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Die Martinsgans

Die Martinsgans

I

Bessi war eine wunderschöne junge Frau. Sie verdrehte überall, wohin sie kam, den Männern den Kopf, obwohl sie dies gar nicht wollte, denn sie liebte ihren Mann, den jungen und hübschen Dorflehrer Monon, über alles und war ihm treu.

Eines Tages, es war um die Zeit, als sich die ersten Blätter an den Bäumen verfärbten, kam ein älterer Mann in Bessis Dorf an und nahm dort Quartier. Bessi und ihre Freundinnen hielten sich just zur selben Zeit, als der Mann den Wirt um ein gutes Abendbrot und ein Bett für die Nacht bat, in der Schankstube auf. Sie waren mit der Wirtin befreundet und wollten besprechen, wie und wann sie am nächsten Tag im Backhaus das Brot für die nächsten Tage backen würden.

Dem Fremden fiel Bessi unter all den Frauen sofort ins Auge, denn sie war die Anmutigste unter ihnen und hatte zudem ein fröhliches und nettes Wesen, was dem Betrachter nicht entgehen konnte.

Der Fremde ließ Bessi vom Wirt zu sich an den Tisch bitten.

»Wer seid Ihr, und was wollt Ihr von mir?«, fragte die Schöne den Fremdling, als sie an seinem Tisch Platz genommen hatte.

»Mein Name ist Nunos«, erwiderte dieser. »Ich bin Kaufmann und außerdem in den hohen Künsten der Magie sehr bewandert. Ich habe dich an meinen Tisch bitten lassen, weil du mir ausgesprochen gut gefällst. Ich wollte ein wenig mit dir plaudern, um dich näher kennenzulernen.«

»Gebt Euch keine Mühe, Herr!«, sagte die Schöne, und ihr Gesicht wurde ernst. »Ich bin die Ehefrau des Dorflehrers und keineswegs noch zu haben. Ihr müsst Euch schon nach einer anderen Frau umsehen, die Ihr lieben könnt.«

»Habe ich denn gar keine Chance bei dir?«, fragte Nunos hartnäckig. »Kann kein Mann, auch wenn er noch so großartig ist, mit dem deinen konkurrieren?«

»Ihr sagt es!«, entgegnete Bessi ernst. »Und nun lasst mich in Ruhe! Ich möchte nicht weiter behelligt werden!«

Mit diesen Worten verließ sie den Tisch des Nunos und setzte sich wieder zu ihren Freundinnen, um mit diesen weiter über den kommenden Backtag zu reden.

II

»Ich werde dich schon noch bekommen, schönes Kind!«, sagte Nunos zu sich selbst, während er die Schankstube verließ und die Treppe zu seinem Zimmer im oberen Stockwerk emporstieg.

Oben zog er seinen weiten schwarzen Mantel mit der Kapuze an, die er sich tief über das Gesicht stülpte. Dann verließ er das Wirtshaus durch den Hintereingang, um Bessi auf dem Heimweg aufzulauern. Als er sich gerade in einem dunklen Hauseingang versteckt hatte, kam Bessi allein des Weges. Kaum war sie an ihm vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken, da trat er hervor und fasste sie von hinten fest an der Schulter. Sie schrie und drehte sich um. Da versuchte Nunos, der sie noch immer festhielt, sie zu küssen. Sie aber gab ihm einen Tritt vor das Schienbein und riss sich los. Dann lief sie schreiend fort.

Als Nunos den ersten Schreck überwunden hatte, wurde er zornig, so zornig, wie er es selten war. Im Nu richtete er seinen rechten Zeigefinger auf die Schöne und sprach laut: »Virtus mulus pregos cox, lullus tremos faltos nox.«

Im selben Moment wurde Bessi zu einer jungen Gans. Niemand aber hatte beobachtet, was auf der Dorfstraße vorgefallen war.

Nunos fing das Tier ein und nahm es mit zum Gasthof, in dem er logierte. Er sagte dem Wirt, er habe die Gans bei einem Bauern billig eingekauft und wolle sie mit nach Hause nehmen, um einen schönen Martinsbraten zu haben. Er bat ihn, das Tier in seinem Stall zu beherbergen, bis er am nächsten Morgen abreisen und es mitnehmen werde.

III

Nunos war mitsamt der Gans nach Hause zurückgekehrt. Dort hatte er das Tier seinem Stallmeister Brandes übergeben, der sich sonst um die Pferde kümmerte, die der ganze Stolz seines Herrn waren.

Am Abend vor dem Martinstag befahl der Hausherr seinen Küchenchef zu sich. Dieser verneigte sich tief vor seinem Herrn, der im Salon seines Herrenhauses am Tisch saß und auf ihn wartete.

»Herr, was begehrt Ihr?«, fragte der Koch, der den Namen Mex trug.

»Mein lieber Mex«, antwortete Nunos. »Morgen ist, wie du weißt, der Tag des Heiligen Martin. An einem solchen Tag isst man überall Gänsebraten. Ich habe vor einiger Zeit von einer Reise eine fette Gans mitgebracht und sie Brandes übergeben, der sich um sie kümmern sollte. Nun aber sollst du dir von ihm dieses Tier holen, es schlachten und mir am morgigen Mittag zum Essen servieren. Hast du mich verstanden?«

»Sehr wohl, Herr!«, gab Mex zur Antwort und beeilte sich, zu tun, was sein Herr ihm befohlen hatte.

Am nächsten Mittag trug der Küchenchef dem Hausherrn dann einen saftigen Braten von der Gans auf, die einst die junge und schöne Bessi gewesen war, und Nunos ließ ihn sich schmecken.

IV

Just zur selben Zeit, als Nunos seine Martinsgans verzehrte, betrat Monon, der Mann der schönen Bessi, die Kapelle zur Heiligen Josefa, die auf dem Berg Nefas ganz in der Nähe seines Dorfes gelegen war. Der alte Bano, der älteste Mann des Nachbardorfes, hatte ihm gesagt, wenn er seine Frau Bessi, die er nun schon seit über einem Monat suchte, wiederhaben wolle, dann müsse er diese Kapelle aufsuchen. Auf dem Altar liege das Buch der Wünsche. Dort hinein müsse er sein Anliegen schreiben und dann das Buch zuklappen. Die Heilige Josefa werde ihm dann schon mitteilen, was er tun müsse, um Bessi wiederzubekommen.

»Das da muss das Buch der Wünsche sein!«, sagte Monon zu sich, nachdem er ins Innere der Kapelle getreten war.

Auf dem Altar lag aufgeschlagen ein dickes, in Leder gebundenes Buch. Als er näher trat und es in die Hand nahm, bemerkte er, dass das Buch lauter leere Seiten hatte. Er tat, was der alte Bano verlangt hatte, und schrieb auf die erste leere Seite die Bitte, man möge ihm mitteilen, wie er Bessi wiederbekommen könne. Dann klappte er das Buch zu, wartete zwei Minuten und klappte es dann an derselben Stelle wieder auf. Dort aber, wo sich seine Schrift zuvor befunden hatte, war nun wieder ein völlig leeres Blatt zu sehen. Monon war erstaunt. Schließlich klappte er das Buch wieder zu und wartete in der Kapelle auf die Antwort der Heiligen Josefa. Aber es geschah nichts!

Endlich ging er erneut zum Buch der Wünsche, das er wieder auf den Altar zurückgelegt hatte. Während er noch nachsann, ob ihm die Heilige antworten werde, und wenn ja, wie sie dies wohl täte, öffnete er ganz in Gedanken das Buch erneut an der Stelle, an welcher er seine Bitte hineingeschrieben hatte. Da aber war er plötzlich hellwach. Auf dem zuvor leeren Blatt stand nun in einer ihm fremden Schrift das Folgende geschrieben:

 

»Der böse Magier Nunos, der in einem großen Herrenhaus in Latia lebt, hat deine Frau in eine Gans verhext, weil sie ihm nicht zu Willen sein wollte. Diese Gans hat er heute als Martinsgans verzehrt. Du aber kannst deine Bessi gesund und munter wiederbekommen. Dazu musst du mit einer der Gänsefedern von ihrem Leib den Linien einer echten Unterschrift des Bösewichtes nachfahren, ohne dabei selber Tinte zu benutzen. Um an seine Unterschrift heranzukommen, kannst du ihm ein gutes Pferd verkaufen, denn er ist ein Pferdenarr. Den entsprechenden Vertrag wird er dir sicher unterschreiben.«

 

Kaum hatte Monon dies gelesen, da war die Schrift vor seinen Augen verschwunden. Er klappte das Buch wieder zu, legte es auf den Altar zurück und verließ eilig die Kapelle. Er wollte sofort tun, was ihm die Heilige Josefa geraten hatte.

V

Monon war klar, dass er sich beeilen musste. Er musste unbedingt eine Feder der Martinsgans stehlen, bevor der Koch die Küchenabfälle das nächste Mal beseitigte. Er reiste also in Windeseile zum Haus des Nunos in Latia. Zwei Tage später war er da.

Er fand die Küchenabfälle der Woche in einer Tonne hinter dem Haus. »Gott sei Dank!«, dachte er bei sich, als er dabei auch die Federn der Gans fand, die Mex gerupft hatte.

Er nahm eine der Federn an sich und kehrte erst einmal zu seinem Dorf zurück, um dort ein edles Pferd zu kaufen, das Nunos interessieren konnte. Eine Woche später kam er dann mit einem edlen Schimmel bei Nunos an und bot ihm diesen zum Kauf an. Nunos, der Monon nicht kannte und deshalb auch keinen Argwohn gegen ihn hegte, kaufte das schöne Tier und unterschrieb den entsprechenden Vertrag. Monon nahm das Geld in Empfang, dankte und verließ mit dem Vertrag in der Tasche das Haus des Magiers.

Zu Hause angekommen zog er die Gänsefeder hervor und fuhr damit den Linien der Unterschrift des Nunos nach, ohne Tinte zu benutzen. Kaum aber war er damit fertig, da tat es einen gewaltigen Donnerschlag, und die Unterschrift des Bösewichtes verwandelte sich in die Unterschrift Bessis.

Im Haus des Zauberers aber vollzog sich das Unfassbare: Nunos stieß einen lauten Schrei aus. Dann brach sein Bauch auf, und die Gans, die er am Martinstag gegessen hatte, stieg lebendig daraus hervor. Draußen schüttelte sie sich kräftig und verwandelte sich im selben Moment in die schöne Bessi zurück. Nunos verblutete innerhalb weniger Minuten an seiner großen Wunde und fuhr zur Hölle. Bessi aber kehrte zu ihrem lieben Mann zurück, der sie zu Hause überglücklich in die Arme nahm.

(hb)