Deutsche Märchen und Sagen 186
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
249. Von einem verborgenen Schatz zu Ypern
Im Jahre 1488 kam ein Maurer, Namens Leo van Thielt, gebürtig von Audenaerde, nach Ypern, um dort Arbeit zu suchen. Da er aber keinen Meister dort finden konnte, so war er gezwungen, sein Stückchen Brot von Tür zu Tür sich erbetteln zu müssen. So kam er denn unter anderen auch an ein Haus, in dem eine geizige alte Jungfer ohne Magd wohnte, und bat diese Jungfer um ein Almosen. Sie fragte ihn, wer und woher er wäre und welch ein Handwerk er betreibe. Er sagte ihr, er wäre ein Maurer von Audenaerde und müsse betteln, weil er kein Brot habe.
Als die Jungfer hörte, dass er ein Maurer wäre, ließ sie ihn erfreut hereinkommen und sprach: »Wollet Ihr etwas für mich mauern und in Eurem Leben keinem Menschen etwas davon sagen, dann will ich Euch gut bezahlen.«
Deutsche Märchen und Sagen 185
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
247. Das Knäbchen im Schnee
Ein Zisterziensermönch ritt eines Winters, als tiefer Schnee überall lag, in Brabant mit einem Klosterdiener über Feld; den Diener schickte er nach einiger Zeit in ein nahes Dorf, trabte so allein daher. Da sah er plötzlich einen ungefähr dreijährigen Knaben von unendlicher Schönheit vor sich im Schnee liegen, und der jammerte und weinte sehr. Mitleidig stieg der gute Mönch vom Pferd, nahm das Knäbchen in seine Arme und fragte es unter heißen Tränen, was ihm denn sei? Das Kind aber schwieg und tat nichts als weinen.
Da fragte der Mönch schluchzend: »Hast du denn deine Mutter verloren? Wo ist diese?«
Auf die Frage brach das Knäbchen in noch stärkeres Weinen aus und rief: »Ach, wehe mir! Warum sollte ich nicht weinen und jammern! Du siehst doch wohl, wie verlassen und allein ich hier in Kälte und Schnee sitze, da keiner ist, der sich meiner annähme und Weiterlesen
Deutsche Märchen und Sagen 184
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
245. Der neckende Nix zu Lokeren
Vom Kai am Daknamveer zu Lokeren setzt an Winterabenden kein Schiffer nach neun Uhr mehr über, denn da ist der Fährmann einmal schön angekommen. Er hörte nämlich eines Abends spät auf der anderen Seite rufen: »Hol über! Über!« Er stand alsbald aus seinem Bett auf, denn er war schon längst schlafen gegangen, löste das Boot und setzte über; aber er war eben noch zwei Schritte vom Ufer, als er etwas ins Wasser plumpsen hörte, gerade als ob jemand hineingesprungen wäre. Am Ufer selbst sah er niemand. Er kehrte verwundert und kopfschüttelnd wieder zurück und legte sich wieder zu Bett; doch kaum lag er da, als es zum anderen Male rief: »Hol über! Über!«
Da stand er unwillig auf, ging ans Wasser und rief: »Wo müsset Ihr denn hin so spät?«
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Deutsche Märchen und Sagen 183
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
243. Neckgeist zu Gent
Eine Frau musste abends spät noch um Doktor gehen und den zu einem Kranken rufen. Auf dem Wege kam sie über die alte Ajujnlei und da fand sie etwas auf der Straße liegen, wovon sie meinte, dass es ein Betrunkener sei, denn es runkte und schnarchte, wie jemand, der in einem tiefen Schlaf liegt. Sie näherte sich und wollte den Trunkenbold wecken, aber da sprang der auf und rammelte grässlich mit Ketten. Die Frau lief der Predigerherrenbrücke zu, der Spuk folgte, und zwar bis auf die Mitte der Brücke, da sprang er unter lautem Gelächter ins Wasser und verschwand.
244. Der Seemann
In der Nähe eines Polderdorfes findet sich ein alter Arm der See, der aber nun von dem Meer abgeschnitten und am Eingang versandet Weiterlesen
Deutsche Märchen und Sagen 182
Johannes Wilhelm Wolf
Deutsche Märchen und Sagen
Leipzig, F. A. Brockhaus, 1845
241. Wie die Steinkohlen entdeckt wurden
Unter der Regierung des Lütticher Bischofs Albert von Cuyck lebte ein Schmied, der hieß Hulloz von Plenneval. Der stand eines Tages in seiner Schmiede und ließ den Hammer lustig auf dem Amboss erklingen, als ein eisgraues Männchen in einem weißen Anzug an der Schmiedetür vorbeikam und den Meister grüßte: »Guten Tag, Meister, nicht zu fleißig und gute Winst!«
Der Schmied hob den Kopf, dankte dem Männchen freundlich und sprach: »Wie wollet Ihr, dass ich einigen Winst habe? Alles, was ich an meiner Arbeit verdiene, fliegt fort, um Buschkohlen zu kaufen.«
Das Männchen lächelte und sprach: »Das glaube ich wohl, Meister, aber es gibt noch anderes, um Feuer zu machen, als Eure Buschkohlen. Geht einmal da drüben auf den Berg, wo die Mönche wohnen, da werdet ihr eine schwarze Erde finden, die viel besser Weiterlesen