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Tony Tanner – Agent der Weißen Väter 7.4

Die Hyleg-Schädel – Teil 4

Steele stürzte sich wie ein Klippenspringer in die Tiefe. Das Drahtseil glitt rasch an ihm vorbei. Schon nach zwei oder drei Körperlängen umfing ihn Dunkelheit. Er schaltete die Lampe ein, suchte das Drahtseil. Die erste Ersatzflasche glitt an ihm vorbei in die Höhe. Mit ungeduldigen Flossenschlägen trieb sich Steele weiter. Plötzlich hatte er das Seil verloren. Er verplemperte Zeit, weil er einige Kreise schwimmen musste, um es wieder zu finden. Endlich fand er es in einigen Metern Entfernung. Ohne es sofort zu merken, war Steele in den Bereich einer starken Strömung geraten. Jetzt konnte er entsprechend korrigieren und seinen Abstieg fortsetzen. Bei 47 Metern traf Steele auf Grund. Die Luftflasche lag auf einem felsigen Absatz, gegen eine kleine Stufe gelehnt. Steele änderte die Position des Signalgerätes ein wenig. Jetzt stand der Fokus der Lichtblitze in Strömungsrichtung, von dort musste Steele sich zu seiner Ersatzflasche heranarbeiten und brauchte einen Orientierungspunkt. Obwohl er im Strömungsschatten der kleinen Felsstufe lag, konnte Steele spüren, wie das Wasser an ihm riss. Schwebeteilchen schoben sich in den Lichtschein der Lampe und waren im nächsten Augenblick wieder verschwunden. Es war fast, als befände sich Steele mitten in einem unter­seeischen Wildwasser. Um zu dem Gebiet zu kommen, in dem sich nach Steeles Einschätzung eine Suche lohnte, brauchte er sich nur treiben zulassen. Dafür würde ihn der Rückweg viel Kraft kosten. Und Kraft bedeutete Luft und Luft bedeutete Zeit. Mit einem Mal erkannte Steele die Sinnlosigkeit seines Unterfanges. Tony Tanner hatte mit seiner Skepsis recht gehabt. Was sollte die Suche in einem Heuhaufen, wenn man dabei noch gezwungen ist, die Luft anzuhalten?

Der vernünftige Weg wäre gewesen, die Aktion abzubrechen, die Deko-Stufen zu machen und sich noch am selben Tag aus Loreta zu verziehen. Mit diesem Gedanken startete Steele seinen Navigationscomputer, stieß sich ab und ließ sich treiben. Nach einigen Sekunden war die Flasche außer Sicht, nur noch die Lichtblitze gaben ihm Orientierung. Mit vorsichtigen Flossenschlägen korrigierte Steele seine Lage und brachte sich ein wenig näher an die Küste. Er wurde über blanken Felsuntergrund geschoben, glatt geschmirgelt von der Strömung. Nur im Schutz einiger Felsnasen gab es Ablagerungen von Schlamm und Sand. Plötzlich ver­schwand der Grund unter Steele. Eine Kante, ein steiler Abhang wurden für einen Moment erkennbar und verschwanden wieder im Dunkeln.

Für eine Sekunde zögerte Steele. Er wusste, wo er sich befand. Unter ihm waren weitere 35 Meter Wasser, bis er auf Grund stoßen würde. Dort, in diesem Gebiet, so hatte sich Steele ausgerechnet, würde er Rohre und Auslässe finden – wenn es sie denn gab. Vielleicht war es denen – wer immer sie auch waren – technisch zu aufwendig gewesen, ihre illegalen Kühlvorrichtungen in dieser Tiefe zu verbergen. Vielleicht fühlten sie sich auch sicher genug, um auf solchen Aufwand zu verzichten. Vielleicht schwamm Steele drei Meter an dem Rohr vorbei und bemerkte es nicht.

Es gab zu viele Vielleicht, für die er sein Leben riskierte. Aber diese Währung, das eige­ne Leben, hatte für Steele keinen hohen Wert. Was schwerer wog, was etwas anderes. Mario, den Steele bisher für einen überspannten Spinner gehalten hatte, war in seiner Wertschätzung gestiegen. Die Wassertiefe, die Strömung, das Relief, die Beschaffenheit des Untergrundes ­alles stimmte mit dem überein, was Mario oder einer seiner Genossen ihm beschrieben hatte. Und sie hatten ihm eine wirklich gute Ausrüstung besorgt. Also waren das gewiss keine Spinner, also war an der Sache etwas dran, also musste Steele in die Tiefe gehen.

Während er abwärtsfiel und das Durchlaufen der Ziffern auf der Anzeige des Tiefenmessers beobachtete, versuchte er zugleich, sich selbst zu beobachten. Ein aussichtslo­ses Unterfangen – mit dem Bewusstsein das Bewusstsein zu beobachten, den Selbsttest machen: Sind meine Gedanken verwirrt? Ist meine Reaktion noch meine Reaktion oder ist sie Symptom eines Tiefenrausches? Denke ich noch die richtigen Gedanken oder ist der richtige Gedanke ein falscher Gedanke, den ich richtig denke?

Für eine Weile bot die unterirdische Wand Steele Schutz vor der Strömung. Er konnte sie nicht erkennen, der Lichtkegel seiner Lampe erfasste sie nicht mehr, aber er hatte inzwischen ein Gespür für die Strömung entwickelt. Glaubte Steele zumindest. Es war, als würde er durch einen senkrechten Tunnel stürzen. Es kam ihm länger vor, als erwartet. Endlich erreichte er den Grund. Eine Schlammschicht deutete an, dass die Strömung hier keine Kraft hatte. Steele schwamm zur Seite. Nach einer kurzen Strecke traf er erwartungsgemäß auf die Küste, die hier unterhalb des Meeresspiegels stark vorsprang. Darum war es nicht notwendig gewesen, die Mare nostrum näher an das Ufer zu bringen und sie dadurch der Gefahr einer Entdeckung von der Landseite auszusetzen. Auch hier waren die Angaben Marios zutreffend.

Der Tiefenmesser stand bei 85 Metern. Wie viel Zeit blieb ihm überhaupt noch?

Steele fand einen Maschinenblock, der sich halb in den Schlamm gebohrt hatte. Irgendein Fischer hatte die Entsorgung auf diese Weise für ausreichend gehalten. Steele musste inner­lich grinsen. Jetzt hatte doch jemand den Kerl erwischt. Er würde die Fabriknummer auf­schreiben und den Kerl bei der Polizei anzeigen und dann dachte er, habe ich das gerade gedacht?, das ist doch völlig bescheuert.

Er blickte auf den Druckzeiger. Die Zeit drängte, in dieser Tiefe saugte er seinen Luftvorrat schnell leer, die Anstrengung des Rückweges war einzuberechnen …

Mit knappen Bewegungen seiner Flossen trieb sich Steele vorwärts. Je mehr er sich von der unterseeischen Felswand entfernte, desto stärker wurde wieder der Einfluss der Strömung spürbar. Eben noch war er in einer Art von ruhigem Kehrwasser gewesen, nun spürte er die Unruhe des Wassers, fühlte sich von unsichtbaren Kräften gezerrt und im nächsten Augenblick wieder behindert. Der Untergrund war erneut blanker Felsen. Steele war es egal. Er fühlte sich gut und war sicher, die Aktion mit leichter Hand zum Erfolg zu bringen. Es gab kein Hindernis außer der eigenen Verzagtheit.

Ein weiterer Blick auf seinen Druckanzeiger brachte ihn blitzartig zurück in die Realität. Er erkannte, dass er noch vor einer Sekunde einen leichten Anfall von Tiefenrausch gehabt haben musste. Der Luftvorrat war so gering, dass er auf der Stelle umkehren musste. Jede weitere Verzögerung knabberte an seiner Sicherheitsreserve, die er von vornherein schon auf ein Minimum reduziert hatte.

Noch während sich seine Gedanken mit dem weiteren Vorgehen beschäftigten, hatte Steeles Körper eine Entscheidung getroffen. Seine Beine brachten die Flossen mit kräftigen Schlägen in Bewegung. Weiter glitt über den felsigen Grund. Im Lichtkegel seiner Lampe sah er den steilen Anstieg der Küste, Felsbrocken, Steine, Gesteinstrümmer, Spuren von Lawinen, die von dem Steilhang über ihm abgegangen waren. Der Lichtschein verursachte bei jeder Bewegung ein hastiges Springen von Schatten. Etwas stieß sich von der Seite eines Blocks ab und verschwand blitzartig in der Dunkelheit.

Steele blickte auf den Tiefenmesser. Er zeigte eine Tiefe von 90 Metern an. Nach zwei Sekunden schaute Steele auf den Tiefenmesser. Er zeigte eine Tiefe von 90 Metern an. Hatte er nicht eben schon …? Welche Tiefe war das noch mal? Er wühlte in seiner Erinnerung, hatte aber vergessen, ob er jetzt ein- oder zweimal auf den Tiefenmesser geschaut hatte.

Nun gut, er kannte diese Reaktion. Sein Kurzzeitgedächtnis funktionierte nicht mehr rich­tig. Jetzt gab es weniger Automatismen, jetzt musste er sich die Mühe machen, jede Bewegung, jede Handlung mit äußerster Bewusstheit durchzuführen. Ruhig bleiben, tief durchatmen. Tief durchatmen? Als ob er auf einer Bergwiese stände. Als ob sein Luftvorrat unbeschränkt wäre …

Als würde er aus einem Traum erwachen, wurde sich Steele seiner Lage bewusst. Die Atemluft schmeckte nach Öl, das Mundstück seines Tauchautomaten lag wie ein lästiger Fremdkörper auf seiner Zunge. Über ihm waren neunzig Meter Wasser. Eine waagerechte Distanz, die ein guter Läufer in zehn Sekunden durchmessen konnte. Eine senkrechte Distanz, die den Menschen in eine feindselige Umgebung beförderte, als hätte er sich mit einer Rakete ins All geschossen. Eine Wassersäule, die seine Lunge auf die Größe zweier Fäuste zusam­menpresste, die seinem Körper bei jedem Atemzug deutlich machte, dass er am falschen Platz war, die seinen Geist trübe machte, seine Gedanken wie zu trägem Gelee gerinnen ließ.

Nein, Steele konnte jeden Anflug einer Panik abwehren. Er schwamm, mechanisch, beob­achtete weiter. Dann überkam ihn das sichere Gefühl, dass er beobachtet wurde. Es war unmöglich und dennoch war er sich sicher, dass es einen Beobachter gab, der ihn kühl und überlegen betrachtete, seine Reaktionen abwog, seine Gedanken bewertete. Es war kein mate­rielles Wesen, keiner, der hinter ihm herschwamm. Und dennoch von unleugbarer Wirklichkeit. Für einen Moment blitzte Steele das Bild eines Mannes durch den Kopf, einer düsteren Gestalt, die sich in einen langen schwarzen Mantel hüllte.

Mit ein, zwei energischen Flossenschlägen schwamm Steele vorwärts, vorbei an dem qua­dratischen Felsblock mit den Bohrspuren, vertrieb alle störenden Gedanken. Er hatte nur noch Sekunden. Jetzt musste er umkehren, sonst reichte sein Luftvorrat nicht mehr.

Hatte er nicht eben etwas gesehen? Was war es? Mühsam versuchte sich Steele zu erin­nern. Etwas war durch den Lichtschein geglitten. Etwas … etwas, das …

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Nein, er sah es wieder … einen Quader, zu symmetrisch, um seine Form den Naturvorgängen zu verdanken. Und diese geraden Linien, die sich über die Seitenfläche zogen. Sie bedeuteten irgendwas. Steele marterte sich das Hirn, bis er die Lösung fand. Es waren Bohrlöcher. Spuren irgendeiner Art von Bautätigkeit. Er musste also auf der richtigen Spur sein …

Es sei denn, man hatte Reste von Uferbefestigungsarbeiten einfach ins Wasser gekippt und sie waren durch Lawinenversatz bis in diese Tiefe gekommen. Obwohl sich seine Gedanken durch einen Morast von Trägheit kämpften, stand Steele dieses Möglichkeit klar vor Augen. So klar, dass es ihn misstrauisch machte. Es war so, als hätte jemand eine Neonreklame gezündet, um ihn abzulenken oder zu entmutigen.

Du musst umkehren, sofort, sagte sich Steele und schwamm weiter.

Als er schließlich an einem Punkt angelangt war, an dem ihn sein instinktiver Überlebens­wille zur Umkehr zwang, stockte Steele und hielt den Atem an. Als das Blubbern der aufstei­genden Luftblasen verklungen war, konnte er durch die tiefe Stille des Wassers ein Geräusch hören.

Unter Wasser dringt der Schall unglaublich weit. Zugleich ist es für einen Menschen unmöglich, die Richtung, aus der ein Geräusch kommt, festzustellen.

Steele hatte also nichts erreicht. Außer einem weiteren Anlass, sich selbst bei dieser Gelegenheit umzubringen. Indem er weiterschwamm, wie er es jetzt tat. Er glitt weiter, wie­der jedes bessere Wissen. Das Geräusch wurde lauter. Es war ein Brodeln und Zischen, als würde ein riesiger Wal schnaubend seine Lungen leeren.

Steele konnte sich das Geräusch nicht erklären.

»… kann nicht«, quetschte Tony Tanner zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus.

Ihre schlanken Finger strichen über seinen Rücken. Ein leises, lustvolles Stöhnen kam von Lucilles halb geöffneten Lippen, ihr schlanker Leib bäumte sich leicht gegen das Gewicht des auf ihm liegenden Mannes. Sie konnte seinen kräftigen Herzschlag auf ihrer Brust spüren. Mit wachsender Erregung strichen ihre Fingerspitzen über seine Muskeln, die sich wie harte Stränge durch die Haut drückten.

»Oh, mein armer Kleiner kann nicht«, flüsterte Lucille Chaudieu und presste Tony an sich. »Ich bin vielleicht etwas aus der Übung, aber ich bin sicher, ich werde nachhelfen können.«

Ein Knall, ein Zittern des Bootsrumpfes, ein Splitterregen – Lucille Chaudieu verstand innerhalb dieses kurzen Momentes, warum Tony weder konnte noch wollte.

Es war zugegebenermaßen nicht die Art des feinen Herrn – also Tony Tanners sonstiger Lebensmaßstab – trotzdem hatte er beim Küssen kurz die Augen geöffnet. Und lange bevor das Dröhnen der Motoren an sein Ohr schlug, hatte er die beiden Motorboote gesehen. Das eine war eine weiße Sunseeker, das andere, ein niedrigeres, dunkel lackiertes Boot, erweckte beim ersten Anblick nur eine Assoziation: Zigarettenschmuggel.

Wie Schemen tauchten die beiden Boote aus dem Dunst auf, waren einige Sekunden lang nur unscharf zu erkennen, einige Sekunden, in denen Tonys Herzschlag zu poltern begann. Sekunden, in denen widerstrebende Reaktionen an ihm zerrten. Panik, Furcht, die Verpflichtung zu kämpfen, die Hoffnung, dass er sich getäuscht hatte, dass er einem Trugbild aufgesessen war.

Die Boote kamen näher, schälten sich aus dem Dunst, ließen sich nicht wegdiskutieren, stießen sich brutal in Tonys Leben, machten ihn zu einem Anhängsel, einer bloßen Marionette ihrer Aktionen. Er musste Lucille schützen und warf sich über sie auf Deck.

»Jetzt wissen wir wenigstens, dass sie keine Autogramme wollen«, flüsterte Tony, als ob man ihn auf den beiden Booten hören könnte. Lucille stieß nur einen erschreckten Schrei aus und starrte ihn aus großen Augen an. Tony schob sich aus der Deckung des Deckshauses zum Heck. Dort stand die Tasche Steeles zwischen Kleidungsstücken und Werkzeug. Die Tasche, in der sich die Pistole befand. Die Pistole, von der Tony eigentlich gehofft hatte, dass er sie nicht gebrauchen musste.

Kaum hatte er den Kopf hinter der Wand vorgestreckt, als er ihn auch sofort wieder ein­zog. Eine Salve von Schüssen schlug spitze Fontänen aus dem glatten Wasser, sie kamen näher, zwei Einschläge stanzten Löcher in das Deck, Vulkane kleiner Splitter brachen aus.

Die Tasche war zu weit entfernt, Tony konnte sie nicht mit dem Arm erreichen.

Im nächsten Moment dröhnte ein Boot an ihnen vorbei, Tony konnte den Luftzug des Rumpfes im Nacken spüren. Die Heckwelle brach über die Reling der Mare nostrum, das Deck schwankte, als wäre Bullenreiten angesagt. Tony verlor das Gleichgewicht, ruderte mit den Armen und kippte über Bord.

Lucille hatte sich noch nicht aufgerichtet, konnte sich mit den Armen noch abfangen und sprang auf allen vieren vorwärts. Der Schrecken schickte Alarmsignale durch ihre Nervenbahnen, und dennoch fiel es ihr unendlich schwer, sich aus der Realität, in der sie eben noch die Umarmung Tonys genossen hatte, in diese andere, neue Realität zu bewegen.

Ihre erste Reaktion war, in das Deckshaus zu flüchten und sich zu verstecken. Sie hatte diesen Gedanken nicht einmal zu Ende gedacht, als ihr klar wurde, dass sie Tony helfen muss­te. Sie beugte sich über die Bordwand und versuchte, ihn in dem trüben Wasser zu erkennen. Für einen Augenblick bot sie das unpassende Bild eines Passagiers, der mit Muße die Blicke über das Meer schweifen lässt.

***

Die Wahrheit hatte den Beigeschmack des Banalen. Steele näherte sich dem Geräusch. Er war jetzt sicher, dass das Zischen und Fauchen direkt vor ihm sein musste, trotz der Unmöglichkeit, unter Wasser eine Geräuschquelle genau zu orten.

Im Lichtkegel der Tauchlampe wurde das Wasser milchig. Ein Wirbel von Schwebeteilchen sog das Licht auf, verwischte den Blick und machte es schwer, die Hand vor Augen zu erkennen. Zugleich war Wärme spürbar, die sich mit jedem Meter erhöhte, den Steele vorwärtsschwamm.

Das Rauschen hatte sich in ein vibrierendes Dröhnen gewandelt und war schmerzhaft laut. Steele stieg einige Meter nach oben, kam aus dem Nebel der Schwebeteilchen heraus und sah das, wonach er gesucht hatte. Er machte einige Fotos zur Dokumentation und begann den Rückweg. Die Fotos hatten keinerlei wirklichen juristischen Wert, sondern waren eher als nette Geste für die Globo No-Leute gedacht.

***

Tony Tanners erste Reaktion war Wut über seine eigene Ungeschicklichkeit. Er bekam die Bordwand gegen die Knie und platschte mit dem Rücken zuerst ins Wasser. In jedem Schwimmbad hätte er eine Lachnummer für sommersprossige Rotzjungen abgegeben. Für einen Moment konnte sich Tony nicht orientieren. Oben und unten waren verschwunden. Er schlug mit Armen und Beinen um sich, fühlte Panik, bekam Wasser in die Nase. So durch­brach er strampelnd die Oberfläche, drehte sich und sah über sich Lucille, die ihm ihre Hand entgegenstreckte.

Er wollte Lucille auffordern, ins Wasser zu springen. Die Strecke bis zum Ufer war leicht schwimmend zurückzulegen. Er verwarf den Gedanken sofort wieder, denn unterwegs wäre sie die leichte Beute der Boote geworden.

Tony wollte etwas rufen, hatte Wasser in der Lunge und hustete und würgte.

»Geh in Deckung«, brachte er heraus und beantwortete Lucilles Hilfsangebot mit einem energischen Wegwinken. Die Rettungsaktion hatte sich jetzt erledigt. Wieder dröhnte das Boot heran. Tony hörte Lucilles Alarmruf, schaute zur Seite, wo jetzt das dunkle Motorboot hinter dem Bug der Mare nostrum auftauchte und Kurs auf ihn nahm. Mit einer gischtigen Welle im Maul raste das Boot auf Tony zu.

Der zögerte nicht länger und tauchte ab, mit hektischen Stößen versuchte er Tiefe zu gewinnen, hatte das Sirren der Schrauben im Ohr, spürte schon mit jeder Nervenfaser, wie die geschliffenen Kanten der rasenden Propeller seine Beine zerhacken würden, als wäre er in einen Fleischwolf geraten.

***

Lucille sah, wie Tony im Wasser verschwand, sich drehte, den Fuß noch einmal durch die Oberfläche stieß, in dem verzweifelten Versuch, sich vor dem heranrasenden Boot in Sicherheit zu bringen. Es konnte nicht gelingen, zu wenig Zeit, zu langsam Tony, zu schnell das Boot. Kaum war er verschwunden, schon pflügte der Bug des dunklen Motorbootes über die Stelle, frästen die beiden schweren Außenborder eine Furche durch die See. Die heißen Abgase schlugen Lucille ins Gesicht, dann kam die Heckwelle, hob den Bug der Mare nos­trum, brandete über die Reling. Lucille wurde von den Beinen gerissen und mitgespült. Die Mare nostrum krängte schwer, ihre Seite geriet unter Wasser, für einen Moment glaubte Lucille, das Boot würde umschlagen. Sie schaute in graues, aufgewirbeltes Wasser, überall Wasser, Wasser in der Nase, Wasser in der Lunge, keine Luft, Hustenanfall, Ersticken, Panik, dann hob sich die Mare nostrum wieder, ihre Seite kam rauschend, von gischtigem Wasser überspült, aus der See wie ein auftauchender Wal. Halb betäubt tastete sich Lucille vorwärts. Ihr Haar hing ihr ins Gesicht, sie strich ungeduldig die Strähnen zur Seite, als wären es Algenfäden. Wo war Tony? Er musste irgendwo auftauchen, so lange konnte er den Atem nicht anhalten, zumal er abtauchen musste, ohne vorher noch einmal Luft zu schnappen, sie hatte es genau gesehen. Wo war er?

Jetzt kam das nächste Boot, das weiße. Es war größer, es lag tiefer, seine Schrauben konn­ten ihr Opfer noch besser erreichen. Und das Opfer war Tony!

Wimmernd suchte Lucille Chaudieu nach einem Halt und tastete sich auf dem bockenden, schwankenden Boot vorwärts. In dem aufgewühlten Wasser war nichts zu sehen, keine Hand, kein auftauchender Kopf.

Nur ein Fleck, ein dunkler Fleck, der sich langsam verteilte. Lucille war sicher, dass sich direkt neben dem Boot ein Blutfleck auf dem grauen Wasser ausbreitete.

Instinktiv, wie ein gehetztes Tier, suchte Lucille Chaudieu nach einer Deckung. Tonys Tod hatte ihr alle Gewissheiten entrissen, sie hilflos gemacht wie ein Kind. Jeder Widerstand brach zusammen, jeder Gedanke daran war unmöglich, alles war unmöglich, alles war sinn­los. Schluchzend überließ sich Lucille ihrem unbewussten Antrieb, der sie in ein Versteck führte. Sie schlüpfte in das Deckshaus und begab sich damit in eine selbst gewählte Falle.

***

Die Strömung war stärker als erwartet. Oder verließen ihn schon die Kräfte? Flossenschlag für Flossenschlag kämpfte sich Steele vorwärts. Das Wasser schien zu einem anderen Element geworden, zäh, gummiartig, hartnäckig, eine Schicht von Widerstand, durch die er sich schieben musste. Sein Navigations-Computer führte Steele genau auf denselben Weg zurück, den er gekommen war. Nun aber schob sich der Boden ihm nur langsam entge­gen.

Endlich ging es wieder leichter, Schlamm unter ihm, er war in der Nähe der Felswand. Steele stieg auf, konnte sich für einen kurzen Augenblick erholen, das Brennen in seinen Schenkeln ließ nach. Er war bestens in Form, aber dennoch bedeutete jede neue körperliche Anstrengung eine andere, neuartige Herausforderung für seine Muskulatur. Und in diesem Fall musste Steele feststellen, während die Felswand mit ihren Nischen, Simsen und Vorsprüngen an ihm vorüberzog, dass seine Muskeln versagten. Nicht, dass er fürchtete zusammenzubrechen. Aber er hatte ein bestimmtes Bild von sich und seiner Leistungsfähigkeit und diese Folie ließ sich nicht mehr mit dem tatsächlichen Zustand in Übereinstimmung bringen.

Ende der Überlegungen – Steele hatte die obere Kante der Felswand erreicht. Die Strömung fuhr ihm entgegen wie eine Sturmböe. Mit gewaltiger Kraftanstrengung erreichte er den Grund und presste sich an den Felsen. Als würde er eine senkrechte Wand emporklet­tern, suchten seine Hände nach Spalten und Griffen und so zog er sich vorwärts. Seine Erfahrung als Bergsteiger kam Steele in diesem Moment zugute. Er kam vorwärts, unterstütz­te die Arme mit kräftigen Flossenschlägen, gewann manchmal sogar an Geschwindigkeit, suchte die Deckung von Felsblöcken, um in deren Schutz einige Meter ohne den Widerstand der Strömung zurückzulegen. Manchmal schien er alles unter Kontrolle zu haben, Griff folg­te auf Griff, der Boden zog sich unter ihm weiter. Dann packte ihn die Strömung wieder mit aller Macht, plötzlich wurde er zurückgetrieben, musste kämpfen, sich schinden, alles geben, um einige Meter gutzumachen, hörte das Klacken der Ventile seines Automaten, das Blubbern der aufsteigenden Luft und wusste, dass er es nie und nimmer schaffen könnte. Er hatte seine Reserven aufgebraucht, er hatte sich verkalkuliert. Und wofür? Für diese Bilder einer Kamera, die in der Vordertasche seiner Weste steckte?

***

Das Boot dröhnte direkt über ihn hinweg, der Sog wirbelte Tony umher, sodass er wieder jede Orientierung verlor. Die Luft wurde ihm knapp, er musste auftauchen und einatmen, er durfte nicht auftauchen, sie warteten nur darauf, ihn mit ihrem tonnenschweren Boot zu über­rennen.

Seine Arme schlugen an einen Widerstand. Das nächste Boot rauschte direkt über ihm vorbei, ein heller Rumpf vor dem Grau der Wasseroberfläche, ein gischtig-weißer Heckwirbel, Schraubensirren, der Griff des Sogs, Kräfte, die ihn packen, umherwirbeln woll­ten.

Da war das Drahtseil! Tony zog sich in die Tiefe. Hand über Hand riss er seinen wider­strebenden Körper nach unten, glitt in die Dunkelheit hinein. Sein Herz raste, er hörte sich selbst würgende Geräusche machen, während er den Mund zusammenpresste und den Schrei nach Luft, den seine Lunge ausstieß, ignorierte. Sein Kopf dröhnte, jeder Herzschlag war wie die Erschütterung einer Explosion, seine Schläfen hämmerten, heißes Blei schien durch sie zu pulsieren. Noch eine Hand. Und noch eine Hand. Zupacken … ziehen. Wo war das ver… Drahtseil? Tasten … tasten, da war es, zufassen … ziehen … tiefer, weiter in die Tiefe, immer weiter.

***

Lucille stolperte über die Schwelle, verlor den Halt, taumelte weiter und konnte sich im letzten Moment an der verölten Verkleidung des Motors abstützen. Der Raum war fensterlos, sie stand dem Licht, das durch die Tür einfiel selbst im Weg. Halb blind tastete sie sich vor­wärts, ihre Augen gewöhnten sich nur schwer an das Halbdunkel. An den Seiten waren Sitzbänke, links ein hochgeklappter Tisch, rechts zusätzlich ein Kasten. Um ihre Füße schwallte öliges Wasser, in dem eine vollgesogene uralte Zeitung lag. Ein erstickender Geruch von Dieselöl lag in dem Raum. Hinter der hüfthohen Motorverkleidung war ein schmaler Raum frei.

Ohne nachzudenken schob sich Lucille an der Seite vorbei. Dort hinten wollte sie sich verstecken. Das Boot bewegte sich plötzlich heftig, draußen brüllte ein Motor auf. Es gab einen Stoß. Sie rammen uns, fuhr es Lucille durch den Kopf, sie wollen uns rammen. Dann hörte sie das Schurren eines Rumpfes an der Scheuerleiste entlang und erkannte, was wirk­lich vor sich ging. Es war schon zu spät. Jetzt erzitterte die Mare nostrum als Füße auf ihr Deck polterten. Lucille hielt den Atem an und zählte mit. Eins … zwei … drei. Und dann kam noch einer. Sie würden sie finden, sie hatte keine Chance.

Weil das Gewicht der Männer das Boot zur Seite krängen ließ, lief das Wasser ab und ein Teil des Fußbodens wurde sichtbar. Zwischen den Planken lag ein Ring. Lucille begriff nicht sofort, dann erkannte sie das, was sie für eine Chance hielt. Das war die Falltür, die in den Laderaum führte. Mehr als eine Bilge konnte es nicht sein, aber es sollte reichen, um sich zu verstecken. Ihr verwirrtes Hirn gaukelte ihr die Hoffnung auf Sicherheit vor, trieb sie urplötz­lich zu größter Aktivität. Sie setzte mit einem Hechtsprung über die Motorverkleidung, warf sich auf die Knie und zog am Ring. Stöhnend, mit letzter Anstrengung löste sie die Türe, fand Zeit hineinzuschlüpfen.

In Sicherheit, endlich …

Den Schatten in der Tür bemerkte sie nicht mehr.

Der Schock traf sie um so härter. Eine Hand wickelte sich in ihr Haar und riss sie brutal in die Höhe. Lucille empfand den Schrecken wie einen Messerstich. Dann kam der Schmerz und sie begann zu schreien.

***

Steele verpasste den Griff in eine Spalte, versuchte nachzugreifen. Seine Fingerkuppen schmirgelten über den Fels. Er strampelte wuchtig mit den Flossen, wurde umhüllt von Blasen, gewann einige Zentimeter, verkrallte sich in den Spalt und zog sich vorwärts. Seine Lampe hatte er schon längst am rechten Unterarm befestigt, um beidseitig zugreifen zu kön­nen. Aber jetzt wurde der Lichtschein unruhig, tanzte, zwang ihn immer wieder zu Pausen, um die nächste Umgebung auszuleuchten.

Wenn er nicht in der nächsten Minute bis zur Reserveflasche kam, war sein Luftvorrat ver­braucht.

Ein Geräusch drang an Steeles Ohr. Er verdrängte es, weil es ihn an das Rohr erinnerte. An dieses lächerliche Rohr, dessentwegen er jetzt sein Leben riskierte. In der Kamera waren die Fotos: ein vielleicht mannshohes Rohr, das von oben die steile Böschung herunterlief. Es war sorgfältig in eine frei gesprengte Bettung gelegt worden, machte unten, am Grund einen Knick, lief noch drei oder vier Meter geradeaus und war dann zu Ende. Das war’s.

Das Geräusch kam von Motorbooten. Steele registrierte instinktiv, dass es sich um schnell laufende Schrauben handelte, um mehrere, dass also nicht die Mare nostrum den Motor angeworfen haben konnte.

Aus dem Rohr schoss ein weißer Strahl von Dampf oder Wasser. Die Flüssigkeit war enorm heiß und sie stand unter enormem Druck. Bläschen stiegen von ihr auf – daher war wohl auch die Tiefe nötig gewesen -, um zu verhindern, dass es an der Oberfläche ständig blubberte. Die Kraft des Strahls hatte vor dem Auslass jeden Stein weggefegt und sogar schon eine Rinne in den Fels gegraben.

Es war das, was Steele erwartet hatte. Eine Art von illegalem Kühlwasserauslass. Jetzt allerdings, wo die Vermutung zur Gewissheit geworden war, kamen ihm Zweifel an dem Sinn der Unternehmung. Diese Penner von Globo No, die da oben jetzt gerade in die Bucht ein­liefen und die beiden auf der Mare nostrum beim Schmusen störten, würden ihren Skandal haben, mit dem sie die Zeitungen für eine halbe Woche füttern und Sponsoren ködern konn­ten. Aber war es das wirklich wert? Oder steckte noch mehr hinter dieser ganzen Sache?

Steeles Navigationscomputer blinkte und zeigte damit an, dass er sich am Ziel befinden musste. Aber nirgendwo waren die Lichtblitze zu sehen, die er jetzt so dringend brauchte.

***

Tony Tanner zog sich an dem Drahtseil in die Tiefe. Er hatte diese Entscheidung getrof­fen – vor langer Zeit, als er noch Luft in der Lunge hatte, als sein Kopf nicht lediglich ein Behälter für panisches Pochen gewesen war. Es hatte damals wohl einen Sinn gehabt, aber jetzt konnte er sich nicht mehr erinnern. Seine Hand stieß an einen Widerstand. Er tastete, glaubte eine Krampe zu erkennen und vermochte nicht, diese Erkenntnis irgendwo in seinem pochenden Schädel an eine weitere Information anzubinden. Mechanisch tastete er weiter. Seine Finger strichen über einen runden Gegenstand, röhrenartig … die Luftflasche … Tony tastete hastig, fühlte den Schlauch, ertastete den Lungenautomaten, glitt um ein Haar in die Tiefe, weil er den Draht losließ, versuchte zu strampeln, während sein Kopf zu platzen schien, bekam das Mundstück in die Finger, stopfte sich das Gummi in den Mund, atmete ein, bekam Wasser in den Hals, glaubte zu ersticken, würgte, bekam köstliche, ölig schmeckende Luft in die Lunge.

Nach drei, vier tiefen, gierigen Atemzügen verschwand der Druck in seinem Kopf. Das war sein Plan gewesen. Abtauchen und so tun, als wäre man nicht da. In der plötzlichen Klarheit, die in seinen Überlegungen herrschte, wurde ihm bewusst, dass diese Methode abso­lut typisch für ihn gewesen war.

Und auch hier funktionierte sie nicht. Es war nicht einmal der Gedanke an die Luftblasen, die jetzt über ihm die Oberfläche zum Sprudeln brachten und seine Position verrieten. Wahrscheinlich machten sich die Kerle in den Booten gar nicht die Mühe, auf solche Feinheiten zu achten.

Aber nun hörte er das Geräusch der Motoren, dann das Schrammen und Schurren zweier Bootsrümpfe. Die Bedeutung war Tony sofort klar. Und auch die Folgerung. Er musste Lucille helfen! Noch einen tiefen Atemzug aus dem Lungenautomaten, dann riss sich Tony das Mundstück heraus und stieg wieder auf.

***

Es war weniger der Schmerz als die Demütigung, die Lucille Chaudieu aus ihrer Erstarrung löste. Der Kerl hinter ihr hatte sich ihr Haar um die Faust geschlungen und riss sie hoch wie eine Puppe. Lucilles Schmerzensschrei ging in ein Kreischen der Wut über.

Sie bekam einen Fuß auf den Boden, stieß sich hoch. Der Kerl, der sie hielt, hatte mit der Reaktion nicht gerechnet, sein Krafteinsatz ging plötzlich ins Leere. Er verlor die Balance, suchte nach Halt. Mit einer schnellen Kopfwendung befreite Lucille ihre Mähne aus seinem Griff und trat zu. Ihr Fuß traf ihm zwischen den Beinen, sein Heulen verriet, dass sie einen beeindruckenden Treffer gelandet hatte. Der Mann kippte nach hinten, trotzdem stieß sein Fuß vor, traf Lucille schmerzhaft am Knöchel und riss sie von den Beinen. Sie stürzte in das schmutzige Wasser, wollte sich abstützen, rutschte mit der Hand ab und knallte mit dem Kinn gegen die Planke. Sterne wirbelten vor ihren Augen, sie geriet für einen Moment an den Rand einer Ohnmacht, öffnete den Mund und bekam Wasser in den Rachen. Hustend und keuchend kam sie auf die Knie, stützte sich auf den Kasten ab. Dann warf sich einer der Männer von hinten auf sie, presste sie mit seinem Gewicht gegen die Kante des Kastens. Die eine Hand des hielt Lucilles Kopf fest. Sie fauchte wie eine wütende Katze, biss zu und erwischte den Finger des Mannes. Mit einem Aufschrei zog er die Hand zurück, presste sich aber weiter mit seinem vollen Gewicht gegen sie.

Seine andere Hand blieb um sie geschlungen, presste ihren Busen und fingerte an ihren Brustwarzen.

»Ich mag es, wenn du vorher ein bisschen wild bist«, hörte sie eine keuchende Stimme an ihrem Ohr. »Ich werde dich schon zureiten.«

Lucilles Kopf ruckte nach hinten, krachte gegen die Stirn des Mannes. Der Druck locker­te sich für einen Moment. Sie nutzte die Chance, schlug mit dem Ellbogen, wühlte sich in eine andere Position, dann setzte sie ihre ganz spezielle Waffe ein.

Der Mann brüllte wie ein Stier und taumelte zurück. Ungläubig schaute er auf seine rech­te Seite, wo aus zerfetztem Hemdenstoff Blut hervorquoll und seine Hose rot färbte. Er starr­te auf seine Wunde, verzog schmerzerfüllt das Gesicht, wollte dann wieder angreifen, aber seine Knie versagten und er knickte ein.

Er wäre nach vorne gestürzt, wenn ihn von hinten nicht eine Hand gehalten hätte.

»Das dreckige Miststück«, heulte eine Stimme.

Lucille war nach hinten getaumelt, suchte nach einem Halt, kam an den Kasten und öff­nete dabei einen Spaltbreit den Deckel. Ihr Blick fiel auf den Inhalt des Kastens. Es waren lange rote Stäbe. Lucille erkannte sie sofort. Als Stewardess hatte sie mit Signalmitteln zumindest in der Theorie zu tun gehabt.

Den Deckel aufzuwerfen, einen Stab zu packen und die Reißleine zu ziehen war eins.

Keine Sekunde zu spät, schon stürmte der nächste Angreifer durch die Tür.

Ein gleißendes rotes Licht empfing ihn. Er prallte zurück, wollte zurückweichen, traf auf die Wand.

Als hielte sie ein Florett, stieß Lucille zu. Sie hatte den Bruchteil einer Sekunde gezögert, als hielte sie diese Waffe selbst für unfair. Ihr Ausfallschritt, das Vorstoßen ihres Armes kamen einen Wimpernschlag zu spät. Der Mann ging in die Knie, beugte den Rumpf vor und schlug von unten gegen Lucilles Hand. Die Fackel flog aus der Türöffnung, zischte draußen auf dem feuchten Deck, bis sie über Bord geworfen wurde.

Ohne zu zielen vollführte Lucille einen Sichelschlag, erwischte mit ihrem messerscharfen Fingernagel den Mann. Sie hörte nur den lauten Schrei, in den sich der schrille Ton völliger Überraschung mischte und wusste, dass sie getroffen hatte.

Der Weg durch die Tür war ihr versperrt, weil sich dort der zusammengekrümmte, stöh­nende Mann eingekeilt hatte.

Sie sprang zurück zu der Kiste, riss zwei, drei der Leuchtstäbe an und hielt sie vor sich wie einen Schild. Durch das wie irrsinnig gleißende rote Licht konnte sie selbst nichts erken­nen, wurde geblendet und stürzte mit zusammengekniffenen Augen vorwärts. Sie konnte durch das Zischen des Magnesiums ein Poltern vernehmen, mit dem ein Angreifer sich has­tig vor ihr zurückzog. Dann knickte sie mit einem Klagelaut zusammen, weil ihr ein Tritt in die Seite den Atem nahm. Im Zusammenbrechen hörte sie eine Explosion.

***

Steele versuchte, die Differenz zwischen der Ortsbestimmung durch den Computer und der tatsächlichen Lage der Luftflasche zu überschlagen. War er schon zu weit? Das schien die unwahrscheinlichste Möglichkeit. Aber es konnte sein, dass ihn die Strömung zur Seite abge­trieben hatte, zehn oder zwanzig Meter reichten und dies würde der Kompass noch nicht ein­mal registrieren, dass er also zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schon an der Luftflasche vor­beigeschwommen war, ohne die Lichtsignale zu bemerken. Obwohl er sich um Ruhe bemüh­te, fiel es Steele schwer seine Gedanken in eine geordnete Reihenfolge zu zwingen. Es war so, als müsste er die Figurenstellung auf einem Schachbrett durchdenken, während der Stuhl, auf dem er saß in Flammen stand. Im Grunde gab es nichts mehr zu durchdenken. Seine bei­den Luftflaschen waren leer, der Druckmesser stand auf null, das, was er jetzt atmete, war der Rest vom Rest, ein Geschenk, eine kurze Gnadenfrist, mehr nicht.

Es gab keine Wahl mehr zwischen verschiedenen Optionen. Steele musste handeln. Er warf einen Blick auf den Kompass. Dann bewegte er die Flossen, schob sich in der Deckung einer Vertiefung weiter.

Eine Explosion dröhnte, im gleichen Augenblick verspürte er die Schockwellen. Sie waren nicht stärker als ein Luftzug, nichts was Steele gefährden konnte. Aber der Knall zeig­te ihm, dass dort oben etwas Unerwartetes stattfand, es sein denn, dass sich die Leute von Globo No dazu entschieden hatten, ihren Feldzug gegen die Globalisierung mit Handgranaten fortzuführen. Die nächste Explosion, jetzt konnte er aus den Augenwinkeln den gelblichen Blitz erkennen, dem das fahle Weiß einer Gischtkugel folgte.

Die Vorstellung, dass er hier unten zu völliger Hilflosigkeit verdammt war, überkam Steele wie ein plötzlicher Fieberschub. Seine Kraft schien zu verschwinden, seine Gedanken überschlugen sich. Der nächste Blick auf den Kompass half ihm nicht weiter, aber als er den Kopf hob, erkannte er durch das trübe Wasser das Blitzen des Signalgerätes.

***

Noch während er zur Oberfläche schoss, löste Tony Tanner den Knoten, mit dem er seine Peitsche am Handgelenk befestigt hatte. Die Vorstellung, diese Waffe einzusetzen, war ihm nicht besonders angenehm. Aber während sich sein Kopf noch diesen Gedankensnobismus erlaubte, hatten seine Finger längst eine Entscheidung getroffen.

Er musste Lucille helfen – und dafür war Tony jedes Mittel recht.

Das Wasser um ihn wurde heller, er schien wie eine Rakete der Oberfläche zuzujagen. Eine Explosion in der Nähe machte ihn fast taub. Jetzt war es hell, jetzt erkannte er den Rumpf der Mare nostrum.

Tony kam hinter dem Heck an die Oberfläche. Er hatte gehofft, näher am Boot zu sein, jetzt musste er Luft schnappen, dann erst konnte er seine Peitsche zwischen die Zähne klem­men und sich mit einigen schnellen, wenn auch recht ungelenken Kraulzügen vorwärts arbei­ten.

Dann bekam er das Heck zu greifen, tastete nach einem Halt und zog sich hoch. Zugleich registrierte er, dass die beiden Motorboote die Mare nostrum umkreisten. Sie waren jeweils noch mit zwei Mann besetzt. Auf der weißen Sunseeker konnte Tony einen Mann in Taucherausrüstung erkennen, der etwas über Bord warf. Nach einigen Sekunden, in denen Tony sich an Bord geschwungen hatte, gab es eine unter Wasser eine Explosion. Eine Fontäne stieg aus einem weiß gischtenden Kreis hoch, fiel in sich zusammen und hinterließ einen Pilz von aufwallendem, blasigem Wasser. Auch von dem schwarzen Motorboot wurde eine geball­te Ladung geworfen.

Sie wussten also, dass ein Taucher im Wasser war, und wollten ihrem eigenen Froschmann den Job erleichtern.

Vor sich an Deck sah Tony nur die Rücken zweier Männer, ein dritter stand leicht gekrümmt seitwärts und drückte ein Tuch auf einen blutenden Schnitt am Unterarm. Rechts, neben dem Deckshaus wälzte sich eine vierte Gestalt, presste sich stöhnend den Arm an die Seite. Das Holz unter ihm war rot gefärbt.

Das plötzliche verstärkte Schwanken des Bootes verriet Tony. Die beiden Männer fuhren herum. Hinter ihnen konnte Tony die gestürzte Lucille erkennen, die sich jammernd die Seite hielt.

Tony packte die Peitsche und holte weit aus. Er brauchte zu lange, die beiden Männer wandten sich schon zum Angriff. Tony sah in ihre Gesichter, bemerkte die starren Blicke, die zusammengepressten Lippen. Der Anblick war wie eine Adrenalinspritze, in jeden Muskel, jeder Nerv, jede Zelle pulste die Erkenntnis, um was es ging.

Es gab keine Missverständnisse mehr, das Spiel war eröffnet, die Regeln waren klar – es gab keine.

Tony zog mit aller Kraft die Peitsche durch. Das dünne Lederband sauste mit einem ner­venzerfetzenden Schrillen durch die Luft. Der Einsatz blieb wirkungslos, denn die beiden Angreifer waren schon zu nahe an Tony herangekommen. Der Schwung seiner eigenen Waffe riss Tony vorwärts, er prallte auf den ersten Gegner, konnte nur noch die Schulter hochziehen und den Kopf hinter diesem Schutz verstecken. Der Zusammenstoß nahm ihm den Atem. Der scharfe Knall, in den die Peitsche den Rest ihres Schwungs entlud, klang schmerzhaft an sein Ohr. Tony spürte einen Schlag an der Schulter. Er wusste, dass der Schlag nicht voll getrof­fen hatte, trotzdem wühlte sich der Schmerz lähmend durch seine Muskeln und Knochen und die Vorstellung, welche Wirkung ein Volltreffer entfalten könnte, versetzte ihn in Panik. Der Gegner versuchte ihn zu packen, Tony musste zurückweichen, er brauchte Platz, um mit sei­ner Peitsche ausholen zu können. Seine rechte Faust stieß vor, traf, erzielte aber keine Wirkung.

Dann bekam Tony wieder Luft, etwas brüllte an seinem Ohr, er taumelte nach hinten und erkannte, dass Lucille dem Mann in die Kniekehlen getreten hatten.

Tonys Körper wankte von einer Seite zur anderen, als er erneut ausholte. Dieses Mal traf er sein Ziel. Die Peitsche fuhr dem Mann mit einem alle Geräusche übertönenden Knall durch das Gesicht, hinterließ einen feinen roten Streifen, aus dem sofort das Blut herausplatzte. Der Mann knickte ein, hielt sich den Kopf in den Händen, zwischen den Fingern quoll es rot her­vor, als würde er eine reife Frucht zerquetschen.

Der zweite Mann kam nicht mehr zum Angriff. Tonys Peitsche wickelte sich um seine Beine, als Tony dann mit aller Kraft zog, wurde der Mann hochgerissen, lag einen Moment senkrecht in der Luft und schlug dann krachend mit dem Hinterkopf voran auf das Deck.

Der dritte Gegner, derjenige den Lucille am Arm getroffen hatte, warf sich inzwischen über Bord und versuchte, Abstand zur Mare nostrum zu gewinnen. Lucille riss eine Signalfackel nach der anderen an und warf sie auf den Schwimmer.

»Deckung«, schrie Tony.

Die beiden Männer in dem schwarzen Motorboot hatten inzwischen die Situation auf der Mare nostrum erfasst. Das Boot jagte heran, beschrieb einen leichten Bogen und fuhr vor­bei. Durch das Brüllen der Motoren stanzte sich das Tackern einer Maschinenpistole. Tony warf sich hinter die Bordwand. Die Einschläge hämmerten auf das Holz, versetzten das Boot in ein heftiges Zittern als würde es von Panik erfasst. In Tonys Nacken rieselten Holzsplitter.

Der Mann, den Tonys Peitsche im Gesicht getroffen hatte, brach mit einem Schrei zusam­men. Von der anderen Seite krabbelte Lucille über das Deck und warf sich neben Tony.

»Wir müssen unter Deck«, wisperte sie und zog an Tonys nassem Hemd.

»Bleib wo du bist.«

Tony drückte sie auf das Deck. Jetzt raste das schwarze Motorboot auf der Gegenseite heran. Tony schob sich halb über sie, um sie zu schützen und drückte den Kopf gegen das raue Holz des Decks. Aber sie schossen nicht, Tony blickte auf, sah undeutlich etwas Schwarzes durch die Luft fliegen. Der Gegenstand traf auf die Reling, prallte ab und stürzte mitten auf das Heck. Bevor die Granate die Mare nostrum ein zweites Mal berührte, bekam Tony sie zu fassen. Er drehte sich um die eigene Achse und nutzte die Bewegung, die die Granate hatte, um sie über Bord zu werfen. Bevor er sich wieder in Deckung werfen konnte, kam die Explosion. Er sah den Lichtblitz, hörte die Splitter heranpfeifen, aber dann war er hinter der Bordwand, die Metallstücke wischten wie ein Hornissenschwarm über ihn hinweg, schlugen Teile des Deckshauses zu Bröseln und knallten in die Bordwand.

Jetzt kam die nächste Salve aus der Maschinenpistole und durchlöcherte den Auspuff der Mare nostrum.

Noch einmal wagte Tony, den Kopf zu heben. Das schwarze Motorboot versprühte Fontänen, als es sich in eine schnelle Kurve legte und den nächsten Anlauf unternahm. Eine breitbeinig stehende Gestalt war erkennbar, ein Mann, der ein neues Magazin in seine Waffe schob, mit gebeugten Knien die Schwankungen des Bootes ausglich und dann den Kolben gegen die Schulter drückte. Jede seiner Bewegungen drückte Entschlossenheit aus, als wären seine Arme die Hebel einer alles zermalmenden Maschine.

Tonys Lebensplanung reduzierte sich auf die nächsten Sekunden. Was er jetzt brauchte, war ein Wunder.

Tony Tanner schien sich in zwei verschiedene Wesen aufzuspalten. Die eine Person, die er repräsentierte, presste sich neben der zitternden Lucille Chaudieu auf die rauen Decksplanken der Mare nostrum und war bemüht, sich durch eigene Kraft möglichst flach zu drücken wie einen Fladen. Der anderen Person gelang es dagegen, kühl und neutral über seine Lage nachzudenken. Selbst die Salve, die jetzt in das Deckshaus schlug und das Boot erschütterte, brachte ihn nicht aus seinen Überlegungen. Das Ergebnis solcher geistiger Tätigkeit war die Erkenntnis, dass sich die Angreifer in den nächsten Minuten davon überzeu­gen würden, dass sie keine Gegenwehr zu befürchten hatten. Damit schloss Tony jede Möglichkeit, an Steeles Pistole zu kommen und sie ihrem Zweck gemäß einzusetzen, völlig aus. Die Tasche war nicht einmal mehr in seinem Sichtbereich. Entweder sie lag auf der ande­ren Seite des Deckshauses oder sie war über Bord gegangen. Im günstigsten Fall, wenn sie also noch greifbar war, war sie nur greifbar, indem Tony sich über das Deck arbeitete, die Tasche öffnete, die Waffe herausholte und scharfmachte und einsetzte. Das Deck zu überque­ren war eine Sache von einem weiten Sprung. Auch den Rest der Aktion konnte man durch­führen, wenigstens solange man nicht von Kugeln durchsiebt worden war. In dieser Hinsicht war Tony weder optimistisch noch pessimistisch, sondern realistisch, was bedeutete, dass er den Zustand des Mausetot-Seins spätestens beim Scharfmachen der Pistole eintreten sah. Und selbst wenn er das Ding einsetzen konnte, wen sollte er damit ernsthaft beeindrucken? Sicherlich nicht die bewaffneten Besatzungen der beiden Motorboote, die ihn dann ganz ein­fach in die Zange nehmen würden.

»Sie werden jetzt zurückkommen und sich die Sache aus der Nähe anschauen, dann haben wir es aller Voraussicht nach hinter uns«, hörte sich Tony sagen. Er fand die Aussage, zumal in Anwesenheit einer Dame gesprochen, ziemlich vulgär.

»Wir könnten mit den Fackeln werfen«, zischte Lucille. Sie hatte viel Kraft verbraucht, aber sie gab sich nicht geschlagen, was Tony ungemein ermutigte.

Richtig, jetzt fiel Tony wieder ein, dass Lucille einen der Kerle mit Signalfackeln bewor­fen hatte. Nicht sehr erfolgreich, aber es war eine schöne Geste gewesen. Und mehr als sym­bolische Handlungen schienen im Augenblick sowieso nicht möglich zu sein.

»Wo sind diese Fackeln?«

»Im Deckshaus. Im Kasten, der Deckel steht offen.«

Als sich das Geräusch der Motoren entfernte, schob sich Tony über das Deck und glitt in das Deckshaus. Er warf sich in eine stinkende Mischung aus brackigem Seewasser, Öl und Blut. Erst nach einem Blick zur Tür wagte Tony, sich aufzurichten.

Er griff in den Kasten, klaubte die restlichen Magnesiumfackeln zusammen und ging in die Knie, um wieder über das Deck zu robben. Die Möglichkeit, das Boot in Brand zu stecken, kam ihm in den Sinn. Er brauchte dazu nicht mehr, als eine Fackel unter das Motorgehäuse zu stecken. Der alte Kahn würde innerhalb weniger Minuten lichterloh brennen. Vielleicht war das eine Chance, Aufmerksamkeit zu erregen und Hilfe herbeizurufen. Der Kahn würde schwarz qualmen, damit gab es die Möglichkeit, zum Ufer zu schwimmen, falls der Wind in die richtige Richtung wehte. Was er im Augenblick tat.

Der Plan war völlig abgedreht und darin lag genau seine Erfolgsaussicht. Niemand würde damit rechnen, dass er sich sein Boot unter dem Hintern anzünden würde. Aber … irgendwie war das nicht der Stil eines Tony Tanner …

Das Dröhnen der näher kommenden Motoren unterbrach seine Gedanken. Das schwarze Motorboot hatte gedreht und kam zurück. Tony war überrascht. Sein Zeitgefühl kam nicht mehr mit den Ereignissen mit, er war sicher gewesen, dass das Boot gerade eben erst vorbei gerauscht war. Das schwarze Motorboot reduzierte die Geschwindigkeit. Der Bug sank in das Wasser, die gedrosselten Motoren sprazzelten vor sich hin und spuckten Kühlwasser in klei­nen Fontänen.

Jetzt war es also soweit, jetzt wollten sie nachschauen, ob sie ihre Beute erlegt hatten oder ob noch ein wenig Munition investiert werden musste.

Mit zitternden Händen griff Tony Tanner nach der Reißleine der Fackel. Er drückte sich gegen die Wand des Deckshauses und schaute dann vorsichtig durch die Tür.

Das Motorboot war noch zu weit. Er musste abwarten, sonst war seine Chance dahin. Das Boot näherte sich der Mare nostrum von schräg achtern. Zum ersten Mal konnte Tony nun genau die Gesichter der Mörder erkennen, die alles daransetzten, ihn und Lucille ins Jenseits zu befördern. Der Mann mit der Maschinenpistole stand, die Hüfte gegen die Windschutzscheibe gedrückt und schaute aufmerksam auf sein Ziel. Er hatte seine Waffe, die Tony jetzt auch genauer erkennen konnte, auf die mattschwarze Umrandung der Scheibe gelegt. Steele hätte ihm sofort sagen können, dass es sich um eine AR 14 handelte, um die Zivilversion des M 16-Gewehres der US-Armee. Steele hätte sich weiterhin über Kaliber, Schussgeschwindigkeit und Reichweite auslassen können, sowie über die verschiedenen Wege, auf denen diese Mordgeräte zu den Waffenbasaren Albaniens und Mazedoniens gelangten, sowie über die vereinfachten Nachbauten, die pakistanische Waffenschmiede nahe der Grenze zu Afghanistan auf Bestellung liefern.

Für Tony Tanner, den das alles sozusagen nur soziologisch oder human-philosophisch interessiert hätte, sah die Waffe so aus wie die Sense, die der Tod auf mittelalterlichen Bildern trägt, denn beider Symbolwert war derselbe.

Der Schütze war ein Mann in den mittleren Jahren, breitschultrig, mit einem gemütlichen Bauchansatz und einem roten Gesicht, deren Stirn erst im Nacken endete, weil seine Haarpracht aus einigen grauen Schläfenlocken bestand. Der Mann konnte wie die Spielfigur einer Modelleisenbahn an jede erdenkliche Stelle gebracht werden – der freundliche Gemüsehändler von nebenan, der hilfsbereite Bahnhofsbeamte oder der gutmütige Musiklehrer. Nur mit einer Waffe in der Armbeuge erschien er als Fehlbesetzung. Seine betu­liche Gestalt signalisierte: Wer mich zum Feind hat, muss ein mieser Typ sein.

Dafür war der Mann hinter dem Steuer geeignet, Tony Tanners schönste Vorurteile in angemessener Weise zu bedienen. Es war ein schmalzlockiger junger Kerl mit länglichem Pferdegesicht und dunkler Haut. Trotz des trüben Wetters trug er eine Sonnenbrille, der man schon von Weitem den Markennamen Ray Ban ansah. Warum das Preisschild nicht mehr vom Bügel flatterte, wusste Tony nicht, es hatte jedenfalls nichts mit der Dezenz des Trägers zu tun. Die lässig auf das Bord gelegte linke Hand glitzerte im Schmuck einer schweren Goldkette. Der Kerl sah aus, als wäre er durch eine besondere Technik vom Fahrersitz einer tiefergelegten Luxuslimousine hinter das Lenkrad des Motorbootes teleportiert worden.

Mit zwei Fingern lässig am Lenkrad drehend brachte der Mann das Boot näher an die Mare nostrum heran. Der Schütze reckte den Hals, um über die Bordwand zu schauen. Diesen Augenblick nutzte Tony, um die Fackel zu zünden und zu schleudern.

Das gleißende Feuerlicht flog im Bogen auf das Boot zu, drehte sich in der Luft und fiel hinter die Vordersitze. Die Waffe fuhr hoch, wurde an die Schulter gerissen. Eine Folge ein­zelner Schüsse krachte in das Aufheulen der Motoren hinein. Sie verfehlten ihr Ziel, der Schütze war durch die nächste heranfliegende Fackel abgelenkt. Diesen Wurf hatte Tony bes­ser platziert als den ersten. Die Fackel landete zwischen den Sitzen, sprühte heiße Funken, sodass der Fahrer fluchend hochfuhr und sich auf der Bordwand in Sicherheit brachte. Zugleich aber brachte er mit einem energischen Tritt die beiden Gashebel in die Anschlagposition und riss das Steuer herum. Der Schwall der beiden mächtigen Außenborder fuhr über die Bordwand der Mare nostrum. Tony sprang aus dem Deckshaus und schleuderte die restli­chen Fackeln. Keine traf. Er sah aber mit Genugtuung, dass der Mann mit der Waffe durch die plötzliche Beschleunigung von den Füßen gerissen wurde und über die Sitzlehne in den Fußraum der Rückbank purzelte. Dort verbrannte er sich an der Fackel, brüllte wie ein Stier, fluchte und konnte schließlich die Fackel über Bord werfen.

Tony konnte einen Punkt für sich verbuchen, einen Zeitgewinn. Das änderte nichts an den grundsätzlichen Tatsachen. Außer vielleicht, dass er die Gegner motiviert hatte. Oder deutli­cher ausgedrückt – jetzt waren sie richtig, aber wirklich richtig sauer.

***

Steeles Denken hatte sich schon abgeschaltet. Er reagierte instinktiv wie ein Reptil, spul­te ein eingelerntes Programm ab. Erst als er einige Male seine Lunge gefüllt hatte, kehrte die Klarheit in seinen Kopf zurück.

Jetzt, als wären sie vorher nicht existent gewesen, bemerkte er die Explosionen. Sie benutzten geballte Ladungen und hatten ganz offensichtlich ein System. Beginnend bei der Umgebung der Rohrmündung näherten sie sich jetzt der Mare nostrum – und damit seinem Standort. Das Krachen der Handgranaten war inzwischen so laut, dass es sich knapp unter der Grenze zur Schmerzhaftigkeit hielt. Die Schockwellen waren spürbar. Sie rührten ihn an wie eine Ermahnung. Steele versuchte, die genaue Position der nächsten Detonation festzustellen. Sie war näher als erwartet, lag aber abseits der Linie, die er bisher zu erkennen geglaubt hatte. Trotzdem waren die Druckwellen stärker. Die Sprengsätze waren nun so eingestellt, dass sie bis auf den Boden sanken, bevor sie explodierten. So wurden die Druckwellen reflektiert und entfalteten größere Wirkung.

Mit schnellen Bewegungen befreite sich Steele von seiner Weste, ließ die leeren Flaschen auf den Grund fallen, um die frische Flasche abzuschnallen. Dann, so war die Theorie, woll­te er die Weste samt Flaschen am Drahtseil befestigen, um das Material nach Beendigung des Tauchganges zu bergen.

Inzwischen war die Planung von den Geschehnissen überholt. Als Steele nach oben schau­te, konnte er den schwachen Schimmer roter Lichter erkennen, die er sich nicht erklären konn­te. Dann prügelte eine Explosion seine Trommelfelle ein und warf ihn auf den Boden.

***

Tony hatte mit etwas anderem gerechnet. Mit einer schnellen Attacke, einer rasenden Vorbeifahrt unter dem Geknatter von Salvenfeuer. Stattdessen näherte sich das Boot in mäßi­ger Geschwindigkeit. Als Tony es wagte, kurz den Kopf über die Bordwand zu heben, sah er, dass der Schütze seine Waffe fortgelegt hatte. Halb gebückt, eine Hand auf dem Rand der Schutzscheibe, fixierte er die Mare nostrum. Er erkannte die Bewegung, die Tony verur­sachte und schrie durch das Motorengeräusch dem Mann am Steuer etwas zu.

Was die Szene bedeutete, war Tony klar. Die beiden Killer hielten die Stunde der Handgranaten für gekommen. Der eine, der gemütliche Typ mit dem Bauchansatz, war mit absoluter Sicherheit ein geübter Bocciaspieler. Dass er jetzt Handgranaten werfen sollte, machte nur einen graduellen aber keinen qualitativen Unterschied aus.

Das Bewusstsein der eigenen Hilflosigkeit lähmte Tony Tanner. Er wusste nicht, wie lange er auf dem Deck lag und nur darauf wartete, dass Dinge geschahen, die er nicht mehr verhin­dern konnte. Er spürte eine kochende Wut in sich, am liebsten hätte er geschrien, hätte den Gegnern seine Wut wie Drachenfeuer entgegen gespien. Er bemerkte, dass seine rechte Hand zu zittern begann. Er konnte den Nervenimpuls nicht unterdrücken, jetzt rebellierte schon sein eigener Körper, zeigte dem kleinen Ich des Tony Tanner, dass es nichts, aber auch gar nichts mehr unter Kontrolle hatte.

Neben sich gab es eine Bewegung. Lucille hob den Kopf. Zwischen ihren wirren Haarsträhnen hindurch traf Tony der Blick ihrer dunklen Augen. Es lag ein seltsames Vertrauen in diesem Blick, etwas, das er bisher unter der gewollten Kühle und genussvollen Kratzbürstigkeit dieser Frau nicht richtig bemerkt hatte. Sie hatte Hoffnung, weil er da war. Dieses Bewusstsein legte sich wie ein Zentnergewicht auf Tonys Seele. Er hätte alles gege­ben, um sie zu beschützen, aber tief im Inneren wusste er um die Vergeblichkeit solcher Illusionen.

Seine rechte Hand fuhr hoch, als hätte sich eine Feder gelöst. Bevor Tonys es selbst rea­lisierte, schlängelte sich die Peitsche durch die Luft, traf auf einen dunklen Gegenstand und prellte ihn zur Seite. Dann holte der Arm neu aus, schwang die Peitsche und klatschte mit einem Schlag gegen die beiden anderen Granaten, die vom Motorboot aus geschleudert wor­den waren.

Die Granaten fielen ins Wasser. Einen Herzschlag lang dröhnten nur die Außenborder des Motorbootes. Dann stiegen mit dumpfem Grollen Wasserfontänen auf. Die Mare nostrum schüttelte sich, vom Heck her kam ein lautes Krachen.

»Was war das«, flüsterte Lucille.

Tony wusste es nicht. Aber selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte er nicht geant­wortet. Er beobachtete das Motorboot, das sich nun in eine weite Kurve legte. Der Schütze bückte sich nach seiner Waffe, prüfte sie und wickelte sich den Tragegurt an den linken Arm. Dann drückte er den Kolben an die Schulter und stellte sich breitbeinig zurecht. Seine Bewegungen hatten nun das leicht prahlerische Pathos, mit dem ein Torero den Degen für den tödlichen Stoß führt. Er ließ sich Zeit. Die Vorführung war dem Ende nah, das Spiel entschie­den, was noch zu tun blieb, war Routine.

Vielleicht hätte Tony jetzt die Gelegenheit gehabt, an die Pistole zu kommen. Er machte nicht einmal den Versuch. Die Situation ließ ihn erstarren, als wäre er in einem Eisblock ein­gefroren.

***

Die Druckwellen pressten Steele auf den Boden, er spürte die Wucht des komprimierten Wassers bis in die Eingeweide. Er hatte das Mundstück verloren und tastete im schwächer werdenden Licht der Lampe.

In einem plötzlichen Impuls wurde ihm bewusst, was zu tun war. Die roten Lichter – es gab nur eine Erklärung. Die beiden auf der Mare nostrum wollten ihn warnen, wollten ihm ein Signal geben. Aber warum? Er wusste, was los war, er hatte die Granaten gespürt und gehört.

Nein, es war etwas anderes. Sie hatten ein Zielgebiet abgesteckt.

Ab jetzt handelte Steele völlig automatisch. Er vollführte die Handgriffe in einer Art von klarsichtiger Betäubung. Mit einem Male hatte er sich von sich selbst entfernt. Er bemerkte wieder den prüfenden, beobachtenden Blick des Unbekannten. Zugleich bemerkte er etwas wie feine weiße Fäden, die sich durch das Wasser zu ziehen schienen, und wusste, dass er das Gewebe der Ereignisse sah. Diese Fäden war nicht real, sie hatten keine materielle Wirklichkeit, aber sie waren dennoch keine Täuschung und keine Illusion. Steele war sich klar, dass er in dieser absurden Situation wieder etwas sehen konnte, wie es sonst nur Meister Ki oder einigen wenigen anderen Auserwählten möglich gewesen war.

Steele nahm einen tiefen Atemzug. Dann legte er eine der leeren Flaschen als Unterlage auf den Boden, stellte die volle Flasche darauf, korrigierte ein wenig die Stellung. Daraufhin nahm er die zweite leere Flasche. Er brauchte nur einen Schlag, eine konzentrierte Anstrengung, die allen Gesetzen der Natur Hohn sprach – ein Schlag, von dem Steele wuss­te, dass er außerhalb aller bekannten physikalischen Gesetze stattfand. Die Kante der Flasche traf den Verschluss der vollen Flasche und trennte ihn ab. Mit dem Fauchen einer Rakete schoss die Flasche, angetrieben von 25 Litern Pressluft an die Oberfläche.

Steele wartete, bis die Blasen verschwunden und der aufgewirbelte Schlamm sich gelegt hatte. Seine Lunge meldete ihm, dass er Luft brauchte. Dann fiel sein Blick auf das Drahtseil, das lose auf dem Boden lag und sich in der trüben Dunkelheit verlor. Nun wusste er, was die große Explosion verursacht hatte. Die Luftflasche, die auf zehn Metern Tiefe hing, war explo­diert und hatte das Seil zerfetzt.

Ob das Heulen, das in seinen Ohren war von der Flasche kam, die wie ein Torpedo nach oben raste? Oder war es die Nachwirkung der Explosion? Oder waren es seine Lungen, die nach Luft schrien?

Steele wusste es nicht.

***

Das schwarze Motorboot kam mit Höchstgeschwindigkeit herangerast. Nur noch das Heck mit den beiden gewaltigen Triebwerken hing im Wasser. Der Schütze konnte seine Waffe auf die Windschutzscheibe legen und die Mare nostrum gezielt unter Feuer nehmen.

Plötzlich durchbrach ein Gegenstand die Wasseroberfläche. Er traf das Motorboot unge­fähr mittschiffs in Längsrichtung. Er schlug durch die Kunststoffhaut, kam auf der Oberseite wieder zum Vorschein, flog weiter, taumelnd und sich überschlagend, und stürzte ein Stück weiter hinten ins Wasser.

Tony Tanner hatte das Krachen gehört und war trotz aller Gefahr hochgefahren. Er sah, dass der Schütze getroffen wurde. Der Körper des Mannes zerlegte sich förmlich in seine Einzelteile, ein feiner roter Nebel stand eine Sekunde lang über dem Boot, die Waffe wirbel­te durch die Luft und schleuderte einen Teil des Armes mit sich, als wollte sie den lästigen Gegenstand abwerfen.

Das Motorboot stieg hoch, dass es für einen Moment senkrecht auf dem Wasser zu stehen schien. Tony konnte durch das gezackte Loch die graue Wasserfläche und im Hintergrund die bewaldete Landzunge erkennen. Wie ein Wal, der auf seiner Flosse steht oder eher wie eine unsichere Spitzentänzerin balancierte das Boot auf seinem Heck. Dann kippte es langsam nach vorne. Während dessen raste es mit fast unverminderter Geschwindigkeit weiter. Das Leck berührte das Wasser. Mit ungeheurer Wucht, als würde der Ablauf eines Stausees geöff­net, schoss das Wasser durch das Loch. Der Rumpf des Schützen wurde auf dem gischtigen Strahl nach achtern gespült, wurde wie ein Teil einer zerrissenen Puppe mit schlenkernden Beinen sichtbar und schlug dann in die Wellen. Das Boot tauchte ab, verschwand von der Oberfläche und stieg einige Bootslängen weiter wieder auf. Der Rumpf lag halb im Wasser, aus einer Maschine stieg blauer Qualm in hustenden Wolken. Der Mann hinter dem Steuer hing reglos in seinem Sitz, sein Kopf hing nach hinten über der Lehne.

Die Männer in der weißen Sunseeker hatten die Sache bemerkt und fuhren heran, um ihrem Kumpan Hilfestellung zu leisten.

In diesem Augenblick schoss Steele direkt neben der Mare nostrum aus dem Wasser. Er kam hoch wie der Korken aus der Sektflasche, wie ein aus dem Wasser katapultierender Orka, stieg bis zu den Knien in die Höhe und bekam im Zurückfallen die Bordwand zu packen.

Tony Tanner starrte ihn nur an. Er war noch nicht einmal in der Lage gewesen, die Geschehnisse um das schwarze Motorboot zu verarbeiten. Und jetzt kam Steele und Tony dachte nur: Mein Gott, der Mann hat keine Dekostufen gemacht, der Mann ist so gut wie tot.

Und Steele schien auf Tony zu starren. Tatsächlich horchte Steele in sich hinein. Er wuss­te nur zu gut, was in seinem Körper geschah. In diesem Moment löste sich der im Gewebe gebundene Stickstoff, ballte sich zu Bläschen, drängte sich durch seine Adern, klumpte sich zusammen, in seinem Herzen, in seinem Hirn, um dort die lebenswichtigen Blutgefäße zu ver­stopfen.

»Ich habe noch etwa zwei Minuten«, sagte Steele plötzlich mit ruhiger Stimme.« Dann muss ich mit einer vollen Flasche wieder unten sein und die Dekostufen machen. Ansonsten bin ich tot.«

Vielleicht sagte Steele noch etwas, aber seine Stimme ging in der Detonation unter, die das schwarze Motorboot zerfetzte. Auf eine Blase von stumpfem Rot folgte eine schwarze Wolke, dann war das Boot verschwunden.

Die Leute auf der Sunseeker verloren die Nerven. Wie eine akustische Untermauerung ihrer Panik klang das Aufheulen der Motoren.

Der Mann am Steuer musste um die Explosionsstelle herumfahren, um den Zusammenprall mit treibendem Teilen zu vermeiden. Er hätte den längeren Weg außenherum wählen können. Aber er hatte es plötzlich ungeheuer eilig und steuerte zwischen dem schäu­menden Fleck, über dem noch einige Rauchfetzchen hingen, und der Mare nostrum vorbei.

Wahrscheinlich sollte es zum Abschied noch einmal ein Versuch sein, die Mare nostrum durch die Bug- und Heckwellen zum Kentern zu bringen.

Der weiße Rumpf der Sunseeker raste heran. Tony holte aus und schwang seine Peitsche. Niemals im Leben würde er in der Lage gewesen sein, seine Handlung zu erklären. Er tat es, weil es getan werden musste.

Die Peitsche schlängelte durch die Luft, wickelte sich um den Hals des Froschmannes und riss ihm förmlich das Boot unter den Flossen wag. Der Mann flog nach hinten und knallte gegen eine Verstrebung am Heck.

Tony konnte die Szene beobachten. Er hatte eine Zehntelsekunde Zeit, sich auf das vor­zubereiten, was geschah und wurde trotzdem überrascht. An die Peitsche geklammert, wurde er brutal vorwärts gerissen. Er konnte noch in die Höhe hüpfen, sonst wären seine Schienbeine an der Bordwand zertrümmert.

Im nächsten Moment lag Tony im Wasser, krallte sich an die Peitsche und wollte sie doch loswerden und konnte es nicht, weil er sich das Leder um das Handgelenk gewickelt hatte. Sein Arm schien aus dem Gelenk zu reißen, um ihn her gischtete das brodelnde Heckwasser wie eine kompakte Masse, in die er einbetoniert war. Erkennen konnte Tony nichts, nur vor­beizischendes Weiß, untermischt mit Grau. In seinen Ohren war ein gewaltiges Rauschen und Tosen. Er erstickte in einem waagerechten Wasserfall.

Plötzlich lockerte sich der Zug auf die Peitsche. Das Boot machte eine scharfe Wendung, die Propeller schwenkten für einen Augenblick zur Seite. Tony tauchte auf und sah das Heck direkt vor sich. Er brauchte nur den rechten Arm anzuspannen, sich mit der Linken an der Peitsche vorwärts zu ziehen und dann den Griff zu packen.

Als das Boot wieder Fahrt aufnahm, hatte Tony es schon geentert. Er wusste nicht, wie lange er im Heckwasser mitgezogen worden war. Aber ihm war klar, dass er kaum mehr als eine Minute hatte. Das war der Grund, warum er alle sonstige Höflichkeit außer Acht ließ. Zuerst nahm er sich den Mann vor, der gerade die Peitsche durchschneiden wollte, um den Froschmann aus deren Würgegriff zu befreien. Es war derselbe Mann, der von Lucille mit Signalfackeln beworfen worden war. Die Wunde am Unterarm behinderte ihn vielleicht weni­ger als der Gedanke an die Behinderung durch die Wunde ihn lähmte. Vielleicht hatte er Tony auch nicht sofort bemerkt und glotzte ihn nun an wie ein Gespenst. Tony verzichtete auf die filmreife Variante und schubste den Kerl schlicht über Bord. Der ließ einen sehr unmännli­chen Schrei hören, der nach Hilfe! klang. Dann schlug das Wasser über ihm zusammen.

Dann kam der Mann am Steuer an die Reihe. Er hatte den Angreifer bemerkt, hielt mit der Linken das Steuer und drehte sich halb auf seinem weißen Ledersessel, um mit der Rechten eine Pistole auf Tony abzufeuern. Er schoss ungezielt und überhastet, aber immer noch genau genug. Neben Tonys Ohr sirrte die Kugel vorbei, die Luft wurde für eine Sekunde heiß wie ein rot glühender Draht. Dann war Tony bei dem Mann. Während er die drei Schritte zurück­legte, hatte er die Peitsche vom Hals des Froschmannes gelöst – nein, eigentlich hatte sich die Peitsche abgelöst wie ein folgsamer Jagdhund. Nun wickelte sie sich mit Tonys Schlag um die Hand des Mannes. Tony riss ihn aus dem Sessel, rammte ihm das Knie in den Unterleib und stieß ihn gegen das Instrumentenbord. Dort drehte er den Mann in die passende Lage, ver­krallte sich in seine öligen Nackenhaare und stieß den Kopf mit aller Kraft gegen das wun­derbar weiße, glänzend polierte und mit chromgeränderten Rundinstrumenten ausgestattete Panel. Es gab einen lauten Krach, das Instrumentenbord wurde mit roten Sprenkeln verun­ziert, der einstige Steuermann des schönen Bootes knickte in den Knien ein und sank zu Boden.

Tony riss das Steuer herum, fürchtete für einen Moment, er würde das Boot kippen las­sen, fand dann den Gashebel und drückte ihn in die Nullstellung.

Die Sunseeker glitt an die Mare nostrum heran. Steele schwamm ihr entgegen. Als er an der weißen Bordwand war, kippte Tony den röchelnden Froschmann über Bord. Kaum hatte der das Wasser berührt, als Steele ihn in einen Ringergriff nahm und blitzschnell mit ihm abtauchte.

Erschöpft schaute Tony den beiden Schatten nach, die in der Tiefe verschwanden.

»Ob diese Idioten eigentlich gewusst haben, wie teuer so ein original Bretagne-T-Shirt ist? Das ist original Saint James, das kriegt man nicht überall und bei Woolworth gibt’s das erst recht nicht.«

Tony schaute mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung auf die winkende Lucille, die sich hinter der Bordwand der Mare nostrum erhoben hatte und nun an sich herunterblickte. Sie hatte einige blaue Flecken abgekriegt, aber ihr T-Shirt, das vom Kragen bis zum Nabel einen Riss hatte, zeigte, dass die Grundsubstanz noch völlig in Ordnung war. Überhaupt schien es Tony, dass eine Frau, die über ihre zerfetzte Oberbekleidung jammert, in keinem wirklich lebensbedrohlichen Zustand ist.

»Ich schätze mal, so einen Fetzen würdest du nicht mal auf dem Flohmarkt kaufen kön­nen. Verkaufen übrigens auch nicht.«

Die beiden Boote waren jetzt kaum zwei Meter voneinander entfernt.

Lucille stemmte die Arme in die Hüften, auf die Gefahr hin, dass sich der Riss in ihrem Hemd noch etwas erweiterte und dem Betrachter ausführlichen Einblick in die Natur ihrer Busenlandschaft bot. Tony achtete nicht darauf. Er stellte nur fest, dass sie in ihrem gerech­ten Zorn zugleich ungeheuer niedlich und ungeheuer begehrenswert wirkte.

»Das weiß ich selbst, du unsensibler Inselbewohner, schließlich stecke ich in dem Teil drin. Aber du hättest ja die Chance gehabt, mir was Nettes zu sagen, als Aufbauhilfe. Zumindest theoretisch, denn für solche Feinheiten bist du ja anscheinend nicht gebaut.«

»Sie sehen wunderschön aus, Fräulein Chaudieu – Sie sind ein Fest für das Auge, ein Jubel für die Sinne und ein … ääh, jedenfalls gibt es keinen Grund, dich aufzuregen.«

»So was nennt man Schadensbegrenzung. Deine Charmeoffensive kommt reichlich spät.«

»Aber nicht zu spät, hoffe ich.« Lucille legte den Zeigefinger an die Lippen und fixierte intensiv einen Punkt am Himmel.

»Könnte sein, dass du Glück hast«, beschied sie Tony schließlich.

»Danke, ich werde dich mit netten Worten überschütten.«

»Du sollst mich doch nicht zulabern.«

»Pralinen kann ich auf die Schnelle nicht besorgen.«

»Dann sag was Nettes.«

»Hab ich doch eben schon.«

»Himmel noch mal, bemüh dich doch wenigstens!«

»Du bist wunderschön, wenn du mal wieder durchknallst.«

»Du lügst.«

»Wie könnte ich im Angesicht deiner wundervollen Augen lügen?«

»Das frage ich mich allerdings auch, aber irgendwie schaffst du es. Willst du nicht end­lich rüberkommen?«

»Zuerst müssen wir diesen Kahn festmachen.«

Inzwischen war Tony klar geworden, auf welche Weise er sich Lucilles Wohlwollen wie­der erobern konnte. Und er war durchaus willens, sich dafür ins Zeug zu legen – sich persön­lich voll einzubringen sozusagen.

Bevor er aber seinen Plan in die Tat umsetzen konnte, wurde er durch ein Stöhnen gestört. Er blickte sich um und sah auf den Verletzten, der immer noch den Arm auf seine Wunde presste.

»Wir müssen den Kerl verbinden«, entschied Tony.

»Spinnst du, warum soll ich ihn erst öffnen, wenn ich ihn dann wieder zunähe?«

»Das liegt daran, dass wir die Guten sind.«

»Weißt du was, Mister Heiligenschein, ich habe im Moment meine Zweifel, ob wir die Guten sind. Ich habe nicht übel Lust, diese Schande der Männerwelt über Bord zu werfen!«

Tony beugte sich über den zweiten Mann, der von seinen eigenen Leuten angeschossen worden war. Er hatte einen kleinen Einschuss an der rechten Schulter. Der Austritt der Kugel war handgroß und zeigte zerfaserte Ränder. Tony verstand immerhin soviel, dass hier eine Kugel getroffen hatte, die besonders präpariert worden war. Der Gedanke, dass er selbst das Ziel dargestellt hatte, ließ ihn erschauern. Er legte den stöhnenden Mann auf das Deck.

»Wird schon wieder«, sagte er. Dann wandte er sich Lucille zu.

»Weshalb hast du Zweifel, dass du zu den Guten gehörst?«, fragte er. Der Satz klang nun allerdings allzu sehr nach einem Hollywoodschinken, mithin er klang absolut blöde.

»Weil«, Lucille richtete ein aufgesetztes, bewusst schiefes Lächeln in Tonys Richtung, »weil die Guten am Schluss immer das hübsche Mädel bekommen. Und was dich angeht, mon Cher, bei dir kann ich kaum noch glauben, dass du am Schluss irgendeines abbekommst.«

Damit knallte sie einen Erste-Hilfe-Kasten, den sie unter Deck aufgetrieben hatte, auf die Planken und begann mit der Versorgung der beiden Verletzten.

Sie hasste Tony dafür, dass er sie dazu aufgefordert hatte. Dieser Geruch von saurem Schweiß und Blut holte sie mit brutalem Zugriff wieder in eine Wirklichkeit, die sie eben noch erfolgreich verdrängt hatte. Sie sehnte sich nur nach Tonys Umarmung, nach der Wärme sei­nes Körpers und nach seinen Küssen. Sie wollte in ihn versinken wie in ein unendlich großes Daunenbett, sie wollte die letzten Minuten abstreifen, wie sie ihr nasses Hemd abstreifen wollte …

Und nun hatte dieser Kerl sie an ihre Pflichten der abendländischen humanistischen Tradition gegenüber erinnert, und zwar genauso sensibel, wie man einen jungen Hund mit der Nase in sein Bächlein stupst, damit das Vieh stubenrein wird.

Er hatte ja recht, das musste Lucille sich zugestehen, er handelte edel und hochherzig, und er hatte gekämpft wie ein wirklicher Held. Sie war wild nach ihm und sie würde es ihm zurückzahlen, dass ihm Hören und Sehen verging. Heute Abend noch.

Der Gedanke beruhigte sie, während sie routiniert, wenn auch ohne echte Hingabe die Wunde verband, die sie selbst verursacht hatte. Die Tatsache, dass sie die klaffende Wunde mit Klebeband schloss, hatte sicherlich nicht allein medizinische Gründe, sondern entsprang auch einem nicht ganz unterdrückten Ressentiment Lucilles gegenüber ihrem Patienten.

Unterdessen kümmerte sich Tony um die anderen Männer. Das heißt, er verband das Gesicht, das er selbst eben noch demoliert hatte, fischte zuerst den Mann mit dem verwunde­ten Unterarm aus dem Wasser, fesselte ihn mit Verbandmaterial und versorgte dann seine Wunde und kümmerte sich schließlich um den Froschmann, der inzwischen ohne Atemgerät, aber mit aufgeblasener Schwimmweste apathisch auf dem Wasser trieb.

Der Gedanke an Steele, den er zu unterdrücken versuchte, drängte sich Tony immer wie­der in das Bewusstsein.

Möglicherweise war Steele längst tot. Er hatte zwar noch keine Anzeichen der Taucherkrankheit gezeigt, aber das musste nicht bedeuten, dass sie nicht eine halbe Sekunde nach dem Abtauchen aufgetreten waren. Und doch würden sie auf ihn warten, denn tief im Inneren machte sich Tony Tanner keine allzu heftigen Sorgen um den großen Mann.

So dehnten sich die Minuten zu Stunden. Nieselregen setzte wieder ein. Tony hockte trüb­sinnig auf einem Sessel, der eigentlich für feiste und vergnügungsfähige Kapitalistenhintern gemacht worden war. Ein Plätschern neben der Bordwand ließ ihn hochfahren.

Steele hielt ihm eine Kamera entgegen.

»Ich hätte dieses Drecksding um ein Haar mit der Weste unten vergessen.«

Sie fuhren die Sunseeker zusammen mit der Mare nostrum um die Landzunge, stellten den Autopiloten ein, drückten die Gashebel auf volle Fahrt, dann sprang Tony über Bord und paddelte zurück zur Mare nostrum.

»Was für überaus hässliche Fische sich hier herumtreiben«, sagte Lucille, bevor sie ihm an Bord half.

»Und was für überaus reizende Fischer, die sie an Bord ziehen.«

»Schleimer.«

Fortsetzung folgt …