Engelslieder
Ein Lied für den Wächter, schlafend im Stein.
Ein Lied für den Zorn, der wütend schreit.
Ein Lied für die Trauer, die das Herz zerreißt.
Ein Lied für die Sehnsucht, die nicht schweigt.
Ein Lied für die Liebe, die niemals weicht.
Ein Lied für den Abschied, wenn nichts sonst mehr bleibt.
Ein Lied für den Wächter, schlafend im Stein …
Das erste Lied wurde gesungen. Meine Augen haben sich geöffnet.
»Wie geht es dir mein Freund?« Ihre langen schwarzen Haare tanzen im Wind.
Meine steinernen Kiefer bewegen sich langsam: »Wie geht es euch?«
»Nicht gut.«
»Dann geht es mir auch nicht gut.«
Wir schweigen und sehen hinunter auf die Stadt.
Ich bewege vorsichtig meine Flügel, der Stein knirscht. Zu lange haben sich meine grauen Schwingen nicht mehr entfaltet.
»Was macht euer Herz?«
Eine Weile sagt sie nichts. Dann sieht sie mich an. In ihren goldenen Augen schimmern die regenbogenbunten Tränen, die nur Engel weinen können.
»Es ist gefangen.«
Ich sage nichts.
»Es wird brechen«, flüstert sie. Die Worte ertrinken fast in den Tränen, die ihre Wangen herunter laufen.
»Dann wird meins auch brechen.«
Ein Lied für den Zorn, der wütend schreit …
Die rauen Töne des zweiten Liedes tragen mich durch die Nacht, wie Wind, der unter meine Schwingen greift. Die Melodie scheint mein Gewicht nicht zu spüren.
Die Nacht verschluckt mich, und nur selten streifen die Sterne meine sandige Haut. Sie weichen hinter die Wolken, die ihr zorniges Lied begleiten.
In der Dunkelheit unter mir liegt die Stadt. Erhellt durch künstliches Licht, das aus den viereckigen Augen der Häuser scheint. In einem der Häuser wohnt der, der ihr Herz gefangen hält. Der es besitzt, ohne davon zu wissen. Der es brechen wird, weil er es nicht weiß. Und dem ich es entreißen muss, damit dies nicht geschieht.
Denn ich bin der Wächter des Engels – der Zorn, den sie empfindet, hallt in mir wieder – genau wie alle anderen Gefühle. Ich behüte sie – jage die Schatten fort. Doch manchmal kann ich es nicht verhindern, dass ein Schatten sie trifft. Es gibt Schatten, die verbergen sich im Sonnenlicht.
Und das, was als Liebe scheint, ist nur Illusion, die nicht erwidert wird.
In der Ferne sehe ich sein Haus. Kann die Liebe des Engels in der Luft spüren. Dort schlägt ihr Herz. »Engel sollten nicht lieben«, höre ich die Worte des allmächtigen Schöpfers in meiner Erinnerung.
Ich muss ihm recht geben und zugleich auch nicht. Die Liebe ist wie ein Dämon für die Engel, die von ihren Herzen Besitz ergreift, sie erheben, aber vor allem vernichten kann. Doch ohne die Liebe wären die Engel kein Licht für diese Welt. Und ohne das Licht der Engel herrschte eine so dunkle Nacht, dass selbst der Schöpfer sie nicht ertragen könnte.
Ihr Lied hebt an, ich werde schneller. Ihr Zorn treibt mich an, wütet in mir. Doch er wird sich nicht entladen.
Denn sie wird das dritte Lied anstimmen.
Ein Lied für die Trauer, die das Herz zerreißt …
Diese Stadt hat nur noch einen Engel. Die anderen haben den Tempel verlassen, schon vor langer Zeit. Mit ihnen gingen ihre Wächter.
Mein Engel ist der, den ich retten muss. Die Schläge meiner Schwingen werden langsamer und mein Herz wird schwerer. Es füllt sich mit der Traurigkeit ihres Liedes. Ich sinke, gleite hinab zu dem Haus, in dem ihr Herz schlägt.
»Warum liebt er mich nicht? Warum bricht er mein Herz? Warum hass ich ihn nicht?«, höre ich die Fragen, auf die es keine Antwort geben wird, in der Melodie.
Ich lande auf einem Fenstersims, schaue in eine kleine Kammer. Dort sitzt er. Er schreibt, wie es scheint einen Brief. Nur schleppend wachsen die Worte auf dem leeren Papier.
In ihm leuchtet hell ihr Herz, doch er bemerkt es nicht. Ich sehe in seine Erinnerung – sehe sie auf den Bildern, die achtlos beiseitegeschoben wurden. Sie schimmern im Licht der Engel, doch sie verblassen. Er denkt nicht an sie.
Ich suche mit den Gedanken sein Herz. Er hält es versteckt, dass es niemand sieht, niemand es findet. Seine Angst sticht in meine Nase, entlockt mir eine steinerne Träne. Doch ihn muss ich nicht retten, denn sein Herz bricht nicht. Doch ihres, das leuchtet, reißt Stück um Stück.
»Warum spürt er mich nicht?«, höre ich in ihrem Lied.
Ein Lied für die Sehnsucht, die nicht schweigt …
Das vierte Lied öffnet das Fenster, ich schwebe auf den leisen Tönen der Melodie hinein. Die Sehnsucht ist es, die in ihm klingt. Sie macht mich unsichtbar. Ich höre ihr Sehnen in den Noten. Sie wäre gerne hier. Würde gerne die Bilder lebendig werden lassen, die in seinem Herzen verblassen. Doch da ist die Angst ihn zu sehen und nicht beachtet zu werden, kein Wort zu empfangen – zu erfrieren, wie schon zuvor.
Er bemerkt mich nicht, hört nicht das leise Knirschen des Steins, aus dem ich bin und der in mir lebt.
Er sitzt da und schreibt weiter.
Ein Lied für die Liebe, die niemals weicht …
Das Lied der Sehnsucht verklingt, das der Liebe hebt an. Ich stimme ein. Lasse die Worte in das Zimmer schwirren, doch sie bleiben ungehört, die Farben, die sie tragen, ungesehen.
»Hört auf ihn zu lieben«, fleht mein Herz stumm, denn jetzt, wo ihres so nah ist, spüre ich mehr als zuvor, wie es schmerzt und bricht.
»Ich kann nicht«, antwortet mir die Melodie, doch das weiß ich längst. Wen ein Engel einmal liebt, den liebt er ewig, weil er in seinem Herzen bleibt.
Die Melodie wird schneller, und ich springe. Tauche unsichtbar in den Menschen hinein, greife nach ihrem Herz, das in ihm schlägt und bricht, weil er sein Pochen nicht spürt.
Als meine Faust sich schließt, verblasst das Licht und sein Selbst bleibt im Dunkeln. Hinter mir spüre ich die lebendige Mauer der Angst, die sein Herz umschließt. Eine zweite Träne verlässt mein Auge. »Die Angst«, denke ich, »ist der Menschen größter Feind, denn sie hält sie gefangen.«
Mein Blick fällt auf die Bilder, die sie in seinen Erinnerungen gemalt hat. Da stehen sie, an einer Ecke der Mauer. Ich lasse sie dort. Sie sind das Engelslicht, das er behalten muss. Das jeder Mensch bekommt. Das die Hoffnung ist, die ihn vielleicht doch eines Tages erkennen lässt und ihn befreit.
Ich sollte gehen. Und doch kann ich nicht anders, als meine Klauen in die Mauer seiner Angst zu graben, ein Stück herauszureißen und es wütend fortzuschmeißen. Meine Klauen erreichen sein Herz, fahren darüber hinweg. Risse entstehen. Sie werden ihn merken lassen, dass etwas fehlt. Es ist die Verzweiflung in ihrem ungehörten Liebeslied, die mich dazu treibt, obwohl ich weiß, dass seine Töne nicht nach Rache verlangen. Es ist mein Herz, das sie verlangt, weil es bricht, wie auch ihres es tut. Weil mein Herz fühlt, was ihres fühlt.
Ein Lied für den Abschied, wenn nichts sonst mehr bleibt.
Das letzte Lied meines Engels erklingt. Es zieht mich fort von ihm. Ich werde ihr Herz zu ihr zurücktragen. Aus meinem Auge rollt eine Träne, regenbogenbunt. Es ist ihr letztes Geschenk an ihn, ihr Abschied von ihm. Sie muss gehen, doch wird ihn nicht vergessen, das können Engel nicht. Aber er wird ihr Herz nicht mehr brechen.
Die Nacht hat mich wieder. Ich fliege zurück.
»Ist es vollbracht?«, fragt sie, als ich das Dach unseres Tempels erreiche. Ich reiche ihr Herz.
Ihre Stimme hebt an, wiederholt die Takte des letzten Liedes, das von Abschied erzählt, der keine Wiederkehr verspricht, denn die gibt es für Engelsherzen nicht.
All ihre Lieder sind gesungen.
Wir sitzen über den Dächern der Stadt. Mein Engel liegt in meinem steinernen Schoß. Ihre goldenen Augen spiegeln die Sterne des Himmels.
»Wie geht es dir mein Freund?«, fragt sie, wie sie es immer tut.
»Wie geht es euch?«
Sie lächelt.
»Besser.«
»Dann geht es mir auch besser.«
Sie streicht mit ihrer Hand über den Stein meiner Schwingen.
»Was macht euer Herz?«, erkundige ich mich.
»Es heilt.«
»Dann heilt meins auch.«
Wir schweigen. Unter uns braust der Verkehr der Stadt durch die Straßen, die von hier wie Schluchten wirken.
»Freund?«
Ich nicke, der Stein in meinem Nacken lässt ein leises Schmirgeln hören.
»Singst du mir dein Lied?«
Ich sehe, wie sie die Augen schließt. Ihre Lieder sind gesungen.
Mein Mund öffnet sich, und hinaus fliegt die Melodie, die der Hoffnung gewidmet ist – es ist das Lied für die Träume, die uns hinfort tragen werden. Die sie hinfort tragen werden. Die meine Augen schließen, bis sie wieder ihre Lieder singen wird und meine Augen sich öffnen werden, um sie zu retten.
(fs)