Rübezahl – Moderne Geschichten 4
Die Schilder, die Nägel und die Bäume
Durch den Wald auf dem Riesengebirge erklingt ein Hämmern und Klopfen. Schauen wir doch einmal hin, wer diesen Lärm macht. Auf einem Parkplatz parkt ein silbergrauer Skoda, zehn Meter davon entfernt steht ein kleiner Mann mit groben Schuhen, einer Jeans, einem roten Hemd und einer Jägerweste. Er nagelt gerade ein Holzschild an einen Baum. »Naturschutzgebiet« steht auf dem Schild, auf Tschechisch, Polnisch, Englisch, Französisch und Deutsch. Darunter ist ein Zeichen, das einen Tanklastwagen zeigt, der durchgestrichen wurde. Der kleine Mann ist gerade mit dem Nageln fertig geworden, tritt ein paar Schritte zurück und betrachtet zufrieden sein Werk. In der Rinde der uralten Buche ist das Schild festgenagelt. An der Stelle, an der der Nagel im Baum steckt, tritt Harz aus, als ob der Baum blutet.
Der kleine Mann dreht sich um und geht zu seinem Skoda. Er steckt den Schlüssel ins Schloss des Mietwagens, als er hinter sich ein dumpfes »Plock« hört. Der Mann dreht sich um und sieht, dass das Schild, das er gerade an die Buche genagelt hat, auf dem Boden liegt, die Wunde des Baums verschließt sich währenddessen immer mehr mit Harz. »Godverdomme«, flucht der Mann und geht zur Buche, vor der das Schild liegt. Er hebt es auf, sieht es an, stellt es achtlos an den Baum und geht zum Auto zurück. Dort holt er einen Hammer, geht zum Schild und tock, tock, tock, hängt es wieder an der Buche.
Der Mann weiß nicht, dass er beobachtet wird. Er ahnt auch nicht, dass der Beobachter nur ein paar Meter hinter ihm ist, direkt am Wagen. Der Mann wirft einen Blick auf das Schild, geht zum Auto, setzt sich hinein, startet den Motor und fährt davon.
Plock.
Ein paar Kilometer weiter steuert der Mann den nächsten Parkplatz am Wald an. Dort steigt er aus, lässt aber den Motor laufen, und holt wieder ein Schild aus dem Laderaum des Kombis. Er greift sich einen Nagel, seinen Hammer und macht sich auf den Weg zum Waldrand. Dort will er gerade das Schild an eine Fichte nageln, als er angesprochen wird.: »Hallo, was machen Sie denn da?«
Er dreht sich um und sieht den Frager: gepflegte mittellange Haare, ein Rauschebart und eine Kleidung, die eher in die zwanziger Jahre gepasst hätte, vor allem die Knickerbocker-Hosen wirken recht befremdlich.
»Ich hänge hier Naturschutz-Schilder auf.«
»Wer hat Ihnen denn das erlaubt«, fragt der Knickerbockerträger mit einem freundlichen Lächeln.
»Ich bin im Auftrag der EU-Naturschutzbehörden hier«, antwortet der Mann mit dem Schild mit einem deutlich hörbaren niederländischen Akzent.
»Das kann ja jeder sagen«, reagiert der Knickerbocker-Träger mit einer wegwerfenden Handbewegung. Im Hintergrund brummt der Diesel des Skoda.
»Wenn Sie es so genau wissen wollen, bitte sehr.« Der Schildträger greift in seine Jägerweste und holt eine Brieftasche heraus, klappt sie auf und hält sie seinem Gegenüber vor die Nase.
»Pim van der Desk«, liest dieser laut, »EU-Umweltschutzbeauftragter soso. Und weshalb schlagen Sie hier Nägel in die Bäume, Herr van der Desk?«, kommt die Frage.
»Sie wissen, wer ich bin, jetzt möchte ich auch wissen, wer Sie sind«, schnappt van der Desk. »Zagel, Hriob Zagel, Waldbewohner«, reagiert der Gefragte mit einem ironischen Grinsen. »Aber jetzt möchte ich wirklich mal wissen, warum Sie diese Schilder hier aufhängen«, beharrt Zagel auf seiner Frage.
»Wir wollen die Wälder schützen, darum diese Schilder. Und irgendwo muss ich sie ja aufhängen«, antwortet van der Desk, nagelt das Schild an die Fichte, läuft zu seinem Wagen, fährt los und lässt Zagel einfach stehen.
Plock. Das Harz beginnt, die Wunde der Fichte zu schließen.
Ein paar Kilometer weiter biegt van der Desk auf den nächsten Parkplatz und macht sich erneut ans Werk. Dieses Mal will er sein Schild an eine Eiche nageln. Mitten in der Arbeit spricht ihn wieder jemand an.
»Wenn Sie den Wald schützen wollen, warum schlagen Sie dann Nägel in die Bäume?«
Van der Desk fährt erschrocken herum. Wieder steht der Knickerbocker-Träger vor ihm. »Opfer müssen gebracht werden«, knurrt der EU-Naturschützer, nagelt fleißig weiter, würdigt Hriob Zagel keines weiteren Blickes mehr, steigt in den Skoda, der mit laufendem Motor wartet, und fährt weiter.
Plock. Baumharz läuft über die Wunde.
Der nächste Parkplatz, dieses Mal nimmt sich van der Desk eine Erle vor.
»Wenn Sie die Umwelt schützen wollen, dann machen Sie doch wenigstens den Motor aus«, spricht ihn jemand an.
Van der Desk fuhr erschrocken herum, wieder steht der Waldbewohner vor ihm. Er muss völlig geräuschlos aus dem Wald gekommen sein. Van der Desk erscheint es fast so, als sei Zagel aus dem Nichts aufgetaucht. Außerdem war dieser merkwürdige Waldbewohner noch vor ein paar Minuten an einem Parkplatz gewesen, der mindestens sechs Kilometer entfernt lag. »Sagen Sie mal«, spricht van der Desk den Mann etwas unsicher an, »habe ich eben mit einem Zwillingsbruder von Ihnen gesprochen?«
»Nein, das war ich. Ich will einfach nur wissen: Sie schützen die Umwelt, aber der Motor läuft, Sie schlagen Nägel in mei… in die Bäume, passt das denn alles zusammen?«
»Hören Sie mal, mein Lieber«, der EU-Bürokrat hat seine Unsicherheit inzwischen überwunden und legt einen nassforschen Ton an den Tag, »was wir hier tun, ist von allergrößter Bedeutung, vor allem in einem ehemaligen Ostblockland, in dem die Umweltverschmutzung weit stärker vorangeschritten ist als in den westlichen Ländern.« Van der Desk plusterte sich bei diesen Worten auf und verfällt in einen arroganten Oberlehrerton. »Bis wir hier wirklich allen Dreck einigermaßen in den Griff bekommen, müssen wir erst einmal aufs Tempo drücken. Es ist ja schließlich nicht unsere Schuld, dass hier so lange nichts getan wurde!«
»Meinen Sie das ernst?«, fragt Zagel und legte dabei eine äußerst unschuldige Miene an den Tag.
Van der Desk würdigt ihn nicht einmal mehr einer Antwort, nagelt sein Schild an den Baum, steigt in den Wagen und fährt davon.
Plock. Wieder tut das Baumharz seine heilende Wirkung.
Am nächsten Parkplatz: eine Esche.
Plock.
Danach: eine Tanne.
Plock.
Und so geht es noch etliche Parkplätze lang weiter. Währenddessen bekommt eine Polizeistreife einen kurzen Funkruf: »Kontrollieren Sie die Parkplätze am Naturpark, dort lässt jemand seinen Müll liegen.”
Die beiden Beamten setzen ihren Streifenwagen in Bewegung und sammeln die Schilder wieder ein, die auf den verschiedenen Parkplätzen liegen. Am späten Nachmittag treffen sie van der Desk auf dem letzten Parkplatz der Route, als er gerade eine Zigarettenkippe wegschnippt, um danach sein letztes Schild an eine sehr dicke Erle zu nageln.
»Hallo, was machen Sie da?«, fragt Streifenführer Vadlicek auf Tschechisch.
»Do you speak English (Sprechen Sie englisch)?«, fragte der Eurokrat etwas von oben herab, »I don’t understand your mambo-jambo (Ich verstehe Ihr Kauderwelsch nicht).«
»Natürlich«, antwortet Vadlicek auf Englisch mit einem leichten Oxford-Akzent, »nach drei Jahren Austauschdienst in London sollte ich das wohl. Und Sie zeigen mir bitte erst einmal Ihre Papiere.«
Um es kurz zu machen: Van der Desk ist mit seiner Nagelaktion deutlich über das Ziel hinausgeschossen. Sie kostet ihn 1.500 Euro Geldstrafe und in seiner Behörde landet er anschließend im Archiv. Seine Vorgesetzten sehen offenbar auch nicht sehr viel Sinn darin, Bäume zu schützen, indem man Nägel hineinjagt. Die Schilder landen auf einem Müllplatz, wo sie friedlich vor sich hin verrotten. Und die Polizeistreife wundert sich sehr, als sie hört, dass die Zentrale keinerlei Funkspruch an sie herausgeschickt hatte. Und ein kleiner Igel verspürt im folgenden Herbst das unbedingte Bedürfnis, zum Müllplatz zu wackeln, auf dem die Schilder liegen, der Wind hat inzwischen Blätter herangefegt, Gras ist gewachsen und steht um die Schilder. Ein Mensch hätte sich gefragt, woher dieser eigenartige Gedanke kam, ausgerechnet zu diesem Platz zu gehen. Aber Igel sind in solchen Fragen eher pragmatisch und folgen ihren Eingebungen, vielleicht sind sie ja auch nicht so intelligent wie Menschen, wer weiß das schon. Auf dem Müllplatz findet der Igel jedenfalls die Schilder, die durch Blätter und Gras sehr schön ausgepolstert sind, und glaubt, dass sie ein exzellentes Nest für den Winterschlaf abgeben würden. Als es kalt wird, verzieht sich der stachelige Geselle in sein Winterquartier und träumt bis zum nächsten Frühjahr seine Igelwinterschlafträume.
Und Rübezahl wirft einen Blick auf den friedlich schlummernden kleinen Burschen und murmelt lächelnd: »Sind die Dinger ja doch noch für ein wenig Umweltschutz gut.«
Copyright © 2009 by Werner Möhring