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Das Tribunal zu Nuras

Das Tribunal zu Nuras

»Auf, Freunde, lasst uns eine reiche Ernte einfahren!«

Diesen Worten folgte ein markerschütternder Kampfschrei als Ardo sein Pferd zum Galopp antrieb und die Doppelklingenaxt über dem Kopf kreisen ließ. Kaum hatte er die erste Reihe der Feinde erreicht, färbte sich das schimmernde Metall rot. Verstümmelte Leiber stürzten zu Boden, Reiter starben mit ihren Pferden, Lanzen und Schwerter zerbarsten unter schrecklichen Hieben. Ardo war in seinem Element, lachte schallend, während er mit beleidigenden Sprüchen die Gegner zu mehr Kampfgeist anstachelte. Er fühlte sich rundum wohl.

Etwas anders erging es seinen vier Reisegefährten, die in sicherer Entfernung warteten und das Schauspiel teils verwundert, teils angewidert betrachteten.

»Wo habt Ihr diesen Wahnsinnigen aufgegabelt, Hauptmann Vanri?«

Verlegen kratzte sich der erfahrene Krieger mit dem langen, fast weißen Haar und dem buschigen Schnurrbart unter seinem Flügelhelm. Die Frage seiner Herrin brachte ihn in Verlegenheit, denn sie hatte ihm aufgetragen, einen fähigen, aber anständigen Kämpfer zu finden, der sie alle begleiten sollte.

Vanri und die junge Kriegerin Syr waren die einzigen Soldaten der ehemaligen Königin Kaalens. Da brauchte es schon ein weiteres Schwert, um sicher im Reich Nuras anzukommen.

Sie befanden sich auf einer heiklen Mission, seit der Tyrann Krelios Königin Prenia gestürzt und alle Macht an sich gerissen hatte. Gleichzeitig war durch Krelios’ Handlanger das Gerücht verbreitet worden, die jugendliche Königin sei eine Verbrecherin am eigenen Volk, eine Mörderin und würde grausam regieren.

Eine Intrige, die schließlich zur Anklage Prenias wegen Hochverrats an den Werten des Kaiserreichs durch den Kaiser Horat und den anderen Königen geführt hatte. Begab sie sich nicht in die Kaiserstadt, wo das Tribunal regelmäßig in solchen Fällen stattfand, würde man sie einfach zum Tode verurteilen und jagen. Abwesenheit bei einer derart wichtigen Angelegenheit bedeutete unweigerlich ein Schuldeingeständnis. Nie hatte der Kaiser Tyrannen im Imperium geduldet.

Jemand musste den alten Imperator überzeugen, dass Krelios nicht der gerechte Herrscher war, für den er sich ausgab. Seine Macht gründete auf Verrat. Seine Gier nach Reichtum und der Hang zur Unterdrückung waren Prenia bereits ein Dorn im Auge gewesen, als der ehemalige Graf in ihrem Reich sein Territorium regelrecht ausbluten ließ.

Ständige Auseinandersetzungen mit Krelios und seinen Söldnertruppen hatten schließlich zu einem kurzen, aber heftigen Krieg geführt. Einer Rebellion, die durch Bestechung und Drohungen Prenia ihren Thron gekostet hatte.

Das Volk wollte sich nicht gegen einen erbarmungslosen Staatsmann stellen. So waren der Königin nur drei ihrer engsten Vertrauten, etwas Gold und das Nötigste an Ausrüstung geblieben. Wäre die junge Königin geblieben, hätten Krelios’ Männer sie und ihre Getreuen festgenommen, das Urteil des Tribunals abgewartet und danach hingerichtet. Vermutlich wäre Prenia einen sehr langsamen Tod unter monatelanger Folter gestorben, denn der Schmerz anderer bereitete Krelios das größte Vergnügen.

Flucht war der einzige Ausweg gewesen. Eine Flucht mit zwei Kriegern und einem Magier, dessen diplomatische Fähigkeiten keinem gegnerischen Soldatenheer Einhalt gebieten konnten. Seine Kampfsprüche beschränkten sich auf einige kleine Zauber, die bei einzelnen Gegnern wirken mochten, nicht jedoch Auge in Auge mit den Truppen, die Krelios durch das Land schickte, um die gestürzte Königin vom Tribunal fernzuhalten.

Schließlich hatte Königin Prenia ihrem Hauptmann aufgetragen, einen weiteren Kämpfer ausfindig zu machen. Jemanden, der noch nicht korrumpiert war, auf den sie sich verlassen konnte.

Scheinbar hatte es keine bessere Wahl als einen betrunkenen Barbaren in einer kleinen Schenke gegeben. Nach kurzer Unterredung mit Hauptmann Vanri hatte Ardo der Königin seine Treue geschworen und versprochen, sie auf der Reise zur Kaiserstadt mit seinem Leben zu schützen. Wer die Barbaren aus dem Westen kannte, wusste von ihrem Ehrgefühl. Gab einer von ihnen sein Wort, so hielt er sich auch daran.

Dennoch bezweifelte Prenia, dass sie mit einem unberechenbaren Wilden sicherer reisen konnten. Ardo stürzte sich auf jeden Feind, auch wenn ein Vorbeischleichen die bessere Taktik wäre. Hinzu kam seine pure Freude am Töten, die ihn befremdlich und gefährlich machte.

»Wollt Ihr nicht mit Syr an der Seite dieses Barbaren kämpfen und ihn unterstützen?«

Königin Prenia schaute ihren Hauptmann tadelnd an.

Mit einem knappen Schulterzucken meinte dieser: »Es ist nur ein kleiner Trupp von etwa fünfzig Mann. Lasst ihm doch die Freude, meine Königin.«

»Fünfzig Mann und ein Oger, Hauptmann.«

»Kein Oger«, sagte Magister Reinar sachlich, wobei er auf das Ungetüm deutete, dessen Kopf vom Rumpf purzelte und gleich einem grotesken Ball über das spärliche Gras rollte. »Der Oger ist nun tot.«

Grinsend schüttelte der Hauptmann seinen Kopf: »Kein Wunder, dass Ihr der oberste Minister wart … bei Eurer Auffassungsgabe …«

»Wir Magier verzichten auf allzu sinnlose Reden. Ganz im Gegensatz zu einigen Soldaten.«

»Schluss jetzt!«, befahl die Königin. Sie reckte ihr Kinn ein wenig nach vorne, setzte sich noch gerader in den Sattel und warf das nachtschwarze Haar zurück. »Ich lasse es nicht zu, dass sich meine letzten verbliebenen Untertanen wegen Belanglosigkeiten zanken.«

Artig schwiegen die Männer. Syrs Gesicht zeigte die Art frechen Humors, der ihr eine Disziplinarstrafe eingebracht hätte, wäre sie dumm genug gewesen, das Geschehene zu kommentieren. So aber bemerkte niemand ihre heimliche Belustigung.

Ardo war von seinem Pferd gestiegen, nachdem es keine weiteren Reiter mehr gab, und warf sich zu Fuß ins Getümmel. Der nackte Oberkörper mit den Muskelpaketen wies bis jetzt noch keine einzige Schramme auf. Entweder verhielt sich der Barbar ungewöhnlich geschickt oder die Götter wollten ihn auf gar keinen Fall sterben lassen, weil sie seine Anwesenheit im Jenseitigen fürchteten.

»Es sind zu viele, selbst für einen scheinbar unbezwingbaren Streiter. Irgendwann wird er ermüden. Wenn sich meine Soldaten zieren, muss ich eben selbst zur Tat schreiten. Nicht umsonst wurde ich zur Klerikerin ausgebildet.«

Königin Prenia löste ihren Streitkolben vom Gürtel, nahm den leichten Rundschild in die andere Hand und lenkte den Rappen Richtung Gemetzel. Seufzend zog auch Vanri sein Schwert, befahl Syr, ihm zu folgen und ritt los. Nur Magister Reinar blieb zurück. Er musste sich zuerst auf ein oder zwei Feuerbälle konzentrieren, dann würde auch er eingreifen. Ihn störte die ungezügelte Leidenschaft der Königin, die mit ihren achtzehn Jahren noch nicht viel von der Welt und ihren Grausamkeiten gesehen hatte. Ja, sie war eine Klerikerin, konnte kämpfen, zaubern und heilen, aber ihr fehlte einfach die Erfahrung. Übungskämpfe waren etwas ganz anderes als die Realität. Das hätte sie im Grunde während der Rebellion lernen müssen. Zumindest die Wunden, die sie davongetragen hatte, müssten ihr doch beweisen, dass ernsthafte Kämpfe ein anderes Format als beinahe spielerische Übungen besaßen.

Ardo entdeckte Prenia noch vor ihrem ersten Hieb und begrüßte sie lachend: »Na endlich! Ich dachte schon, Ihr wolltet Euch vor diesem Spielchen drücken. Na los, Frau, haut die Brut in Stücke.«

Wieder widmete sich der riesenhafte Barbar drei Gegnern auf einmal und brachte sie nach kurzem Schlagabtausch zu Fall. Die anderen sahen sich nun nicht nur einer völlig außer Kontrolle geratenen Kampfmaschine gegenüber, sondern auch einer Klerikerin, die sie nicht töten durften, die aber ihrerseits heftig austeilte und schließlich zwei weiteren Kriegern, deren Fechtkunst alter Schule nicht zu unterschätzen war.

Rasch lichteten sich die Reihen. Erste Hasenfüße verließen bereits eilig den Kampfbereich, wurden aber von Feuerbällen und magischen Energiekugeln aus Reinars Fingerspitzen niedergestreckt.

»He, alter Mann, ihr seid aber mit unfairen Mitteln bei der Sache«, schimpfte Ardo, unter dessen Schlägen gerade ein Elitekämpfer des Blutigen Wolfs seinen Tod starb. Dem Barbaren kam es nicht einmal in den Sinn, den Gegnern volle Beachtung zu schenken. Für ihn waren allesamt schwächliche Narren, die viel zu schnell unterlagen. Sein eigenes Volk und die anderen Barbarenstämme kämpften verbissener und besser. Mit ihnen konnte man einen ausgiebigen Waffengang erleben. Für Zwischendurch taugten diese Soldaten allemal, nicht jedoch für eine echte Herausforderung.

Da Ardo bereits ganze Arbeit geleistet hatte, dauerte der restliche Kampf nicht mehr lange. Bald standen die Reisegefährten inmitten eines mit Leichen übersäten Platzes, auf dessen festgetrampelter Erde bereits das Blut zu trocknen begann.

»Hei, das war ein Spaß«, meinte Ardo fröhlich und säuberte seine Axt mit dem Umhang eines toten Offiziers.

Von den anderen erntete er undeutbare Blicke, die nicht gerade freundlich wirkten. Königin Prenia trat ihm gegenüber und stemmte ihre Fäuste in die Hüften: »Ihr seid viel zu ungestüm. Das hätte unser Tod sein können, Ardo. Bedenkt, dass diese Krieger einen Oger mit sich geführt hatten. Sie werden wohl immer gefährlicher.«

»Gefährlich?«, Ardo hob eine Augenbraue. »Was war denn an diesen Hunden gefährlich? Ich hatte das Gefühl mich durch ein Weizenfeld zu mähen, statt gegen jemanden zu kämpfen. Wenn das alles ist, was euer Gegner zu bieten hat … Ich frage mich, wie er euch hatte stürzen können.«

»Ihr seid ein Wahnsinniger. Eine blutrünstige Bestie!«

Bedrohlich baute sich der Barbar vor dem Hauptmann auf und erhob seine Axt auf halbe Höhe: »Wollt Ihr mich etwa beleidigen, Ihr schnauzbärtiger Nordmann? Soll ich Euch einmal etwas von Eurem nordischen Volk erzählen? Von Euch behaarten Tieren?«

»Und dein Volk besteht aus Kleinkindern, denen weder am Kinn, noch auf Brust und Rücken Haare wachsen.«

Beide Männer umklammerten ihre Waffen, bereit bei der kleinsten Bewegung zuzuschlagen. Eine unsichtbare Welle riss sie plötzlich von den Füßen und wirbelte den Barbaren und den Hauptmann über den Boden des überschaubaren Schlachtfeldes. Sie sahen zur Seite und bemerkten, wie Königin Prenia wieder ihre Hände sinken ließ.

»Ich brauche euch. BEIDE. Also reißt euch gefälligst zusammen und hört mit den Kindereien auf. Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, denn MIR bedeutet mein Königreich etwas.«

Ardo und Vanri starrten einander an, trafen eine stillschweigende Übereinkunft, dass in dieser Angelegenheit noch nicht das letzte Wort gesprochen war. Bei Gelegenheit sollten ihre Waffen die Diskussion weiterführen, sobald Kaalen zurückerobert war und wieder von der legitimen Herrin regiert wurde.

Die restlichen zwei Tage der Reise verliefen ohne weitere Zwischenfälle. Gasthäuser, die auf dem Weg lagen, mied der kleine Trupp, denn niemand von ihnen wusste, welcher Wirt dem Tyrannen dienlich war oder welcher Gast als Assassine im Dienste Krelios’ stand. Obschon die Grenze Kaalens längst hinter ihnen lag, durften sie nicht darauf bauen, dass sie sich in Sicherheit befanden.

Besser war es, unter freiem Himmel zu übernachten, erlegtes Wild, Früchte und andere Dinge zu essen, die der Wald hergab. Erst in der Kaiserstadt angekommen, wagten es die Reisenden eine Herberge aufzusuchen. Sie gönnten sich ein einfaches, aber schmackhaftes Mahl und mieteten ein Zimmer mit drei Betten – dem Hauptmann und dem Barbaren machte es nichts aus auf dem Boden zu schlafen.

Königin Prenia, die an solche Unbequemlichkeiten nicht gewohnt war, hielt sich tapfer. Nie beschwerte sie sich über ihre Lage, im Gegensatz zu dem Magier, der ständig etwas auszusetzen hatte. Er vermisste das luxuriöse Leben im Palast, dachte längst nicht mehr an die mageren Lehrjahre, in denen er bei seinem Meister auf einem Heuhaufen hatte schlafen müssen.

Murrend und jammernd schloss Reinar seine Augen und begann keine Minute später damit, lautstark zu schnarchen. Den anderen fiel es nicht so leicht, denn schwere Gedanken kreisten in ihren Köpfen. Prenia fürchtete die Entscheidung des Tribunals, dachte daran was geschehen würde, wenn ihr niemand Glauben schenken sollte. Hauptmann Vanri sorgte sich um seine Königin, die er wie eine Tochter liebte und Syrs Sorgen richteten sich auf ihr späteres Leben. Sie fühlte sich zu jung, um in Gefangenschaft zu sterben. Gleichzeitig durfte sie aber nicht einfach ihre Königin und den Hauptmann verlassen, das käme einem Verrat an ihrer Kriegerseele gleich.

Allein Ardo blieb unbekümmert. Für ihn stellte die Reise nur ein weiteres Abenteuer seit dem Beginn einer langen Wanderschaft dar. Er hatte seinen Stamm verlassen, um in der Welt das Glück zu finden. Ein Leben als sesshafter Handwerker oder Stammeskrieger hätte ihn mürbegemacht. So viele Länder gab es zu erkunden, so viele fremde Kulturen zu erleben. Sein vorbestimmtes Schicksal war das eines fahrenden Kriegers, ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, sich einen Platz in den jenseitigen Schwerthallen zu verdienen, Seite an Seite mit Göttern und Ahnen.

Da er noch keine Müdigkeit empfand, hatte der Barbar bereitwillig die erste Wache übernommen. Er wunderte sich etwas darüber, dass die anderen nicht schliefen. Wussten sie denn nicht, wie wichtig Erholung war?

Trotz seines kurzen Streits mit Vanri schätzte er den Hauptmann. Ardo wusste, dass der alte Soldat kein leichter Gegner sein würde, sollten sie sich einmal duellieren müssen. Doch daran dachte er nicht. Dieser kleine Streit mit dem Nordmann mochte heftig auf die anderen gewirkt haben, aber in Ardos Heimat galten solche Drohgebärden zum guten Ton. Man war daraufhin nicht gleich verfeindet. Lief es gut, wurde im Anschluss gezecht. Lief es schlechter, kam es zu einem Kampf und standen die Dinge sehr übel, verließ nur einer lebend die Auseinandersetzung.

Viel interessanter fand der Barbar die wunderschöne Kriegerin Syr. Eine Frau mit dem Talent zu töten, so wie es sich gehörte. Ihre Lederrüstung ließ genügend Haut frei, um Ardos Blut in Wallung zu bringen, und jede ihrer Bewegungen verschafften ihm das Gefühl, in ihr eine wahrhaftige Begleiterin gefunden zu haben.

Sie war jung, doch nicht unerfahren in Schlachten, wie es dem Barbaren schien. Vier Narben hatte er bisher an ihr entdeckt. Frühere Schnittverletzungen von einer Schwert- oder Axtklinge am rechten Oberschenkel, dem linken Ober- und Unterarm. Und dann noch die Verletzung eines Pfeils, der einmal ihre linke Wade durchbohrt haben musste. Dabei war die tapfere Frau gerade erst dem Mädchenalter entwachsen, vermutlich nicht älter als Königin Prenia.

Ardo dachte daran, dass sie wohl während der Rebellion an der Seite ihres Hauptmanns gefochten hatte, denn einen anderen Krieg konnte sie nicht erlebt haben. Wenn all ihre Narben aus dieser Zeit vor etwa einem Jahr stammten – länger hatten die Rebellengefechte nicht angedauert, das wusste der Barbar aus vielen Erzählungen –, durfte sich Syr wirklich mutig und verwegen nennen. Nicht viele Mädchen hätten trotz der Verwundungen weitergemacht und sich noch größeren Gefahren ausgesetzt. Zumindest keine Frauen in dieser Gegend, in deren Venen nicht das Blut der Stammeskriegerinnen floss, wie Ardo sie kannte.

Hier galt es mehr, sich auf zivilisierte Dinge zu konzentrieren. Auf andere Künste als die Kunst der Klingenarbeit.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete Ardo heimlich die nun schlummernde Syr. Sobald er dazu bereit war weiterzuziehen, würde er sie fragen, ob sie ihn begleiten wollte. Zwar standen die Chancen gering, denn das Mädchen war ihrer Königin sicherlich treu ergeben, doch war eine Frage nicht verboten. Sollte sie ablehnen, ergab sich möglicherweise zumindest die Gelegenheit, mit ihr einige atemberaubende Nächte zu verbringen.

Im Flur vor ihrem Zimmer wurde plötzliches Poltern laut, das den Barbaren auf die Füße springen ließ. In der Hand hielt er seinen Langdolch, denn die Axt wäre in dem beengenden Raum hinderlich. Auch Hauptmann Vanri und Syr hatten das Geräusch gehört und standen sofort mit ihren Waffen bereit.

In ihrem Bett richtete sich Prenia auf, doch Vanri bedeutete ihr, nicht aufzustehen. Die Königin gehorchte.

Schritte näherten sich. Nur eine Person, die gar nicht erst versuchte leise zu sein. Dann das knarrende Öffnen der alten Tür, und einen Wimpernschlag später hatte Ardo bereits den Eindringling am Kragen gepackt, zog ihn ins Zimmer, dabei den Dolch hoch erhoben. Kreidebleich ließ der hagere Wirt seine Kerze zu Boden fallen, wobei die Flamme noch im Fall erlosch. Mondlicht schien auf ein Gesicht, das blankes Entsetzen und Todesangst widerspiegelte.

»Was soll das, Mann? Glaubst du etwa, du könntest die Leibgarde der Königin so plump überraschen?«

Zwar sprach der Hauptmann gedämpft, um nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen, aber die Worte kamen hart über seine Lippen.

»Nein, nein«, wimmerte der Wirt, dessen Augen mehr nach den drei Klingen Ausschau hielten, statt dass sie die Leute betrachteten, die sich um ihn herum versammelt hatten.

»Bitte, tut mir nichts, wartet! Ich komme nicht in böser Absicht … im Gegenteil …«

Ardo hielt ihn immer noch fest, zog ihn nun jedoch näher an sich heran: »Was faselst du da? Was hast du mitten in der Nacht hier herumzuschleichen? Ich sollte dich einfach aufschlitzen, du Hund!«

»Lasst ihn!«

Hauptmann Vanri und der Barbar schauten zu Syr, die ansonsten immer schweigsam gewesen war. Nun hatte sie zu den Männern im Befehlston gesprochen.

»Wenn er gekommen wäre, uns zu schaden, hätte er nicht solchen Lärm gemacht. Zumindest hätte er versucht, sich anzuschleichen. Es muss einen anderen Grund geben, hier einzudringen, als den, die Königin ausliefern zu wollen.«

Damit lag die junge Kriegerin gar nicht so falsch, dachten sich Vanri und Ardo, aber sie behielten diese Erkenntnis für sich. Stattdessen wandte sich der Hauptmann seiner Untergebenen zu und meinte: »Sprich, Soldatin. Was sollen wir deiner Meinung nach tun? Und wage es nicht noch einmal, mir Befehle zu erteilen.«

»Verzeiht, Hauptmann«, sprach Syr und machte eine knappe Verbeugung. »Es war nicht meine Absicht die Autorität an mich zu reißen, doch glaube ich, dass der Wirt etwas mitzuteilen hat. Schließt die Tür und lasst uns seine Worte hören.«

Königin Prenia erhob sich von ihrem Bett und schritt an die Seite der Kriegerin: »Sie hat recht. Lasst ihn los und er kann uns sein Kommen erklären.«

Widerwillig ließ Ardo von dem Wirt ab und verriegelte anschließend die Tür. Ein ungebetener Gast war momentan genug, selbst wenn dieser keine wirkliche Bedrohung darstellte.

Dankbar ließ sich der Wirt auf einen Stuhl fallen. Allmählich gewann er wieder etwas Farbe.

»Bei den Göttern, Ihr glaubt nicht, welchen Schrecken ich gerade empfand. Ich will doch nichts Übles, ich will Euch warnen, Königin.«

»Du weißt, wer ich bin?«, fragte Prenia. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass es hier kaum jemanden geben würde, der das Gesicht der Königin aus Kaalen kannte. Wie auch? Prenia hatte darauf verzichtet, auf Münzen abgebildet zu werden oder in sonstiger Weise durch Bildnisse auf sich aufmerksam zu machen. Es gab nur eine Statue in der großen Ahnenhalle, aber die wurde für jeden neuen König bei Amtsantritt angefertigt. Ein guter Herrscher sollte durch seine Taten allgegenwärtig sein und überzeugen, nicht durch Abbildungen im Gedächtnis des Volkes bleiben.

»Ich habe einen Bruder in Kaalen«, erzählte der Wirt weiter. »Er hat mir Euer Aussehen genau beschrieben und mir die Nachricht zukommen lassen, dass ich auf Euch achtgeben soll, wenn Ihr in die Kaiserstadt kommt. Zum Glück habt Ihr dieses Gasthaus gewählt und nicht das viel besser eingerichtete Haus in der Innenstadt.«

»Wir wollten Aufmerksamkeit vermeiden. Aber sage mir, bedeutet es etwa, dass mir noch Untertanen die Treue halten?«

»Mehr als Ihr denkt, Majestät. Aber sie fürchten sich, sind keine Krieger und können gegen ausgebildete Söldner nicht bestehen. Sie helfen Euch im Verborgenen, lassen – soweit es ihnen möglich ist – einige Beziehungen zur Kaiserstadt spielen. Hier wohnen viele Leute, die Verwandte in Kaalen haben.«

Mit einem Mal fühlte sich die entmachtete Königin nicht mehr ganz so allein und verraten von ihrem Volk. Sie verstand natürlich, dass Menschen, die nie eine Waffe in der Hand gehabt hatten, keine guten Krieger abgaben und sich um das Leben ihrer Familien und ihr eigenes sorgten.

Um Krelios zu vertreiben, brauchte sie die Unterstützung des Kaisers, eine Streitmacht, keine einfachen Bürger. Mit Mistgabeln und Dreschflegeln kam niemand ernsthaft gegen gut gerüstete Soldaten an.

Endlich erwachte auch Reinar aus seinem festen Schlaf, beschwerte sich zuerst und blickte dann fragend seine Königin an, als er den Grund der Unruhe sah.

»Was ist hier vorgefallen?«

»Kein Grund zur Sorge, Magister. Dieser brave Mann wollte mich warnen, aber wir haben ihn noch nicht zu Ende angehört.« Zu dem Wirt gewandt meinte Prenia: »Dann sag uns, was dich in der Dunkelheit hierher geführt hat. Meine Leute und ich werden dir aufmerksam zuhören.«

Ohne weitere Umschweife kam er direkt auf den Grund seines Besuchs zu sprechen: »Königin, das Tribunal wird in zwei Tagen zusammenfinden, und wenn Ihr dort erscheint, warten bereits Krelios’ Leute auf Euch. Er macht gemeinsame Sache mit vier anderen Königen. König Nikas von Oliana und der Kaiser sind verschwunden. Niemand weiß, wo sie sich aufhalten, ob sie vielleicht gefangen gehalten werden. Man erfährt es natürlich nicht öffentlich, aber gerade wir Wirte haben unsere Quellen. Ihr dürft nicht einfach so in den Kaiserpalast spazieren und Euch sorglos geben.«

Den anderen gegenüber behielt Prenia ihre äußere Fassung, doch in ihrem Innern brach eine Welt zusammen. Die letzte Bastion schien verloren, die letzte Möglichkeit, Gerechtigkeit zu erfahren. Wer hätte damit rechnen können, dass Krelios selbst andere Königreiche so erfolgreich korrumpiert hatte? Nun, im Grunde wäre es durchaus von Anfang an denkbar gewesen, dass er in seinem Streben nach Macht sogar den Kaiserthron ins Auge gefasst hatte. War Gier erst einmal zu einer Lebenseinstellung geworden, konnte sie sich gleich einer Seuche ausbreiten.

Natürlich bestand die Möglichkeit, dass sich jeder der Könige als künftiger Imperator sah und die alte kaiserliche Linie durch seine eigene ersetzen wollte. Dann hätte Krelios kein allzu leichtes Spiel, aber das half Prenia nicht weiter. Sie konnte sich nicht vorstellen, alle gegeneinander aufzuhetzen. Dazu fehlte ihr die das Böse im Herzen.

Sie entließ den Wirt und dankte ihm mit vier Goldstücken und einem Rubin. Doch der Mann lehnte ab. Er versicherte ihr, dass er keinen Nutzen aus ihrer schlimmen Lage ziehen wollte und ging.

Wieder allein mit ihren Getreuen fragte Prenia, was sie nun tun sollten.

»Den Palast stürmen, den Kaiser und König Nikas befreien und alle Verräter sofort an Ort und Stelle töten«, schlug Ardo vor.

Ein Lachen entfuhr Vanri, ein bitteres Lachen: »Das sieht dem Barbaren ähnlich. Nur nicht nachdenken und planen, einfach die Axt nehmen und ins Verderben rennen. Wir haben es hier mit mehr als ein paar Kriegern zu tun. Wir müssten gegen eine Armee antreten … zu viert, Mann.«

»Wir sind fünf«, warf Ardo ein.

»Den Magier dürfen wir nicht mitrechnen. Nehmt es mir nicht übel, Magister, aber Ihr wärt im offenen Kampf keine wirkliche Bereicherung.«

Still hörte sich Reinar die Worte des Hauptmanns an, die ihn zwar ungewollt beleidigten, doch trotz allem nicht einmal von dem Magister selbst geleugnet werden konnten. Aus dem Hintergrund konnte er agieren, dann war seine Macht von unschätzbarem Wert, an vorderster Front wäre er verloren. Ein Pfeil, eine Konzentrationsschwäche und schon misslang beinahe jeder Zauber. Hätte sich Reinar damals für die Schule der Kampfmagier entschieden, sähe die Sache anders aus, aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, einen anderen Weg als den der Politik und Diplomatie einzuschlagen.

»Vielleicht hätte ich eine Idee.«

Zum zweiten Mal in dieser Nacht richtete sich alle Aufmerksamkeit auf Syr, die einen Plan vortrug, der mehr als riskant klang. Dennoch bot er wohl die einzige Möglichkeit. Prenia vermutete sogar, dass die anderen Könige gar nichts von einer Gefangennahme des Kaisers und König Nikas’ wussten, wenn beide überhaupt noch am Leben waren. Meisterhafte Lügen konnte Krelios seit jeher zielsicher verbreiten und er war durchaus überzeugend.

Als am übernächsten Tag die Sonne hoch am Himmel stand, führten ein Barbar und eine Barbarin zwei in Ketten gelegte Gefangene zum kaiserlichen Palast. Die Wache am Tor meldete den Besuch und kurze Zeit später wurden die Ankömmlinge eingelassen. Zwei bewaffnete Soldaten der kaiserlichen Armee führten sie in den Ratssaal, in dem alle Könige des Kaiserreichs versammelt waren. Alle, bis auf Nikas und der Kaiser selbst.

Den Vorsitz hatte wider Erwarten nicht Krelios übernommen, sondern König Eskel aus Noor. Der alte Kämpfer mit dem eisengrauen Bart und dem kahlen Haupt nahm die Kette aus Ardos Hand und führte Prenia zu den anderen Königen, die einen Halbkreis bildeten.

Er befahl der jungen Frau stehen zu bleiben. Danach richtete er seine Stimme an den Rat: »Majestäten, hier ist also das verräterische, tyrannische Weib, das ihr Land so lange unterjocht hatte, bis Krelios’ Mut die Bürger befreite. Sollen wir sie anhören?«

Gekrönte Häupter verneinten wortlos die gestellte Frage. Bereits vor Prenias Eintreffen war der Urteilsspruch gefällt worden, ohne ihr das Recht zur Verteidigung einzuräumen. In ihrem Bauch rumorte es, der betrogenen Königin wurde schlecht, aber sie musste sich an den Plan halten. Also forderte sie mit fester Stimme: »Ist das die Art, wie ein ordentliches Tribunal Recht spricht? Wo ist der Kaiser, wo ist der letzte König?«

»Der Kaiser«, mischte sich Krelios ein, der sein gemeines Grinsen gar nicht verbergen wollte, »ist auf Reisen, Frau. Und König Nikas mag sonst wo stecken, auf ihn war noch nie viel Verlass. Er war dem Rat schon so oft ferngeblieben … was macht da ein weiteres Mal schon aus?«

Hauptmann Vanri schwellte die Brust. Seine Worte hallten von den Wänden wider und ließen selbst die Könige in Ehrfurcht lauschen: »Ihr Majestäten, warum wird einem Verräter Vertrauen geschenkt? Was hat Krelios erzählt, dass der jungen Königin Prenia kein Gehör geschenkt wird?«

»Sie ist eine Ketzerin«, rief einer. »Schwarze Magie beherrscht diese Hexe«, brüllte ein anderer. Dann schimpften alle durcheinander, beschuldigten die Königin grauenvoller Taten, die sie nie begangen hatte, und wollten dafür sogar Beweise vorbringen können. Beweise, die allein Krelios ihnen beschaffen konnte, Zeugen, die nur Krelios benennen und vortreten lassen konnte. Sie bemerkten nicht, dass ihr gesamtes Urteil im Grunde nur auf Krelios’ Wirken hin gefällt worden war. Er hatte ihnen etwas vorgegaukelt, sie mit Fälschungen hinters Licht geführt und natürlich glaubten sie ihm, denn Prenia hatte man schon seit dem Tod ihres Vaters nicht für regierungsfähig gehalten.

Die Herrschaft im Kaiserreich war eine Männerdomäne, zumindest in der Stellung des Königs. Alle anderen Adelstitel konnten problemlos auch von Frauen getragen werden, doch die Staatsgeschäfte eines ganzen Landes gehörten in Männerhände.

»Ihr macht einen Fehler«, sagte Prenia, aber ihre Stimme brach, so sehr sie sich auch um Standhaftigkeit bemühte. Am Ende hatte sie doch die Angst vor dem überkommen, was ihr bevorstand. Vor den schrecklichen Qualen, wenn Syrs Plan scheiterte.

Endlich trat Ardo vor. Nun würde er zum Angriff übergehen, den Tyrannen überraschen und ihn festhalten. Dann sollte sich zeigen, was Krelios das eigene Leben wert war. Sie brauchten ein Geständnis, mussten wissen, wo zumindest der Kaiser gefangen gehalten wurde. Erfuhren erst die anderen Könige von der Schandtat, standen die Chancen wieder besser.

Doch Ardo löste nicht seine Axt, er lächelte nur und sagte: »König Krelios, ich habe keinen Streit mit Euch und den anderen Königen. Mir ist es auch gleich, was hier gespielt wird, denn Politik ist nicht für mich bestimmt. Königin Prenia gab ich mein Wort, sie sicher zur Kaiserstadt zu führen. Ich schwor ihr Treue. Nun, hier ist sie und meine Arbeit ist getan. Nun ersuche ich Euch, mir die Gefangennahme zu bezahlen und ich werde meiner Wege ziehen.«

»Du verfluchter Hund!«, schrie der Hauptmann und riss an seinen Fesseln. »Du Verräter, du barbarischer …«

Ardo wandte sich ihm zu und lächelte weiter: »Ich habe mein Wort gehalten, Hauptmann. Nie habe ich ewige Treue geschworen. Ein Wanderer tauscht sein freies Leben nicht gegen Sesshaftigkeit. Ihr solltet es nicht persönlich nehmen.«

Keuchend ging Prenia in die Knie, sie war bleich wie Kreide. Was sie gerade erlebte, konnte doch nicht wirklich geschehen. Sie hatte dem Barbaren vertraut, hatte begonnen, ihn sogar als ehrenvoll zu sehen. Wie wenig wusste sie doch um das Ehrgefühl von Wilden. Sie folgten ihrem eigenen Kodex, der nicht unbedingt mit der allgemeinen Auffassung von Ehre übereinstimmen musste.

Krelios lachte laut auf, ging zu dem Barbaren und schlug ihm freundschaftlich auf die muskulöse Schulter. »Das nenne ich Geschäftssinn. Nun, Ihr habt meine Männer getötet, aber ich muss Euren Mut bewundern – und auch die Unverschämtheit, mich jetzt auch noch um eine Belohnung zu bitten. Aber es soll Euch gewährt werden. Ein mit Edelsteinen gefülltes Säcklein sollte Eure … Umstände wohl ausgleichen.«

Der Tyrann nahm einen der Beutel von seinem Gürtel und reichte ihn dem Barbaren.

Fröhlich prüfte Ardo das Gewicht, löste den Lederriemen und ließ einige der Edelsteine in seine Hand fallen. Er liebte ihre kalten, glatten Flächen, das Geräusch, das sie machten, wurden sie gegeneinander geschlagen. Er nickte Krelios dankend zu und verabschiedete sich mit einer leichten Verbeugung. Dann trat der Barbar zu Syr und sagte ihr, dass es an der Zeit zum Aufbruch sei.

Die Kriegerin folgte ihm, ohne sich noch einmal nach ihrem Hauptmann und ihrer Königin umzudrehen. Als Hauptmann Vanri diesen Verrat in seiner ganzen Ungeheuerlichkeit mit eigenen Augen sah, gebot ihm endlich auch der Verstand, dies alles anzunehmen. Nicht länger durfte er hoffen, leugnen oder sich fragen, wie es denn sein konnte, dass ein Mädchen, das er stets besser behandelt hatte als eine gewöhnliche Soldatin, ihn auf eine derart schändliche Weise hintergehen konnte.

Zwischen Syr und dem Barbaren mochte es eine Verbindung geben, denn auch ihre Eltern hatten den Stämmen angehört, doch sie war in der Burg aufgewachsen, umgeben von einer großen Stadt. Was wusste denn dieses dumme Kind von dem Leben dort draußen wirklich? Alte Geschichten? Vanri hatte sie klüger eingeschätzt – und ehrenvoller. Wortlos wünschte er ihr tausend Tode, von denen einer grausamer als der andere sein möge.

Dann brach sein Blick und er wusste, dass er und Prenia diese Mauern nicht mehr lebend verlassen würden.

Weit vor den Toren der Stadt – beide wollten nicht in Krelios’ Nähe verweilen, der schneller seine Meinung ändern konnte als eine Schlange – blieb Syr eine Weile ruhig auf ihrem Pferd sitzen und schaute in die Ferne.

»Was siehst du?«, fragte Ardo, der sich nicht vorstellen konnte, wie ein Mensch einfach nur für einen Augenblick die grenzenlose Freiheit schmecken wollte, die nun vor ihm lag. Syr blickte ihn mit ihren klaren Augen an und schwieg, so wie sie es oft tat.

»Du wirst mir ja eine langweilige Begleiterin sein, Frau. Aber sei es drum, du verstehst zu kämpfen und vielleicht wirst du uns eines Tages sogar starke Söhne und Töchter gebären. Wir werden …«

Weitere Worte konnte Ardo nicht aus seinem Mund lassen, denn nun sprudelte roter Saft über seine Lippen, hervorgerufen durch den langen Dolch in seiner Kehle. Er hatte Syrs Bewegung nicht bemerkt, hatte es nicht kommen sehen, trotz seines angeborenen Instinktes für Gefahr.

Erstarrt in seiner Überraschung glitt der Leib des Barbaren vom Pferd und landete hart auf dem Boden.

Gleich darauf trat Magister Reinar aus den Schatten einer nahe gelegenen Gruppe kleinerer Felsen. Sein Gewand war aus schlichter Wolle gefertigt, grau und ohne jede Spur der feinen Roben, die er ansonsten immer zur Schau gestellt hatte. Auch die Amulette und Ringe seines Amtes fehlten. So schmucklos glich er mehr einem Bettelmönch als einem Meister der Magie oder einem Diplomaten.

Ohne den Toten eines Blickes zu würdigen, erklomm der Magister das Pferd des Barbaren, wandte sich an Syr und fragte: »Wie geht es dir?«

»Nun, ich mache mir Vorwürfe und zweifele an der Richtigkeit unseres Handelns.«

Reinar nickte, drehte seinen Kopf Richtung Kaiserstadt: »Das spricht für dich, Syr. Ich nehme an, Ardo wurde für seinen Verrat bezahlt?«

Die Kriegerin nickte.

»Nun, das dachte ich mir. Wir lassen ihm seinen kleinen Schatz, denn es klebt der Gestank der Schlechtigkeit daran. Barbaren wie er sind nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Du darfst dir aber keine Vorwürfe machen, denn du musstest es tun – der Erneuerung Willen. Die alte Zeit neigt sich ihrem Ende entgegen und nur aus der Asche des Alten kann Neues durch gesundes Wachstum entstehen.«

Zwar hörte Syr die Worte des alten Mannes, aber es fiel ihr schwer, daran zu glauben.

»Prenia und Vanri werden nicht leiden«, versprach der Magier. »Das Gift dürfte bereits gewirkt haben, und wie du siehst, ist auch schon mein Zauber im Gange.«

Sein knochiger Finger wies zu einer rötlichen Wolkendecke, die sich direkt über der Kaiserstadt befand und aus der es zu regnen begann. Kein Wasser, es waren unförmige Feuerkugeln, in der Größe von Rindern, die sich über Häuser und Straßenzüge ergossen. Vor der Stadt wuchsen flammende Wirbelstürme aus dem Boden, die sich unaufhaltsam auf die Mauern zubewegten und jede Flucht unmöglich machten.

»… all die Unschuldigen …«

Syr sah den fernen Feuerschein und senkte ihren Blick.

»Ja«, stimmte Reinar zu, »es sind immer die Unschuldigen, die für zum Erreichen des großen Ziels Ungerechtigkeit erfahren müssen. Aber denke immer daran, dass es so nicht weitergehen konnte. All die alten Gesetze, unsinnigen Gebote, die aus längst vergessenen Zeitaltern entstammten. Sie werden mit dem Kaiserreich untergehen und irgendwann wird ein neues Imperium entstehen. Modern, offen. Kriege werden kommen und die Machtfrage klären, neue Königreiche werden sich festigen.«

»Aber … hätte Königin Prenia nicht auch zu diesen neuen …«

Der Magier unterbrach Syr: »Nein, sie war dem Alten verpflichtet. Jugend hat nichts zu bedeuten. Sie war gerecht, vielleicht zu gütig, aber sie war auch in ihren Ansichten ebenso verstaubt wie alle anderen Könige des Imperiums oder der Kaiser selbst. Krelios wäre sogar noch schlimmer gewesen, denn er hatte uralte Gesetze wiederentdeckt, sinnentleerte Sittengeflechte aus dem Staub gehoben, die aus gutem Grund nicht mehr gebraucht worden waren. Aber dort, in der prächtigsten Stadt des Imperiums, wird nun alles ein Ende finden.«

Syr wendete ihr Pferd und trieb es zum Galopp an. Zurück blieb Magister Reinar, der ihr noch eine Weile nachschaute und sich dann ebenfalls auf den Weg machte. Hinter ihm brannte die Kaiserstadt, vor ihm lag ein Leben unter seinen Brüdern und Schwestern des Ordens, der sich in einem Land außerhalb des Imperiums befand. Dort würde er die Geschehnisse aus der Ferne mitverfolgen, würde dafür sorgen, dass man Prenia und Vanri als Helden verehrte und sie für ihr großes Opfer pries.

Krelios hatte mit dem Tribunal bewiesen, dass fast alle Könige korrupt waren, dass sie sich leicht täuschen ließen und somit eine Gefahr für jede moderne Zivilisation darstellten. All das verschwand in einem Flammenmeer.

Und Syr? Sie würde ihren Weg finden. Vielleicht als Söldnerin, vielleicht als Heldin – wer konnte das schon sagen?

Am Ende zählte nur, dass sie ihre Aufgabe bei der Erneuerung erfüllt und nun ein freies Leben mit anderen Erfahrungen vor sich hatte. Frei von dem Gestank des Alten.

(ssp)