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Rübezahl – Moderne Geschichten 3

Flug 414

»LAC 414 an Tower Bratislawa, bestätige Höhe 28.000 Fuß, gehe auf Kurs 270, Over.« Flugkapitän Richard Köhler drückte kurz die Sprechtaste am Mikrofon.

»Tower Bratislawa an LAC 414, Freigabe für Kurs 270, guten Flug«, krächzte es aus den Kopfhörern.

Köhler lehnte sich zurück und sagte zu seinem Kopiloten: »So, Michael, jetzt werden wir mal ein bisschen abkürzen.«

Kopilot Michael Strehlauer zog fragend die Augenbrauen nach oben. »Beim Riesengebirge gibt es eine Störung, wir sind dann nicht mehr genau auf dem Radar zu erkennen. Und deshalb gehen wir jetzt übers Naturschutzgebiet, das spart Sprit und Zeit. Und damit stehen wir beim Chef mal wieder bestens da.«

Strehlauer fragte: »Woher soll denn die Störung kommen? In den Karten ist nichts verzeichnet.«

»Kenne ich aus meiner Zeit als Militärpilot«, grinste Köhler zurück und schaltete den Autopiloten ein.

Strehlauer schaute ihn fragend an.

»Hab da ein kleines Sonderprogramm drin«, grinste Köhler.

Rübezahl schwebte wieder einmal über seinem geliebten Riesengebirge. Dass die Menschen große Teile davon zu einem Naturschutzgebiet umgewandelt hatten, gefiel ihm sehr gut. Die Tiere, die ihm alle sehr am Herzen lagen (auch Geister können ein Herz haben), fühlten sich viel wohler. Es gab viel weniger Jäger, dafür aber mehr Leute, die mit einer Kamera unterwegs waren, um die Tiere zu fotografieren. Rübezahl musste seinen Tieren immer wieder erklären, dass die Menschen mit den Kästen in der Hand nicht gefährlich waren. Er konnte natürlich verstehen, dass die Rehe, Hasen oder Wildschweine vorsichtig blieben. Über Generationen hatten ihnen ihre Vorfahren immer wieder eingeprägt: »Nehmt euch vor den Menschen in acht.« Rübezahl dachte zurück an die Zeit, als die Franzosen hier gewesen waren, als dieser kleine Mann aus dem Mittelmeer versucht hatte, ganz Europa zu beherrschen. Vor allem dieser Sergeant DuQuesne war eine echte Gefahr gewesen. Er hatte immer wieder Trupps von Soldaten durch die Wälder des Riesengebirges geführt und mit seinen Soldaten auf alles geschossen, was sich bewegte. Und dann ließen diese Männer die Kadaver einfach liegen. Rübezahl fühlte, wie der Ärger ihn wieder ergriff. Menschen, die Tiere töteten, um essen zu können – gut, das war der Lauf der Welt. Aber einfach töten, um daran Spaß zu haben …?

Rübezahl schob den Gedanken weit von sich. Es war ein sonniger Tag, er schwebte über seinem Riesengebirge und ließ sein Auge schweifen, mal hierhin, mal dorthin. Dabei passte er allerdings auf, dass keine Menschen in der Nähe waren. Die Tiere waren seit Urzeiten gewöhnt, dass ab und an ein geisterhaftes Auge auftauchte, aber Menschen konnten dabei doch sehr erschrecken. Und schlimmer noch: Sie neigten dazu, wenn sie das Auge gesehen hatten und schreiend davon gelaufen waren, in großer Zahl zurückzukehren, um herauszufinden, was passiert war. Und Rübezahl legte nun nicht gerade großen Wert auf Publicity, sondern schätzte seine Ruhe. Während er noch seinen Gedanken nachhing, begann die Luft um ihn herum zu vibrieren, sie schlug regelrechte Wellen. Rübezahl wurde herumgewirbelt und dann donnerte etwas Großes an ihm vorbei. Der Berggeist hatte alle Hände voll damit zu tun, seine Fluglage wieder zu stabilisieren. Dann schaute er in die Richtung, in die das Donnern verschwunden war. Dort sah er ein großes Flugzeug, das über seinem Naturschutzgebiet nichts, aber auch gar nichts zu suchen hatte. Jetzt war Rübezahl sauer, sehr sauer.

Der Berggeist drehte kurz bei und jagte hinter dem großen Flugzeug her. Er spürte für einen Moment die heißen Abgase, die die Maschine ausstieß. Dann war er auch schon daran vorbei und schwebte vor dem Flugzeug.

In der Maschine fragte Kopilot Strehlauer: »War da so etwas wie eine Turbulenz?«

Köhler schaute kurz auf die Anzeigen: »Nicht wirklich, der Tower hat auch keine Wetterüberraschungen angekündigt.«

»Aber da war irgendetwas«, beharrte Strehlauer auf seinem Standpunkt.

»Komm Michael, du siehst Gespenster, da war nichts.«

In diesem Moment sackte die Maschine 100 Meter durch. Im Cockpit schoss alles, was nicht niet- und nagelfest war, nach oben, die verblüfften Piloten sahen einen Wust fliegender Blätter um sich herum.

Köhler griff hastig nach dem Schalter für den Autopiloten, um den Vogel manuell aufzufangen.

Strehlauer griff zum Funkgerät.

»Michael, lass das bleiben«, rief Köhler entgeistert, »wenn du jetzt die Luftleitstelle anfunkst, dann fragen die, wo wir sind. Und diesen Turn hier möchte ich denen nicht erklären.« Unsicher senkte Strehlauer die Hand mit dem Funkgerät.

Köhler trimmte die Maschine derweil aus und zog sie wieder auf die ursprüngliche Flughöhe.

Rübezahl schwebte weiter unsichtbar vor dem Flugzeug und hatte seine schwere Geisterhand gerade zurückgenommen. »Was passiert wohl, wenn ich das mache?«, dachte er und schob seine Hand unter die rechte Tragfläche. Im Cockpit tönten die Alarme, diverse Lämpchen leuchteten hektisch, Köhler trat die Pedale zur Trimmung und zog am Steuerknüppel. Der schwere Vogel hielt jedoch zunächst die rechte Seite oben. Als dem Kapitän die Schweißperlen auf die Stirn traten, kippte die rechte Seite der Maschine urplötzlich ab und Köhler hatte alle Hände voll zu tun, um sein Flugzeug in die Waagerechte zu bringen.

»Tank 2 ist leer«, meldete sich Strehlauer hektisch.

»Unmöglich,« reagierte Köhler. Aber sein Blick auf die Tankanzeige bestätigte die Aussage seines Kopiloten. Die Nadel stand bei »Empty«.

Im elektronischen System des Flugzeugs tauchte Rübezahl inzwischen durch die Platinen, sein kürzlicher Ausflug in die Welt der Computer kam ihm dabei sehr zu Hilfe. Ein kleiner Impuls hier, und beide Piloten rissen sich entsetzt die Kopfhörer herunter, als irgendein auf Heavy Metal spezialisierter Radiosender mit voller Lautstärke im Funksystem zu dröhnen begann.

»Verdammt noch mal, Richard, die Kiste ist doch erst vor drei Tagen gecheckt worden«, kreischte ein sichtlich entnervter Michael Strehlauer, »was zum Kuckuck ist das hier?!?« Köhler hatte gar nicht erst die Zeit, eine Antwort zu geben, weil der Feueralarm losging. Das Backbord-Triebwerk stand in Flammen – zeigte zumindest der Feueralarm an. Köhler sah hektisch aus dem Cockpitfenster und geriet völlig durcheinander. Die Tragfläche war da, das Triebwerk war da, die Maschine lief, aber kein Feuer war da. Das Triebwerk sah ganz genau so aus, wie es ein voll funktionstüchtiges Triebwerk eben tun sollte.

In diesem Moment fuhr das Fahrwerk aus. Köhler und Strehlauer, deren schicke Pilotenhemden mittlerweile durch großflächige Schweißflecken verziert wurden, nahmen die Maschine sofort auf andere Geschwindigkeit und Trimmung, damit die Veränderung der Aerodynamik durch das Fahrwerk den Vogel bei immerhin knapp 800 km/h nicht ins Schlingern brachte. Das Ergebnis der Bemühungen: Die Nase stieg steil an, denn die Fahrwerksanzeige leuchtete zwar, aber das Fahrwerk war drin.

Und der Feueralarm jaulte während all dem munter weiter.

Hätten die Piloten hinter das zentrale Steuerpanel schauen können – und wären sie in der Lage gewesen, in die Anderwelt zu schauen, sie hätten ihren Augen nicht getraut, denn aus ihrer Sicht hätte ein etwa 40 cm großer Mann mit gepflegtem Vollbart und einer Art grauem Nachthemd hinter dem Panel gesessen und vor sich hin gemurmelt: »Da zupfe ich hier, mache das dort mal lose, es passiert ne ganze Menge, der Pilot macht sich in die …« Und genau das geschah in diesem Moment.

Köhler griff zum Mikrofon: »Hier ist LAC 414 Mayday, Mayday. Wir haben Systemausfälle, die Maschine reagiert nicht mehr auf die Steuerung«, wobei sich Köhlers Stimme förmlich überschlug.

Rübezahl fing den Notruf auf und sorgte für kräftige Störungen. »Wir wollen doch nicht, dass irgendjemand hier nachschaut, was denn passiert«, murmelte er dabei in seinen Geisterbart. Und schon kam ihm eine Idee. Er rief ein Storchenpaar zu sich und erklärte den Vögeln, was er von ihnen wollte. »Geht in Ordnung«, sagte Papa Storch. »Aber nur eine halbe Stunde, wir müssen unsere Kleinen dann füttern«, setzte Mama Storch hinzu.

Rübezahl war diese Idee mit »Die Kleinen füttern« irgendwie nie so recht nahe gekommen. Als Berggeist brauchte er nun mal nichts zu essen, und wenn er etwas aß, dann nur, weil Menschen dabei waren, die er verkleidet besuchte. Er wollte schließlich nicht, dass sich jemand wunderte, wenn da ein Mann war (oder eine Frau, das hatte er auch schon mal gemacht), kurz gesagt: ein Mensch eben, der weder essen noch trinken musste. So etwas zog Fragen nach sich, die der Berggeist gar nicht erst aufkommen lassen wollte.

Er dehnte nun seine Sphäre auf das Storchenpaar aus. Beide Vögel begannen zu wachsen, zogen sich in die Länge und veränderten ihre Form. Nur eine Minute später sahen die Piloten des arg gebeutelten Transportfliegers rechts und links neben der Maschine zwei Jagdflugzeuge auftauchen.

»Ist das eine Typhoon?«, fragte Strehlauer.

Köhler schaute aus seinem Seitenfenster: »Sieht mir mehr nach MiG oder Suchoi aus«, antwortete er.

Eins war klar, solche Jäger hatten beide Piloten in ihrer ganzen Karriere noch nie gesehen. Die Maschinen waren lang gestreckt, die Tragflächen trugen ein schwarzes Muster mit hellen Tarnflecken am hinteren Ende, die Rümpfe waren weiß, lediglich die Nase zeigte sich in leuchtendem Rot. Auf dem Seitenleitwerk standen die Registriernummern »RZ 01« und »RZ 02«. Das Merkwürdigste war aber, dass die Pilotenkanzeln vollständig aus geschwärztem spiegelndem Glas bestanden.

So sehr sich Köhler bemühte, er konnte weder den Piloten erkennen noch überhaupt durch das Glas schauen. »Das ist doch nicht normal«, murmelte der Pilot. Er war sich ganz sicher, dass er zumindest durch die Kanzel hätte hindurchsehen müssen, aber so sehr er sich bemühte, es fehlte der Durchblick.

Ebenso merkwürdig war: egal, welche Frequenzen die Piloten am Funkgerät einstellten, außer einem Krächzen und Klappern war nichts zu vernehmen. Die beiden Jagdflieger gaben mittlerweile unmissverständlich zu erkennen, dass der Frachtflieger in den Sinkflug gehen sollte. Beide Jäher wackelten mit den Flügeln, einer zog nach unten, der andere setzte sich über den Frachter. Köhler und Strehlauer folgten den Maschinen. Am Ziel des Sinkfluges wartete allerdings die nächste böse Überraschung: Ein kleiner Flughafen mit einer Betonpiste, die von der Länge gerade ausreichen würde, um die Kiste unbeschadet zu landen.

Im Tower des Regionalflughafens von Benecko Dvur saß Karel Verecec und hatte Funkdienst. Er schlürfte gerade die dritte Tasse Kaffee in dieser Schicht. Er hörte ein Geräusch, das immer lauter wurde. Als er sich umdrehte, um nach der Ursache des Geräusches zu sehen, fiel ihm vor Schreck die Kaffeetasse aus der Hand und zerplatzte mit einem lauten Knall auf dem Fußboden des Towers. Entsetzt sah Verecec einen großen Frachtflieger immer näher und tiefer kommen, der von zwei Jagdmaschinen begleitet wurde. Der Frachter zog tiefer, hatte das Fahrwerk draußen und setzte zur Landung an, die beiden Jäger drehten ab.

Geistesgegenwärtig griff sich der Fluglotse das Kopfhörer-Headset mit dem eingebauten Mikrofon und jagte durch alle Frequenzen, um den Frachterpiloten zu rufen. »Benecko Dvur Tower an nicht identifiziertes Frachtflugzeug, durchstarten, durchstarten!«

Pilot Köhler hörte die Aufforderung, aber wenn er etwas nicht wollte, dann war es eine Rückkehr in die Höhe mit einer Maschine, in der die Elektronik offenbar machte, was sie wollte. »Durchstarten nicht möglich«, funkte er zurück. »Haben schwere Defekte in der Elektronik, wir müssen hier runter.« Der Pilot dachte außerdem an die beiden eigenartigen Jagdflieger, denen er in der Luft nun auch nicht noch einmal begegnen wollte.

Der Frachter schwebte unterdessen immer tiefer herein, Pilot Köhler setzte ihn direkt am Anfang der Piste auf und gab alles an Klappen und anderen Bremsmöglichkeiten. Mit Müh und Not kam er am Ende der Piste zum Stehen. Inzwischen waren Polizei, Feuerwehr und ein Krankenwagen angekommen, die der Fluglotse vom Tower aus alarmiert hatte. Die Wagen kamen am Flugzeug zu stehen, das Personal des kleinen Flughafens hatte eine Leiter herangerollt, über die Köhler und Strehlauer ihre Maschine verlassen konnten. Die Polizisten, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter staunten nicht schlecht, als zwei Nervenbündel mit durchschwitzten Hemden die Treppe hinunter wankten.

Am wolkenlosen Himmel flogen derweil zwei Störche wieder in Richtung ihres Nestes. Es war wirklich höchste Zeit, die Jungen zu füttern. Und noch ein Stückchen weiter dachte ein Berggeist zufrieden: »Den Herren dürfte die Lust auf Abkürzungen vergangen sein.«

Copyright © 2009 by Werner Möhring