Moshi Moshi
Japanischer Roman, Hardcover, Leinen, Diogenes, Zürich, März 2015, 304 Seiten, 21,90 Euro, ISBN: 9783257069320
Ein Jahr ist vergangen, seit die 20-jährige Yotchan ihren Vater durch Selbstmord verlor. Um Abstand von der alten Wohnung zu gewinnen, in der sie und ihre Mutter nach dem Tod des Vaters weiterhin gewohnt haben, mietet sie in Tokyos Künstler- und Szeneviertel Shimokitazawa eine kleine, günstige Wohnung. Direkt gegenüber befindet sich das Bistro, in dem sie und ihre Mutter wegen der leckeren Gerichte wieder Lebensmut gefasst haben. Yotchan beschließt, dort zu arbeiten und bereut es trotz geringem Lohn und viel Arbeit nicht, denn die Chefin ist nett und die Arbeit holt sie allmählich aus ihrer Trauer heraus. Dann aber steht eines Tages ihre Mutter vor der Tür und will bei Yotchan einziehen. Die junge Frau ist nicht begeistert. Aber nachdem sie eine Weile zusammenleben, stellt sie fest, dass auch ihre Mutter allmählich ins Leben zurückfindet. Außerdem tut Yotchan der Umgang mit einer Mutter, die sich gerade sichtbar verändert, gut. Als Yotchan innerlich langsam bereit wird, sich mit den Todesumständen ihres Vaters auseinander zu setzen, begegnet sie Aratani, der einen Club besitzt, in dem die Rockband des Vaters oft aufgetreten ist. Aratani kann ihr ein wenig von ihrem Vater und der Frau, die ihn zum Selbstmord angestiftet hat, erzählen. Das reicht zwar nicht aus, um sich ein genaues Bild der Todesumstände zu machen, aber Yotchan fängt an, sich in Aratani zu verlieben. Sie verleben eine schöne Zeit zusammen, die ihr hilft, sich wieder im Leben zu verwurzeln. Aber sie merkt, dass ihr trotzdem etwas fehlt. Als sie den besten Freund ihres Vaters, Yamazaki, trifft, kann auch dieser ihr etwas mehr über seinen Freund erzählen. Aber auch Yamazaki weiß letztlich nicht, warum der Vater so plötzlich Selbstmord begangen hat. Trotzdem findet Yotchan bei Yamazaki ihre innere Ruhe wieder – und beginnt, mehr für den älteren Mann zu empfinden.
Das Original ist in Japan 2010 erschienen und reflektiert, wie andere Romane von Yoshimoto auch, das Thema Selbstfindung. Oft wird die Selbstfindung in ihren Romanen durch eine Krise ausgelöst, so auch hier. Die Krise durchzieht den ganzen Roman, wird aber nicht bis ins letzte dunkle Detail ausgewalzt, sondern wirkt als sanfter Motor, der die Figuren antreibt, ihr Leben neu aufzubauen. Sie begleitet die Figuren, entsetzt sie, erdrückt sie aber nicht. Wie eine Kirschblüte, die zart aufblüht, blühen auch Yotchan und ihre Mutter allmählich wieder auf und können am Ende den Tod des Vaters und Ehemanns akzeptieren, auch wenn nicht alle Details zu dessen Tod geklärt sind. Das befreit sie endgültig von der Vergangenheit und öffnet für sie neue Wege. Yoshimoto schafft es auch in diesem Roman, die Sprache so leicht und zart zu gestalten, dass sie wie ein sanfter Fluss anmutet, der die Figuren durch ihre Geschichte treibt. Die Krise wird zwar nicht ausgespart, fließt aber langsam aus dem Leben heraus. Die Auseinandersetzung mit dem Vater geschieht mal stärker, mal eher beiläufig, aber nie so, dass es den Figuren und ihrer Entwicklung schadet. Yotchan und ihre Mutter verarbeiten den Verlust unterschiedlich: Yotchan geht in ihrer Arbeit auf, ihre Mutter fängt an, das Leben erst einmal ohne Job zu genießen, bis sie sich schließlich für eine Arbeit entscheidet. Aber beide begegnen dem Vater und Ehemann auch nach dessen Tod: Die Mutter sieht seinen Geist und Yotchan erhält von ihm Anrufe in ihren Träumen. Sie meldet sich mit »Moshi moshi?« (Hallo, hallo?) und weiß nach ein paar Träumen, dass der Vater sie vor seinem Tod anrufen wollte. Als sie das weiß, kann sie von ihm und seinem Handy, das bei ihm nach seinem Tod gefunden wurde, Abschied in Form eines kleinen Rituals an seiner Todesstätte nehmen. Rituale können also auch bei der Trauerverarbeitung helfen. Im Roman wird immer wieder betont, dass nichts endgültig ist, weder die Trauer, noch die Liebe. Alles ist im Fluss, alles entwickelt sich weiter. Yotchan bewahrt sich trotz ihrer Trauer den Blick auf das Positive im Leben, das sie nach und nach immer mehr sieht und zu schätzen weiß. Und das sind Alltäglichkeiten wie ein gelungenes Essen, ein schönes Gespräch, ein alter Fernsehfilm oder den Gästen beim Essen zuzusehen und es interessant zu finden, wie jeder so seine eigene Art zu essen hat. Die Stimmungen im Roman werden durch Naturerscheinungen unterstrichen.
Yoshimoto wurde mit ihrem Debüt Kitchen berühmt und gilt in Japan, obwohl selbst nicht mehr jung, als die Stimme der Jugend Japans. Ihre Romane verkaufen sich auch außerhalb Japans sehr gut.
(ud)