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Das schleichende Chaos

»Es gab eine Nacht, da uns Winde aus unbekannten Räumen unwiderstehlich in grenzenlose Leeren jenseits allen Denkens und Seins wirbelten. Wahrnehmungen der wahnsinnigsten und unvermittelbarsten Art stürzten auf uns ein; Wahrnehmungen der Unendlichkeit, die uns zu diesem Zeitpunkt vor Wonne erbeben ließen, die sich heute jedoch einesteils meiner Erinnerung entziehen und anderenteils unmöglich mitgeteilt werden können. Zähflüssige Hindernisse wurden in rascher Folge durchbrochen und endlich spürte ich, dass wir in Reiche eindrangen, die entlegener waren, als alle je zuvor entdeckten.«

(Hypnos)

Der Baum 1921
Die trotz ihres unterschiedlichen Wesens befreundeten Bildhauer Kalos und Musides erhalten vom Tyrannen den Auftrag, ein Standbild der Tyche zu erstellen. Doch während der Arbeit an dem Objekt wird Kalos immer schwächer und stirbt schließlich mit dem Wunsch, dass Zweige von gewissen Olivenbäumen in seiner letzten Ruhestätte eingegraben werden sollen. Aus den Zweigen wächst schnell ein Baum von absonderlicher Gestalt und Größe, der sich bis über das Atelier des Freundes erstreckt. Als nun die Männer der Tyrannen ankommen, das Bildnis der Tyche abzuholen, müssen sie sehen, dass während des nächtlichen Sturms die Zweige des Baums Atelier und Bildnis zerstört haben.

Hypnos 1923
Getrieben von einem ungesunden Ehrgeiz machen sich zwei Freunde daran, ihre Träume zu studieren. Immer öfter nehmen sie verschiedene Drogen z Hilfe, um bestimmte Träume auszulösen. Nach einer besonders heftigen Erfahrung beginnen beide rapide zu altern und sich mit anderen Drogen wach zu halten. Zu schrecklich war, was sie in ihren Träumen erblickten. Dazu gesellt sich plötzlich eine unnennbare Furcht vor den Sternen.

Iranons Suche 1935
Auf seinem Weg zurück in die nur dunkel erinnerte Heimatstadt Aira, erreicht der Sänger Iranon die Stadt Teloth, wo weder Gesang noch Lachen bekannt sind und als unnütze Torheit angesehen werden. Gemeinsam mit den Jungen Romnod, der ebenfalls von Gesang und schönen Künsten träumt, verlässt Iranon Teloth wieder und beide wandern viele Jahre, in denen Iranon nicht altert. In der Stadt Oonai stirbt Romnod schließlich und Iranons Suche geht weiter, bis er in der Hütte eines uralten Schafhirten die Wahrheit über Aira und sich selbst erkennen muss.

Polaris 1920
Als der Erzähler den Polarstern durch sein Fenster beobachtet, deucht es, als hätte der Stern eine Botschaft für ihn. In seinen Träumen sieht er plötzlich eine Stadt, wird zu einem ihrer Bewohner und sieht sich schließlich als Wachmann in einem Krieg.

In der Gruft 1920
Ein kalter Winter macht es unmöglich, die Toten in der vereisten Erde zu bestatten, weswegen die Leichen in ihren Särgen bis zum Frühjahr in einer Gruft aufbewahrt werden. Versehentlich wird der Totengräber George Birch in der Gruft eingeschlossen und nur ein hoch liegendes Fenster kann ihm zum Entkommen dienen. Also stapelt er die Särge unter das Fenster und versucht so, diesen Ausgang zu erreichen. Doch die Totenkisten sind morsch und drohen zu zerbrechen. Im letzten Augenblick gelingt der Ausstieg, doch zuvor zieht er sich Verletzungen an den Fußgelenken zu, von dem zerbrechenden Holz, wie er meint. Doch die Wunden sehen aus, als wären Sie von Zähnen verursacht.

Das Bild im Haus 1919
Ein einsames Bauernhaus bietet den Wanderer, der plötzlich vom Regen überrascht wurde, Schutz. Das Haus scheint verlassen und so beschäftigt sich der Besucher mit dem Buch, das aufgeschlagen auf dem Tisch liegt. An einer abgegriffenen Stelle zeigen die Illustrationen eine Gruppe exotischer Männer und Frauen bei der Zubereitung von Menschenfleisch. Da vernimmt der Eindringling plötzlich Schritte im oberen Stockwerk des Hauses.

Jäger der Finsternis 1936
Der Künstler Robert Blake bezieht eine hochgelegene Wohnung, von wo aus er einen prachtvollen Blick über den Federal Hill hat. Dort erregt eine bedrohlich wirkende, schwarze Kirche seine Aufmerksamkeit, doch es ist gar nicht so leicht, diese vom Boden aus wieder zu finden. Die Personen, die er nach dem Weg fragt, scheinen eine panische Angst vor dem Bauwerk zu haben. Endlich dort angekommen entdeckt er eine Bibliothek voll von unheiligen Büchern. In einem Turmzimmer der Kirche entdeckt Blake das Skelett eines Journalisten, dessen verwirrende Notizen und eine Kiste mit einem merkwürdig geformten, glühenden Stein. Blake schließt die Kiste und befreit damit ein lichtscheues Wesen, das im Kirchturm gefangen war.

Das Verderben, das über Sarnath kam 1920
Direkt an einem gewaltigen See, in der Nachbarschaft Sarnaths lag einst die Stadt Ib, voll merkwürdiger uralter Bewohner, die das Bildnis einer Wasserechse verehrten. Die Menschen aus Sarnath jedoch überfielen und töteten die Einwohner Ibs ob ihrer Fremdartigkeit. In der Folge machte der Handel Sarnath wohlhabend und prachtvoll. Doch am Tag der Tausendjahrfeier der Zerstörung Ib steigen die Wasser des riesigen Sees und die einstigen Bewohner Ibs erheben sich aus der Tiefe, um Rache zu nehmen.

Die anderen Götter 1933
Da die Menschen ihnen immer näher rücken, ziehen sich die Götter auf immer höhere Berggipfel zurück. Barzai aus Ulthar wusste viel über die Götter und ist sich durch seine Studien gewiss, wo sie sich aufhalten. Eines bestimmten Abends, wenn die Zeit günstig ist, will er sie schauen, auf dem Gipfel des Hatheg-Kla. Und so macht er sich mit seinem Schüler Atal an den beschwerlichen Aufstieg.

Die Musik des Erich Zann 1922
Bereits am Tag seines Einzugs in das verfallene Haus in der Rue d‘Auseil hört der Student die seltsame Geigenmusik aus dem Mansardenzimmer des gleichen Hauses. Ein deutscher Musiker namens Erich Zann soll dort wohnen, der den Wunsch hat, jeden Abend seine Geige in der vernommenen, fremdartigen Weise zu spielen. Als es ihm gelingt, Zann in seinem Mansardenzimmer zu besuchen, erkennt er, dass dieser voll panischer Angst das Dachfenster im Auge behält.

Träume im Hexenhaus 1933
Der Mathematiker Walter Gilman kommt nach Arkham, um dort hinter das Geheimnis der multidimensionalen Realität zu kommen. Er mietet sich im ehemaligen Zimmer von Keziah Mason ein. Die als Hexe gebrandmarkte Keziah Mason sprach vor ihrem unerklärlichen Verschwinden 1692 von Linien und Kurven, die die Grenzen des Raums aufheben sollen. In den Träumen, die Gilman seit Bezug des Zimmers heimsuchen, sieht er sich selbst in einer seltsamen Landschaft, umgeben von fremdartigen Gebäuden und lebenden geometrischen Formen und Farben. Er stellt die Theorie auf, dass man mit einem höheren mathematischen Verständnis als dem menschlichen »sich absichtlich von der Erde auf einen anderen Himmelskörper versetzen könne«. Im Verlauf seiner Forschungen erfolgt eine fortschreitende Vermischung von Wirklichkeit und Traum. Ein zentraler Ausgangspunkt für die unerklärlichen Phänomene und Träume scheint der Scheitelpunkt seiner Zimmerwand zur Decke zu sein, die einen unregelmäßigen Winkel bilden, so als bestünde dahinter ein Hohlraum ohne sichtbaren Zugang.

Der Schatten aus der Zeit 1936
Im Jahre 1908 bricht Professor Peaslee urplötzlich während einer Vorlesung zusammen. Zwar scheint er sich zu erholen, doch in der Folge legt er merkwürdige Verhaltensweisen, wie auch eine merklich gesteigerte Intelligenz an den Tag. Er ist so fremd geworden, dass sich sogar seine Familie nach und nach von ihm abwendet. Nach einer erneuten Bewusstlosigkeit beendet Peaslee 1914 den Satz, den er sechs Jahre zuvor während seiner Vorlesung begonnen hatte. Auch sonst scheint er wieder der Alte zu sein. Doch mehr und mehr suchen seltsame Träume den Professor heim. In seinen Träumen befindet sich Peaslee an einem fremdartigen Ort, als Mitglied einer hochentwickelten Gesellschaft, deren Mitglieder allerdings keine menschliche Gestalt haben. Immer mehr ist der Professor davon überzeugt, dass es sich bei seinen Träumen um Erinnerungen handelt, an das, was in den sechs Jahren seiner Amnesie geschehen ist. In den Ruinen einer uralten Stadt findet Peaslee den ultimativen Beweis für seine Theorie.

»[…] schließlich war das Opfer ein Schriftsteller und Maler, der sich gänzlich dem Bereich des Mythischen, des Traums, des Entsetzens und Aberglaubens verschrieben hatte, und er war stets eifrig auf der Suche nach Szenarien und Effekten bizarrer und gespenstischer Art.«

(Jäger der Finsternis)

Mit Das schleichende Chaos liegt Band 3 der sechsbändigen H. P. Lovecraft Werkausgabe im Festa-Verlag vor. Vereint sind hier einige kurze, stark fantasylastige Geschichten, die man als Stil- und Konzeptübungen ansehen kann (Der Baum, Iranons Suche, Polaris), wie auch einige inzwischen allgemeingültige Klassiker des kosmischen Schreckens (Träume im Hexenhaus, Der Schatten aus der Zeit, Jäger der Finsternis, Die Musik des Erich Zann). Als besonders (wieder-)entdeckenswert erweisen sich zudem die Zwitter aus beidem; kurze, eigenständige Geschichten, die Motive aus den typischen Lovecraft-Klassikern beinhalten (Das Verderben, das über Sarnath kam, Hypnos, Die anderen Götter). Abgerundet wird Das schleichende Chaos mit der Friedhofswärtergeschichte In der Gruft und dem Kannibalenstück Das Bild im Haus; beides eher untypische, erdverbundene und eigenständige Geschichten außerhalb des großen Lovecraft-Kanons.
Insgesamt greift hier auf angenehme Weise das Festa-Konzept, Lovecrafts Geschichten nicht in chronologischer Reihenfolge zu sortieren, sondern mit der Durchmischung für Abwechslung zu sorgen.

Im Bonusmaterial finden sich diesmal Dorothy C. Walters Gedenkschrift über Drei Stunden mit H. P. Lovecraft – ein sympathisch und humorvoll geschriebener Bericht über die nicht ganz zufällige Anbahnung und den Verlauf eines förmlichen Treffens zwischen den beiden Unbekannten und den Seltenheitswert dieser persönlichen Begegnung, der Lovecraft als formvollendeten und zugänglichen Charakter zeigt – und Robert H. Barlows Notizen zu Lovecraft – eine ungeordnete Sammlung über die Marotten, Gedanken und Träume Lovecrafts, die dieser Barlow berichtete.

Wie bereits die Vorgängerbände ist das Cover in schickem Schwarz gehalten. Coverabbildung gibt es keine, lediglich das Reihenlogo, Autorenname, Buchtitel, Verlagslogo und der Zusatz »Horrorgeschichten« sind auf dem Frontcover zu sehen. Gefertigt ist der Band als hochwertiges Hardcover mit Schutzumschlag, Lesebändchen und schwarzem Vorsatzblatt.

»Plötzlich und zu guter Letzt nahm das literarische und kritische Interesse, das den Schriftsteller sogar in seiner Heimatstadt Providence zu seinen Lebzeiten weitgehend übergangen hatte, eine neue Wendung, und Rezensenten und Universitätsprofessoren entdeckten zu ihrer Überraschung, dass es einen Schriftsteller gab, der, von ihnen unbemerkt, nicht nur einen landesweiten, sondern einen weltweiten Ruf auf dem Gebiet der unheimlichen Literatur errungen hatte.«

(Dorothy C. Walter – Drei Stunden mit H. P. Lovecraft)

Copyright © 2012 by Elmar Huber

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H. P. Lovecraft,
Frank Festa (Hrsg.)
Das schleichende Chaos
H. P. Lovecrafts Bibliothek
des Schreckens Band 19
H. P. Lovecrafts gesammelte Werke
Band 3
Festa-Verlag, Leipzig
September 2006
Hardcover mit Schutzumschlag
Horror/Fantasy
288 Seiten, 24,00 Euro
ISBN: 9783865520652
Aus dem Amerikanischen
von Andreas Diesel