Schattenwolf Band 2
Cleveland, Ohio. Sonntag, 4. Oktober 2009, Vollmond
Johnny Thunderdrum klappte seufzend »The Philosophy of Death« von Steven Luper zu. Das Buch war erst vor einem halben Jahr erschienen und sehr interessant. Professor Rothwell hatte es den Studenten seines Kurses sehr empfohlen wegen des Teils, der sich mit vorsätzlichen Tötungen beschäftigte. Johnny las es in erster Linie in der Hoffnung, darin ein paar Todesarten beschrieben zu finden, die etwas fantasievoller waren als das herkömmliche Erschießen, Abstechen, Vergiften und die üblichen Varianten des Selbstmords. Aber dafür sollte er wohl besser ein Handbuch für Rechtsmedizin studieren oder im Internet über außergewöhnliche Morde recherchieren.
Sein Interesse lag keineswegs in einer morbiden Neugier begründet. Obwohl die Sache an sich schon morbide war. Professor Rothwell behandelte in seinem auf zwei Monate angelegten Blockkursus seit zwei Wochen das Thema Tod in seinen Philosophievorlesungen – toller Einstieg in das gerade mal fünf Wochen junge neue Semester – und hatte seine Studenten angeregt, sich des Themas literarisch anzunehmen und eine Geschichte über den Tod zu schreiben. Daran war an sich nichts Morbides. Doch dann war Chester auf die Idee gekommen, jeder solle eine Story schreiben mit der gruseligsten Todesart, die er sich ausdenken konnte. Jeder Teilnehmer an diesem Wettbewerb hatte zwanzig Dollar Teilnahmegebühr gezahlt. Der Sieger bekam den gesamten Topf.
Rothwell hatte die Idee unterstützt und zusätzlich hundert Dollar gespendet, sodass der Jackpot 360 Dollar enthielt. Für Studenten ein kleines Vermögen. Da Johnny die Cleveland State University nur aufgrund eines Vollstipendiums besuchen konnte, hätte er das Geld sehr gut gebrauchen können. Nur deshalb hatte er überhaupt an dem »Todesspiel«, wie Chester es getauft hatte, teilgenommen. In seiner Geschichte wurde der Held von einem Psychopathen nach einer alten indianischen Foltermethode ermordet. Johnny fand sie perfekt. Aber es konnte nicht schaden, nach Alternativen zu suchen. Er trat immerhin gegen zwölf Konkurrenten an.
Er ging zum Kühlschrank, um sich eine Cola zu gönnen, und stellte fest, dass er keine mehr hatte. Seufzend verließ er das kleine Zimmer im Fenn Tower, dem 22-stöckigen Studentenwohnheim, das zum Campus gehörte, um sich im rund um die Uhr geöffneten Campusshop Nachschub zu kaufen. Er hatte die Tür kaum ins Schloss gezogen, als vor ihm ein unförmiger schwarzer Schatten auftauchte. Im nächsten Moment traf ihn etwas hart an der Stirn. Er verlor das Bewusstsein.
Das Erste, was er wahrnahm, als er wieder zu sich kam, waren entsetzliche Kopfschmerzen und Übelkeit. Als Nächstes hatte er das Gefühl, sein ganzer Körper stünde in Flammen. Jede Bewegung, sogar das Atmen, verursachte entsetzliche Schmerzen. Er wollte schreien und konnte es nicht, weil ein Knebel in seinem Mund steckte. Er würgte, was die Schmerzen nur noch verschlimmerte.
Langsam wurde ihm bewusst, in welcher Lage er sich befand. Man hatte seine Hände gefesselt und ihn an einen Ast an einem Baum gehängt, gerade so, dass er mit den Füßen den Boden berührte und selbst in bewusstlosem Zustand auf diese Weise aufrecht »stand«. Er fragte sich, wo er wohl sein mochte. Doch die Überlegung verblasste. Eine neue Welle von Schmerz raste durch seinen Körper, als er die Muskeln anspannte, um seinem verkrampften Körper Erleichterung zu verschaffen. Entsetzt stellte er fest, dass er nackt war. Damit nicht genug erkannte er endlich die Ursache seiner wahnsinnigen Schmerzen. Wer immer ihn entführt hatte, hatte seinen Körper mit hölzernen Zahnstochern regelrecht gespickt. Es mussten Hunderte sein.
Johnny wimmerte, als er begriff, was Sache war. Sein Entführer wollte ihn bei lebendigem Leib verbrennen, indem er die Zahnstocher anzündete, die wiederum ihn anzünden würden, sobald sie sich bis auf die Haut heruntergebrannt hatten. Denn die, roch er, waren mit Öl getränkt worden.
In seiner Todesgeschichte hatte er genau diese Todesart beschrieben.
Er brüllte gegen den Knebel an, als ihm bewusst wurde, dass sich hier niemand mit ihm einen Scherz erlaubte, sondern dass er sterben würde. Aber wer um alles in der Welt tat ihm so was an?
Er versuchte, seine Umgebung zu erkennen. Der Baum, an dem er hing, stand auf einer kleinen Lichtung – wo? –, die vom Licht des Vollmonds beschienen wurde. Unter den umstehenden Bäumen war alles finster. Halt! Da bewegte sich ein Schatten. Johnny versuchte, die Person zu erkennen, die auf ihn zukam. Doch er sah nur ein unförmiges, massiges Ding, das gebeugt näher schlich.
War das Penny? Konnte das Penny sein, die Studentin, über die nicht nur er sich wegen ihrer extremen Fettleibigkeit lustig gemacht hatte? Nein. Oder falls doch, musste sie einen Komplizen haben, denn sie konnte Johnny wohl kaum allein vom Campus bis zu irgendeinem Wagen geschleppt und hier aufgehängt haben.
Er brüllte wieder, aber durch den Knebel war nur ein dumpfes Stöhnen zu hören. Das Ding kam näher. Johnny erkannte, dass die Person sich einen schwarzen, sackähnlichen Umhang übergeworfen und eine schwarze Henkersmaske aus Stoff über den Kopf gezogen hatte. Also war es doch Penny.
»Hmhm, hm hm hm hmmm!«, versuchte er zu artikulieren, dass ihm leidtat, wie abfällig er sie behandelt und wie sehr er sie gehänselt hatte. Gar nicht zu reden von dem üblen Streich, den er ihr vor wenigen Tagen gespielt hatte.
Unter der Kapuze erklang eine Reihe von heiseren Lauten, die wie ein bösartiges Kichern wirkten. Die Gestalt machte eine Bewegung. Eine Flamme leuchtete auf.
»Hmmm!«, heulte Johnny sein Nein heraus. Vergeblich. So wie er mit Penny keine Gnade gekannt hatte, kannte sie keine mit ihm.
Sie kam näher, langsam, damit seine Angst verlängert wurde. Eine Armeslänge vor ihm blieb sie stehen und hielt die Flamme zur Seite. Johnny erkannte zwei stechende Augen, die goldfarben leuchteten. Das waren nicht Pennys Augen.
Ihm blieb keine Zeit, länger darüber nachzudenken. Das Ding fuhr mit einer zärtlich wirkenden Geste mit der Flamme über die Zahnstocher in seiner Haut. Allein die Berührung ließ ihn vor Schmerzen brüllen. Doch dieser Schmerz verblasste, als die Hitze ihn einhüllte und die Flammen in wenigen Sekunden seine Haut in Brand steckten. Das Letzte, was er wahrnahm, war der Geruch seines eigenen brennenden Fleisches, ehe der Tod gnädig sein Leiden beendete.
Die vollständige Story steht als PDF, EPUB und MOBI zur Verfügung.
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