Paraforce Band 4
»Ich glaube nicht, dass wir es hier mit Vampiren zu tun haben«, flüsterte Nils Sommer seiner Tante so leise zu, dass es die beiden Polizisten, mit denen sie auf der Weide standen, nicht hören konnten.
»Zumindest nicht mit einer Art, die wir kennen«, bestätigte Magdalena.
»Wir haben ja wirklich schon einiges gesehen, aber das verstehe ich nicht. Wer oder was raubt einer Kuh das Blut bis auf den letzten Tropfen?«
»Um das herauszufinden, sind wir hier.«
»Das könnte der eigenartigste Fall werden, den wir bisher hatten.«
»Abwarten. Vielleicht ist die Sache auch gar nichts für uns.«
»Es mag ja sein, dass sich viele Dinge normal erklären lassen«, entgegnete Nils. »Das hier aber sicher nicht.«
»Vielleicht haben wir es doch mit einer neuen Sorte von Vampir zu tun«, sagte Lena leise.
»Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« Nils deutete auf die toten Tiere. »Das ist eine Menge Blut. Es müsste dann eine ganze Gruppe von Blutsaugern gewesen sein. Eine Art, von der wir vorher nie etwas gehört haben. Wo sollen die denn herkommen?«
Nils schaute nachdenklich über die Weide am Hang des Drachenfelsen. Er wusste, dass es Dinge gab, die weit außerhalb des Normalen lagen, und hatte bereits zahlreiche gefährliche Situationen überstehen müssen, die ihm kein Mensch glauben würde. Von blutleeren Kühen hatte er allerdings noch nie etwas gehört. Die Tiere waren der Grund, warum man ihn und seine Tante nach Königswinter geschickt hatte. In den letzten Wochen waren etwa vierzig tote Tiere gefunden worden. Anfänglich hatte man die Sache vertuschen wollen. Als aber die Presse über die merkwürdigen Vorfälle berichtet hatte, sahen sich die Verantwortlichen gezwungen zu reagieren.
Die Obduktion hatte ergeben, dass die Kadaver Hunderte kleiner Stichwunden aufwiesen und annähernd blutleer waren. Eine Erklärung, wer oder was für diese Tat verantwortlich sein könnte, hatte man bisher nicht gefunden. Die Behörden standen vor einem Rätsel.
Weil man sich keinen Rat wusste, wurde die Zuständigkeit immer zum nächsthöheren Amt weitergegeben. Bis man schließlich Nils und Magdalena Sommer um Rat fragte. Die beiden Paraforce-Agenten hatten den Auftrag direkt vom Innenministerium bekommen.
»Wie groß war der Umkreis, in dem man die Tiere gefunden hat?«, wandte sich Magdalena Sommer an die beiden Polizisten, die abgestellt worden waren, um die beiden Ermittler in den Fall einzuführen.
»Keine der Weiden liegt mehr als zehn Kilometer vom Drachenfels entfernt«, antwortete der etwas untersetzte Hartmut Simon. »Wir können uns die einzelnen Orte gerne anschauen.«
»Ich denke, das wird nicht nötig sein«, lehnte Magdalena das Angebot des Polizisten ab.
»Haben Sie schon eine Idee, wer das getan haben könnte?«, wollte Peter Siegmund wissen. Dem Mann war anzusehen, dass er sich in seiner Situation unwohl fühlte. Sein Gesichtsausdruck war leidend und er drehte sich ständig zu seinem Streifenwagen um. Nils vermutete, dass der Beamte kurz vor der Pensionierung stand. Er trug eine Glatze und die Haare seines Oberlippenbartes waren längst ergraut.
»Noch wissen wir nicht, wie die Kühe umgekommen sind«, antwortete Magdalena und schaute wieder zu den drei reglosen Kadavern vor sich. »Wir werden es aber herausfinden.«
»Was wollen Sie jetzt machen?«, fragte Simon und schaute die Fremden neugierig an.
»Wir gehen zurück ins Hotel«, antworte Nils grinsend.
»Sie wollen den Tatort nicht näher untersuchen?«
»Nein. Hier gibt es keine Spuren mehr. Wer oder was auch immer den Tieren das Blut ausgesaugt hat, ist längst nicht mehr in der Nähe. Hier werden wir nichts mehr erreichen.«
Die Beamten starrten das ungleiche Paar schweigend an. Nils war etwa 1,90 groß, schlank und damit das genaue Gegenteil der kleinen, leicht übergewichtigen Magdalena Sommer, die immer etwas abwesend wirkte. Lediglich die blonden Haare und die blauen Augen hatten die beiden gemeinsam. Ansonsten gab es keine Ähnlichkeiten.
Nils verstand, dass sich die Männer über die beiden Agenten wunderten, deren Methoden anders waren, als es irgendwelche Lehrbücher vorsahen. Den Polizisten hatte man vermutlich nicht gesagt, welcher Organisation die Sommers genau angehörten. Die kannte wahrscheinlich nicht einmal der Landrat des Rhein-Sieg-Kreises. Ihre Ausweise wiesen Magdalena und Nils als Mitarbeiter der Regierung aus. Mehr wussten die Wenigsten. Und die würden sich hüten, auch nur ein Wort zu verraten.
»Wir können Sie zurück in den Ort fahren«, bot Siegmund den beiden sichtlich verlegen an. Weder er noch Simon schienen so recht zu wissen, was sie jetzt tun sollten.
»Wir gehen zu Fuß«, entschied Magdalena und nickte den Beamten freundlich zu. »So können wir uns einen besseren Eindruck von der Umgebung machen. Lassen Sie die Tiere abtransportieren und obduzieren.«
»Wie Sie wünschen«, gab Simon zurück. Nils merkte, dass es ihm nicht besonders gefiel, wie er von den fremden Ermittlern behandelt wurde. »Denken Sie aber bitte daran, dass es um 16:00 Uhr im Präsidium eine Besprechung mit dem Landrat und dem Polizeichef geben soll.«
»Wir werden pünktlich sein«, versprach Lena grinsend und wandte sich zum Gehen.
***
»Was denkst du wirklich?«, fragte Nils, sobald die beiden Beamten außer Hörweite waren.
»Die Sache ist mehr als seltsam. Ich bin mir fast sicher, dass wir es hier mit einem dämonischen Wesen zu tun haben. Kein Tier ist in der Lage, eine Kuh derartig zuzurichten.«
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, entgegnete Nils. »Wenn es hier um Menschen ginge, würde ich auch an Vampire, Werwölfe oder irgendwelche anderen Kreaturen denken. Ich habe aber noch nie gehört, dass diese Bestien Tiere angegriffen haben sollen.«
»Ein Mensch kann es auch nicht gewesen sein.«
»Vielleicht doch«, sagte Nils.
»Nein. Selbst wenn es vielleicht technisch möglich wäre. Allein der Abtransport des Blutes würde ein Problem darstellen. So etwas wäre von den Leuten in der Umgebung bemerkt worden.«
»Was ist mit Fledermäusen?«
»Die saugen kein Blut. Das weißt du doch.« Lena – wie Nils und ihre besten Freunde seine Tante nannten – schaute ihren Neffen verwundert an.
»Es gibt eine afrikanische Art, die es könnte.«
»Wir sind hier in Deutschland. Wie sollen die Tiere hierhergekommen sein?«
»Ich denke, dass ein Mensch hinter der Sache steckt. Auch wenn er die Kühe natürlich nicht selbst ausgesaugt haben kann, könnte er Fledermäuse dazu abgerichtet haben.«
»Das halte ich für sehr unwahrscheinlich, wenn nicht unmöglich«, widersprach Lena. »Ich werde nach der Besprechung im Polizeipräsidium mit Jacques Baptiste telefonieren. Vielleicht hat der schon von ähnlichen Vorfällen gehört.«
»Gut. Wir haben bis dahin noch etwas Zeit. Willst du ins Hotel oder wollen wir vorher noch zum Schloss?« Auch Nils war der Meinung, dass es eine gute Idee sei, den Leiter der Paraforce mit dem Phänomen zu konfrontieren.
»Das können wir morgen noch besichtigen. Schließlich sind wir nicht wegen der Sehenswürdigkeiten hier.«
»Trotzdem schadet es nicht, sich die Plätze anzuschauen. Wenn wir mehr über die Umgebung erfahren, finden wir vielleicht einen Hinweis.«
»Mag sein, Nils. Zunächst möchte ich aber mit Jacques reden.«
»Vielleicht rät er uns auch dazu, den Fall abzulehnen.«
»Das hat er noch nie getan«, entgegnete Lena.
»Was nicht bedeutet, dass er es auch diesmal nicht tut. So ungewöhnlich der Fall sein mag. Noch bin ich mir nicht sicher, dass es sich hierbei um ein paranormales Phänomen handelt.«
»Worum sonst?«
»Auch wenn ich absolut keine Idee habe, wie. Ich denke immer noch, dass ein Mensch für die Überfälle verantwortlich ist.«
Mittlerweile hatten sie den Ort Königswinter erreicht und waren an der Bahnstation vorbeigegangen, von der aus die Touristen zum Schloss und der Drachenburg fahren konnten. Nils war überrascht, wie viele Besucher sich heute hier aufhielten. Immerhin war Donnerstag und die Hauptsaison war seit fast vier Wochen vorbei.
Als die beiden die Rezeption erreichten, stockte Nils einen Augenblick der Atem. Anstelle des alten, leicht dicklichen Mannes, der ihnen am Mittag mit mürrischem Blick die Zimmerschlüssel überreicht hatte, saß dort nun eine blonde Schönheit. Die gelockten Haare hingen locker bis auf die Schulter. Sie war braun gebrannt, hatte blaue Augen und Nils wünschte sich in diesem Moment sehen zu können, was sich unter der Portierskleidung abzeichnete.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte die junge Frau und lächelte die beiden freundlich an.
»Zimmer 107 und 108«, sagte Lena, bevor ihr Neffe auch nur den Mund aufmachen konnte.
Nils hätte schon einige Dinge gewusst, bei denen ihm die schöne Blondine helfen konnte. Dabei konnte er allerdings auf Lenas Anwesenheit verzichten. »S. Ludwig« las er auf einem kleinen, goldenen Schild an ihrer Brust, als sie ihnen ihre Schlüssel reichte. Er würde sich den Namen merken.
»Kommst du mit oder willst du hier unten bleiben?«, fragte Lena grinsend und gab Nils einen leichten Stoß gegen die Schulter.
»Ich komme ja«, gab der zurück und folgte seiner Tante widerstrebend in Richtung Treppe.
»Die Kleine scheint dir zu gefallen«, stellte Lena fest, als sie ihre Zimmer erreichten. »Denk dran, dass wir nicht zum Vergnügen hier sind.«
»Schauen wird man ja wohl dürfen.«
»Solange du dich auf unsere Aufgabe konzentrierst, ja.«
Was du immer hast, dachte Nils und schloss die Tür zu seinem Zimmer auf. Nur weil Lena sich schon lange nicht mehr für das andere Geschlecht interessierte, hieß das nicht, dass er diesem Lebensstil folgen musste.
Und das hatte er ganz sicher nicht vor.
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