zeit auf einem Platz stand, zitternd und bebend, manchmal zu einem kleinen Sprung ansetzend und dann wieder in ein leises Hin- und Herwiegen verfallend.

»Der bricht gleich zusammen, wir müssen ihm helfen. Ich bringe ihm Wasser!«, erklärte Tony entschieden und wollte aus dem Wagen steigen. Steeles Hand auf seiner Schulter hielt ihn zurück.

»Hiergeblieben. Der Alte brauchte keine Mund-zu-Mund-Beatmung, und wenn er Wasser wollte, würde er es verlangen. Dieser Abo ist so zäh wie meine alten Schuhsohlen, dem geht es besser als uns.«

»Und warum macht er dann diese Mätzchen?«

»Vielleicht findet er seinen blöden Weg ja nicht mehr. Oder es ist genau so eine Show wie seine Kriegsspiele. Übrigens, wir haben gar kein Wasser mehr.«

»Was!« Tony fuhr hoch. »Wir haben kein Wasser mehr?«

Er sagte es, und indem er es sagte, verspürte er die brennende Trockenheit in seiner Kehle.

»Wäre das nicht vielleicht mal eine kleine Bemerkung wert gewesen? Meiner Kenntnis nach hält es ein Weißer in dieser Gegend ohne Wasser keine 24 Stunden aus.«

»Ich schätze, 24 Stunden ist schon ziemlich optimistisch gedacht«, antwortete Steele kno­chentrocken – im wahrsten Sinne des Wortes.

»Was ist das hier? Eine Kamikaze-Aktion?«, krächzte Tony Tanner.

Steele sah ihn grinsend von der Seite an. Tony wäre seinem Begleiter für diese überlege­ne Hat der Kleine vielleicht Bangschiss?-Miene am liebsten ins Gesicht gesprungen. Aber er fühlte sich schon fast zu schwach, nur daran zu denken.

»Keine Sorge«, ließ sich Steele jetzt zu einer Erklärung herab. »Ich bin davon ausgegan­gen, dass unser Abo hier Wasserstellen kennt.«

»Aber er geht diesen Weg zum ersten Mal. Und es ist ein spiritueller Weg.«

»Spiritueller Weg hin, spiritueller Weg her«, spottete Steele. »Mir ist noch kein Fall bekannt, dass Spiritualität auf die Dauer Wasser ersetzt. Merksatz Numero eins: Trinken muss auch der frömmste Abo. Merksatz Numero zwei: Im Autokühler ist literweise Wasser. Merksatz Numero drei: Der gute alte Steele kann Kühlerwasser trinkbar machen und abge­sehen davon, da draußen … » Steele deutete nach rechts, wo sich eine hügelige Weite mit scharf eingeschnittenen Trockentälern öffnete, » … da draußen ist Wasser zu finden, darauf verwer­te ich meine seit einer Woche getragene Unterwäsche.«

Tony konnte die Wette nicht annehmen, denn in diesem Augenblick fiel Häuptling Koala auf den Rücken, hob die Arme hoch und begann zu kreischen.

Vor Littles erstaunten Augen stand in der Mitte des Holzschnitts die Gestalt des Satans. Es war ein schöner, geradezu klassisch proportionierter Körper in antiker Nacktheit, der sich dort in zierlicher, ein wenig affektierter Biegung präsentierte. Selbst die Wade, aus der statt eines Menschenfußes der Bockshuf entsprang, wirkte muskulös und ansehnlich, so als wäre dies eher Schmuck als Makel. Der Kopf des Bösen war mit langen dunklen Locken bedeckt, die ihm bis auf die starken Schultern fielen, sein Gesicht war männlich und markant, mit beton­ten Brauen, großen schwarzen Augen, einer großen, kühnen Nase, den weiblich geschwunge­nen Lippen eines großen sinnlichen Mundes und einem starken, leicht gespaltenen Kinn. Von der der Haartracht abgesehen, war es in den Augen Littles ein Gesicht, das perfekt auf faschis­tische Propagandaplakate der Mussolini-Ära gepasst hätte – oder auf jene Werbefotos, die in den 90ern bewusst mit diesen Motiven spielten. Ein energisches, abenteuerlustiges, aber sicherlich kein Teufelsgesicht, keine Fratze, keine grimassierende Maske. Das Antlitz eines Engels, der zu mutig, zu kraftvoll, zu stolz, zu selbstsicher war, um Befehlen zu gehorchen.

Mit Mühe musste sich Little von der Betrachtung dieses Gesichtes lösen. Er empfand spontane und tiefe Sympathie mit diesem Wesen, und etwas wie Mitleid, wenn er an die Verbannung dieses herrlichsten aller Geschöpfe aus den himmlischen Gefilden dachte und daraus entspringend so etwas wie Misstrauen, ja Abneigung gegen diejenige Macht, die das Schöne aus ihrem Umkreis in die Tiefen der Hölle stürzt …

Little stutzte und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Gerade als er diese Empfindungen in sich registriert hatte, schien aus dem Buch ein schwerer, betäubender Duft aufzusteigen. Little konnte nicht genau definieren, was seine Nase traf, aber es brachte sogleich Bilder mit, die, sich überstürzend, durch sein Bewusstsein taumelten: Bilder von nackten, weißen Frauenkörpern, von denen der schwere Duft von Patschuli, vermischt mit dem Schweiß des Begehrens und der Wollust aufstieg, helle fleischige Orchideenblüten, welche die Nüstern mit träge aufwölkenden Gerüchen einer Süße, die in jedem Moment in Fäulnis umschlagen kann, reizten. Es roch nach den Kaffeehäusern eifrig diskutierender Intellektuellenzirkel, die mit missionarischem Ernst und unzerstörbarer Arroganz an den Säulen der Moral nagten, nach den Wasserpfeifen in Harems, wo das Schicksal ganzer Reiche in müßiger Sinnenlust ver­spielt wurde.

 

Nur mit Mühe konnte sich Little aus dieser Vision lösen und seinen Blick auf die abscheu­lichen Flügel richten, die hinter dem Rücken Satans aufragten. Es waren fledermausartige Schwingen, zackig, kantig, ledrig und hart, die wie ein Foltergestell wirkten, an das eine grau­same Gewalt den gefallenen Engel gebunden hatte. Sie auszubreiten, das erkannte Little, musste mit ungeheuren Schmerzen verbunden sein. Mit ihnen zu fliegen, mit ihrem Leder, mit den sausenden Knochenspitzen, die herausragten und die ein schrilles Pfeifen von sich geben mussten, dies konnte nur ein Teil der Hölle selbst sein, die der Gefallene mit sich zu schlep­pen hatte. Ja, dieser Leib, diese Gestalt waren geschaffen, um von weißen, glänzenden Schwingen geräuschlos durch die tiefsten Tiefen der Schöpfung getragen zu werden, bis zu den fernsten Sternen, jenes Böse zu vernichten, dass sie nun selbst verkörperte.

Mit einem Mal hatte Little das Gefühl, unter Wasser zu sinken und ersticken zu müssen. Er schnappte nach Luft und bemerkte, dass er unbewusst den Atem angehalten hatte, weil sich in seinem Unbewussten nun Gedankenverbindungen gebildet hatten, die langsam nach Worten suchten, in die sie sich kleiden konnten, um aufzusteigen. Little dachte an seinen Vater und an Voigt, an die Psychiater, die ihn gepeinigt hatten, an seine wissenschaftlichen Kollegen, die ohne den Anflug eines Gefühles andere Geschöpfe zu Tode quälten, weil sie die Wesen als nieder einstuften und deren Schmerz als ungültige Währung auf dem Zahltisch der Zivilisation ansahen, er dachte an Leibowitz und die gigantische Dampflok und dann wie­der an Voigt und seinen Vater und dann sah er den Gegenstand in der Hand des Satans.

Eine kleinere Gestalt, durch Umhang und Barett als Gelehrter kenntlich gemacht, griff begierig nach diesem Ding. Zwischen diesem ältlichen Mann und dem gestürzten Engel stand eine dritte Gestalt. Es war eine junge Frau, nackt oder vielmehr mit einem hauchdünnen Gewand bekleidet, dass ihre Nacktheit zwar bedeckte und sie dennoch wie eine Buhlerin her­vorhob und sie dem Betrachter anpries. Das Gesicht der Schönen war nicht genau zu erken­nen, aber als Little es fixierte, war er sicher, dass sie die Züge Maddalenas hatte, die dann mit seinem nächsten Wimpernschlag wechselten und Ähnlichkeit mit einer Freundin bekamen, an die Little noch heute nur mit Schmerzen zurückdenken konnte, die er aber, unter dem wohl­tätigen Einfluss der Behandlung durch Doktor Dorota Tebaldi bis jetzt völlig vergessen hatte.

Die Frau trug ein schön verziertes Gefäß in ihren Händen. Es war offen, und wie schwar­zer Rauch entstiegen ihm verdrehte Leiber und verzerrte Gesichter und flohen in das Land, das – Little bemerkte es erst jetzt nach einer leichten Veränderung der Kopfhaltung – übersät war von Galgen, an denen Tote hingen, von Schlachtfeldern voller Leichen und Aasfressern und brennenden Städten, von deren Mauern Frauen ihre Säuglinge in die Speerspitzen der Belagerer warfen, um sich dann hinter ihnen herzustürzen.

Diese Frau war Pandora, daran gab es keinen Zweifel.

Und das, was der gefallene Engel in der Hand hielt, um es dem Gelehrten zu übergeben … war das Oculum!

Littles Blick glitt an den unteren Rand der Seite. Donum Satanae stand dort. Satans Gabe. Satans Geschenk.

 

Ein Aufschrei gellte in Littles Ohren. Er zuckte zusammen, seine Hände klappten mit einem lauten Krach das Buch zu. Augenblicklich befand sich Little mitten in einer Wolke von beißendem Staub, er musste die Augen schließen und spürte auf der Zunge den zugleich faden und ätzenden Geschmack. Als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen, stand er inmitten eines Staubhäufleins, und das Buch in seinen Händen bestand nur noch aus dem ledernen Einband.

»Hilfe«, schrie Dorkas.

Little stellte die merkwürdig veränderte Hülle des Buches zurück. Dabei fiel es wieder heraus, er musste sich danach bücken und las auf dem vorderen Einband, in schöner Schrift geschrieben: Josef I. Rosenzweig, Schule des kabbalistischen Weistums, Berlin, Charlottenburg 9, Württembergallee 24.

»So helfen Sie doch!«

Von Dorkas war nur der breite Rücken zu sehen, der die liegende Gestalt Troigers ver­deckte. Little war mit drei Sprüngen da und kniete sich nieder. Troigers weiße Haut wirkte durchscheinend, die Adern schimmerten wie schwärzliche Erzeinschlüsse in weißem Gestein an seinen Schläfen. Die Augen waren offen, Troiger schien bei Bewusstsein, atmete aber so flach, dass es kaum zu bemerken war.

Aus Dorkas’ verzerrtem Mund kam ein hilfloses Schluchzen. Er schob seinen Arm unter den Hals des alten Mannes und versuchte, seinen Kopf anzuheben. Troigers Blicke fuhren suchend an den Regalen entlang, dann gelang es ihm, Dorkas ins Gesicht zu blicken und er mühte sich um ein Lächeln, das aber nur zu einer schmerzhaften Grimasse gefror.

»Keine Angst, mein Freund, mir geht es gut«, flüsterte Troiger kaum hörbar.

»Sie brauchen einen Arzt. Sanitäter … Krankenhaus …«, stammelte der völlig aufgelöste Dorkas.

»Kein Arzt, kein Arzt«, murmelte Troiger. Trotz seiner Schwäche nahm die Stimme etwas Befehlendes an. »Kein Arzt, der würde mich nur ins Hospital bringen lassen und das will ich nicht, die würden mich nur zum Sterben dabehalten. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, wenige Tage, ich spüre das. Ich muss Ihnen etwas zeigen … darum muss ich hierbleiben. Holen Sie Milena, bitte …«

Was Troiger sonst noch flüsterte, konnte Little nicht mehr verstehen, denn er war aufge­sprungen und lief nun durch das Labyrinth der Regale, immer links herum und kam mit die­ser zeitraubenden, aber unfehlbaren Methode endlich zum Ausgang. Dort schrie er gegen tschechische Blasmusik aus dem Radio an und lockte so die Haushälterin aus ihrem Zimmer. Milena Kollar schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie Littles gestam­melten und radebrechenden Bericht verstanden hatte, dann schob sie Little energisch zur Seite und ging zum Eingang der Bibliothek.

»Gehen Sie doch«, stammelte Little.

Aber die Frau schüttelte ihren Kopf.

»Nie und nimmäär. Doktor Trogäär hasst äs, wenn ich beträtä Bibliothäk!«

Little überlegte, ob er Gewalt anwenden sollte – ein eher theoretischer Gedanke, mit dem er seine Hilflosigkeit überspielte. Da tauchte eine schlurfende Gestalt auf, die sich sogleich als Dorkas und Troiger entpuppte, beide eng umschlungen wie ein Liebespaar, sodass der kraftlose Troiger mehr gehoben als geschleppt wurde. Dorkas keuchte und war selbst dem Zusammenbruch nahe, über sein rundes Gesicht lief der Schweiß in breiten Strömen.

Little sprang zu Hilfe und erst an der Türe nahm sich Milena ihres Patienten an, stellte ihn gegen eine Wand, verschwand und kehrte mit einem altertümlichen, hölzernen Rollstuhl zurück, setzte Troiger darauf und schob ihn durch eine Tür.

Dort blieb sie eine Weile verschwunden. Als sie zurückkam, schaute sie die beiden Männer mit offener Missbilligung an.

»Ihr Bäsuch ist nicht gut für Härrn Troigär. Abär will är sie sehen so bald wie möglich. Sie gäbän mir Telefonnummär von Hotäl ihriges und wärdä ich anrufän und nun gähn Sie!«

Little kritzelte die Nummer auf den hingehaltenen Zettel, dann verließen sie die Villa, und in ihren Rücken waren die Blicke der Haushälterin wie die Hitze eines Flammenwerfers.

Draußen rammte Dorkas seine Fäuste in die Manteltaschen und stapfte wortlos davon. Little folgte ihm mit kleinem Abstand. Keiner von beiden hatte das Bedürfnis nach einem Gespräch. Little ging diese seltsame Adresse nicht aus dem Kopf – kabbalistische Schule des Weistums oder Schule des kabbalistischen Weistums oder so ähnlich. Er fragte sich, wie die­ses Buch in die gewaltige Bibliothek Troigers gekommen war, welches Schicksal seinen ehe­maligen Besitzern beschieden gewesen war und welche Rolle Troiger darin spielte.

Fortsetzung folgt …