Rübezahl – Moderne Geschichten 2
Es war einer dieser späten Herbstabende. Draußen war es bereits dunkel und der Sprühregen nässte die Scheiben des Computerladens ein. Nur noch der Besitzer war im Laden, aber auch er bereitete sich darauf vor, für heute Feierabend zu machen. Ein schneller Blick auf die Uhr: 20 Uhr durch, Kundschaft war nicht mehr in Sicht. Der Ladenbesitzer schloss die Kasse ab und schaltete noch schnell die Bildschirmserie im Schaufenster auf Nachtbetrieb. Die Webcam legte er auf den großen Flachbildschirm in der Mitte. Unter dem Ladentisch surrte leise der Lüfter des PCs, der die Bilder von der Webcam übers Netzwerk auf den Bildschirm schaufelte. Noch ein rascher Blick in die Runde, während der Ladenbesitzer sich seinen Mantel anzog. Er ging zur Tür, öffnete sie und löschte das Licht, sodass der Laden nur noch von ein paar Kontrolllämpchen an den Maschinen und den Bildschirmen im Schaufenster erleuchtet war. Der Ladenbesitzer ging hinaus in den kalten Nieselregen. Als er die Tür hinter sich zudrücken wollte, riss ihm auf einmal ein gewaltiger Windstoß die Tür aus der Hand. Sie schlug mit dem Metallrahmen krachend gegen die Wand und der Windstoß fuhr geradewegs in den Laden. Erschrocken fluchte der Ladenbesitzer, schnappte sich die Tür und drückte sie zu. Danach schloss er ab und begab sich – immer noch leise murrend wegen des Schrecks – nach Hause.
Der Laden lag ganz ruhig in der Dunkelheit, nur ein paar einzelne Kontroll-LEDs glühten als grüne und rote Punkte in der Dunkelheit. Wenn man ganz genau hinhörte, war ein leises Rascheln zu vernehmen. Es schien, als bewegte es sich durch den Raum, mal hierhin, mal dorthin, mal war es vor einer Kontrollleuchte, dann vor einem der toten Bildschirme. Es glitt an den Wänden entlang, bewegte sich schließlich auf einen Verteilerknoten für ein Computernetzwerk, einen Hub, zu. Dort verstummte das Rascheln für einen Moment, das nächste Geräusch war ein leises Zischeln und Britzeln. Die Kontrollleuchten im Raum glühten für einen kurzen Moment etwas heller, die Bildschirme im Schaufenster zeigten ein kurzes elektronisches Zittern.
Rübezahl sah sich um: Er stand in einem Gang mit sehr glatten Wänden, die aussahen wie matt poliertes dunkles Eisen. An den Seiten fanden sich fünf Türen, die genau so aussahen wie die Tür, durch die er den Gang betreten hatte. Mal sehen, wo es hier hingeht, dachte der Geist und ging nach links. Nach einer Weile kam wieder eine Tür, dahinter lag eine Halle mit Türen an allen Seiten, sogar auf dem Boden und im Dach. Eine Tür leuchtete so wie die, durch die er in den Raum gekommen war, die anderen waren dunkel. Die erleuchtete Tür allerdings lag über Rübezahl, sodass er seine Kräfte einsetzen wollte.
Der Schreck fuhr ihm durch die Glieder: So sehr er sich bemühte, nichts tat sich, keine Bewegung durch den Raum, er versuchte voller Panik, sich in verschiedene Vögel zu verwandeln, einen Raben, eine Elster, schließlich in so etwas Kleines wie eine Schwalbe. Aber auch hier: kein Resultat. Schließlich sprang er entnervt, um an die Tür zu kommen, weil er hoffte, dass er hinter der Tür Hilfe finden möge. Im Sprung spürte er, dass er sich drehte und schließlich in der Luft vor der Tür stand. »Magie, die stärker ist als meine? Hier? In meinem Revier?« Rübezahl konnte es nicht fassen.
Schließlich öffnete er die Tür und trat hindurch. Er fand sich auf einem Bahnhof wieder, ständig hielten Wagen, öffneten die Türen, schlossen sie und rasten davon. Ein neuer Wagen fuhr ein, dieses Mal ohne Fenster. Die Türen öffneten sich und eine unglaubliche Flut von Briefen ergoss sich auf den Bahnsteig. Rübezahl ergriff einen der Briefe, der mit dem Worten begann »Dear Sir, friendly welcome to you. I am the daughter of former foreign minister of Nigeria. My father musted left the country and had an account with 15 million dollars …« Weiter kam er nicht, denn jemand riss ihm den Brief aus der Hand. Rübezahl schaute verdutzt auf, vor ihm stand ein kleiner Mann mit einer Mütze, an der ein Fernglas aus Metall als Abzeichen prangte. Der kleine Mann schnappte den Brief und warf ihn in einen Sack, wo er schon in Sekundenschnelle alle anderen Briefe hineingepackt hatte. »Hallo«, rief der Berggeist, »wer bis …«, weiter kam er nicht. An der Decke des Bahnhofs hatte sich eine Luke geöffnet, durch die der kleine Mann in Windeseile verschwunden war. Und die Leute sagen immer, dass ich unfreundlich sein kann, dachte Rübezahl. Wieder kam ein Wagen im Bahnhof an. Als sich die Tür öffnete, sprang Rübezahl hinein. Die Tür schloss sich und in null Komma nichts raste der Wagen in den Tunnel davon. Der Berggeist kannte sich natürlich mit extremen Geschwindigkeiten aus, aber in diesem Wagen im Tunnel wurde selbst ihm schwindlig. Bevor sich dieses Gefühl weiter ausbreiten konnte, kam der Wagen bereits in einem anderen Bahnhof zum Stehen. Rübezahl stieg aus und sah sich um. Das musste jetzt schon ein Hauptbahnhof sein. Überall gab es Bahnsteige, ständig kamen und fuhren Wagen ab, und Rübezahl fiel zum ersten Mal auf, dass viele Wagen verschiedene Zeichen trugen: ein schlecht gemaltes Tor, ein rotes Y oder ein T in einem sehr komischen Rotton, den er sonst noch nirgendwo gesehen hatte.
Er stieg in einen anderen Wagen, und wieder – Rumms – war er in einem anderen Bahnhof angekommen. Hier gingen drei Türen vom Bahnsteig ab. Rübezahl wollte dieses Mal absichtlich ausprobieren, ob und wie er die Tür an der Decke erreichen konnte. Er setzte sich in Bewegung, prompt drehte sich der Raum um ihn und er stand vor der Tür. Sie öffnete sich, der Berggeist trat hindurch – und stand in einem schmalen Gang. Soweit er sehen konnte, war auf der Türseite eine normale Wand, auf der anderen Seite aber eine Mauer aus roten Backsteinen, die sich nach rechts und links zog, so weit er sehen konnte. Direkt vor sich erblickte er eine Stahltür. Er wollte sie öffnen, als er eine Stimme hörte: »Bitte warten, die Firewall fragt ab, ob Sie Zugang zum System erhalten.« Kurz darauf kam dieselbe Durchsage noch einmal. Rübezahl begann sich zu langweilen. In dieser merkwürdigen Welt – das hatte er schon gemerkt – funktionierten seine Kräfte nicht so, wie er es kannte. Deshalb probierte er sehr vorsichtig, ob er einfach durch die Wand gehen konnte. Einen Moment später stellte er fest: Es ging. Hinter der Wand fand er wieder eine Halle mit Türen an allen Seiten. Kaum hatte er einen Schritt nach vorn gemacht, brach lautes Geheul los und eine Stimme rief: »Eindringlingsalarm, Eindringlingsalarm, Eindringlingsalarm.« Eine Tür öffnete sich, eine große Zahl von Männern in weiß-roten Unformen drängte in die Halle. Rübezahl sah, dass auf den Uniformen die Buchstaben A und V zu lesen waren.
Die Uniformierten stürmten auf ihn zu, holten Geräte aus Taschen in ihren Anzügen und fuhren damit an Rübezahl entlang, der diese Leute allmählich lästig fand. Er hob kurz die Hand … und nichts geschah. Merkwürdig, dachte der Berggeist, eigentlich hätten sie jetzt alle vom Sturm weggeweht werden müssen. Aber nichts war geschehen. Die Uniformierten wieselten immer weiter um Rübezahl und rückten ihm mit ihren piependen und summenden Geräten immer näher auf den Pelz. »Identifizieren Sie sich«, schnarrte einer der Männer den Berggeist an. Doch Rübezahl brachte nur ein »… äh …« über die Lippen. Da packten ihn die Männer schon und schoben ihn zu einer großen Tür, rissen sie auf, stießen Rübezahl hinein und schlugen die Tür hinter ihm zu. Da stand er nun inmitten einer Gitterzelle. Die Schilder an den Gittern sagten »Quarantäne«, soviel konnte er auch aus dem Käfig heraus feststellen. Er erinnerte sich an das Erlebnis mit der Wand und versuchte, durch die Käfigstangen zu treten, was reibungslos klappte. Wieder stand er in der Halle mit den vielen Türen, wieder rannten die uniformierten Männer auf ihn zu, aber diesmal ließ sich der Berggeist nicht mehr so einfach einfangen. Er lief in Richtung der nächstgelegenen Wand und rannte einfach hindurch.
Er fand sich in einem Gang wieder mit schwarzem Fußboden und blauen Wänden. Auf dem Boden waren weiße Punkte aufgemalt, sehr akkurat. Hier schien es Rübezahl doch angenehmer zu sein als in der Halle mit den Uniformierten. Er lief den Gang entlang, als ihm der Schreck in die Glieder fuhr. Um die Ecke herum war ein großer gelber Ball gekommen, der offenbar auch noch über einen Mund verfügte. Dieser Ball fraß die Punkte vom Boden! Rübezahl drückte sich an die Wand so eng er konnte, aber es gab kein Entkommen, der Ball ließ keinen Platz an den Seiten. Er kam näher und näher und verschluckte schließlich sogar Rübezahl. Direkt danach fand sich der Berggeist in einer Art Gefängnis wieder, um ihn herum tanzten wilde Augenpaare. Rübezahl verließ dieses Gefängnis einfach durch die Wand und lief nur noch geradeaus, quer durch alle Wände. Wenn er es wollte, dann klappte das auch. Es hatte anfangs offenbar nur deshalb nicht funktioniert, weil er gar nicht auf die Idee gekommen war, durch diese Wände gehen zu können. Na, das ist doch wenigstens etwas, dachte Rübezahl zufrieden. Schließlich hatte er wieder den Bahnhof erreicht und sprang in den nächsten Wagen, der vorbei kam.
Nach den Erfahrungen, die er bisher gesammelt hatte, blieb Rübezahl zunächst in seinem Wagen und fuhr durch verschiedene Bahnhöfe. Jeder sah anders aus als der vorige, er sah graue Bahnhöfe, schwarze, blaue, aber auch sehr bunte, schließlich kam er in einen hellgelben Bahnhof. Auf den Wänden befanden sich glitzernde Sterne, gelegentlich sauste ein Pfeil durch den Raum, dessen Ende merkwürdig weich hin und her schlenkerte. Der Pfeil hinterließ seinerseits auch funkelnde Sterne, die bei jeder Bewegung aus der Spur des Pfeils zu Boden rieselten. Diese Umgebung erschien Rübezahl doch schon erheblich freundlicher, sodass er es riskierte, den Wagen zu verlassen. »Herzlich willkommen im Katzenwaisenhaus zur sonnigen Wiese«, sagte eine freundliche Stimme.
Na bitte, es geht also auch freundlich, dachte der Berggeist bei sich. Als er sich umsah, lächelte er unwillkürlich, als ihn überall offene Türen begrüßten, die förmlich dazu einluden, zu erkunden, was hinter ihnen lag.
Er trat durch eine der Türen und wurde geradezu stürmisch von allerlei Katzen begrüßt. Schwarze, weiße, gestreifte, große, kleine, Katzen über Katzen. Ausgerechnet Katzen! Wenn Geister bei einem Wesen aus der realen Welt vorsichtig sind, dann immer bei Katzen. Diese pelzigen Schnurrer spürten offenbar immer die Anwesenheit eines Geistes, egal, wie perfekt er sich getarnt hatte. Hunde waren da viel einfacher, man musste schon sehr nachlässig sein, um von einem Hund aufgespürt zu werden, und Menschen … denen musste ein ordentlicher Geist schon praktisch ins Gesicht springen, wenn er wollte, dass ein Mensch ihn bemerkte. Seitdem er wieder zurück war, schien diese Blindheit der Menschen noch zugenommen zu haben. Schon früher war er kaum einem Menschen aufgefallen, wenn er es nicht wollte. Aber jetzt, mit all dieser modernen Technik, die ihn zunächst schockiert hatte, als er nach langer Zeit wieder zu den Menschen zurückgekehrt war, waren sie noch blinder und verließen sich ganz offensichtlich vor allem auf ihre Technik. Und was diese Technik nicht anzeigte, das war für die Menschen wohl auch nicht vorhanden. Nur die Katzen waren so, wie er sie in Erinnerung hatte: immer wachsam, immer mit einem Bein in der Geisterwelt zu Hause. Und so waren auch die Katzen, auf die er hier gestoßen war. Sie nahmen ihn wahr, sie kamen heran, aber sie waren sehr freundlich, strichen um seine Beine, schnurrten und ließen sich sogar streicheln. Als Rübezahl die Katzen streichelte, stutzte er. So hatte sich noch kein Katzenfell angefühlt. Glatt, fast wie eine Fläche, nicht aber wie ein Haarpelz. Vorsichtig zog sich der Berggeist zurück. Die eigenartigen Katzen hatten allerdings kein großes Interesse und folgten ihm nicht weiter. In einer anderen Welt sah ein Mädchen erstaunt auf ihren Bildschirm. Sie wunderte sich sehr, was dieser merkwürdige Mann dort zwischen all den Spielzeugkatzen gemacht hatte, die sie extra für ihre Website fotografiert hatte. Rübezahl zog sich zur selben Zeit in den Bahnhof zurück und stieg in einen der Wagen. So ganz geheuer war ihm dieser Besuch bei den eigenartigen Katzen nicht gewesen.
Der nächste Bahnhof, an dem Rübezahl ausstieg, war schon wieder etwas größer, Wagen kamen und gingen. Als er den Bahnsteig verlassen hatte, flatterten Fledermäuse über ihn hinweg, sanfte, aber unheimliche Musik erklang, sie kam von keinem bestimmten Ort und war einfach da. Rübezahl ging durch eine Galerie mit zahlreichen Spiegeln. Und obwohl er allein war, sah er in jedem Spiegel einen Geist, wunderschöne Frauen darunter, die ihn anlächelten und dabei spitze Zähne entblößten. An einem glitzerte wie ein Rubin ein Blutstropfen. Aus einem anderen schauten ihn ernst zwei Männer an, einer trug eine Art goldfarbenen Pullover, der andere einen blauen. Dieser Mann, dachte Rübezahl, musste ein Kobold sein, der spitzen Ohren wegen.
Echte Geisterspiegel, dachte der Berggeist bei sich und begann, sich bei den Spiegeln schon ein wenig heimisch zu fühlen. Nach einer Weile allerdings machte es ihm nicht mehr so viel Spaß, zwischen all diesen in Spiegeln eingeschlossenen Geistern umherzuwandern. Eigentlich wollte er diese merkwürdige neue Welt endlich verlassen. Und kaum hatte er den Wunsch gedacht, fühlte er sich weggesaugt und raste durch Gänge, mal größer, mal enger, durch Hallen, schneller, immer schneller.
Eine letzte rasante Kurve, dann ploppte es – angesichts der rasanten Fahrt ein jämmerlicher Schlusston, und er fand sich in einem Geschäft wieder, vor einem Regal, in dem zahlreiche Kästen mit eigenartigen Knöpfen und Schlitzen standen. Er hatte mal irgendwann Menschen gehört, die solche Kästen »Computer« nannten. Gedankenverloren stand er vor dem Regal, als ihn eine Frau ansprach. Rübezahl zuckte zusammen, denn er hatte überhaupt nicht gespürt, dass noch jemand anwesend war. »Rübezahl«, sagte sie, »was machst du denn hier? Wir dachten, du wärst völlig verschwunden und würdest nie mehr zurückkommen.« Rübezahl erschrak, denn die junge Frau hatte ihn erkannt. »Mit kurzen Haaren erkennst du mich wohl nicht«, lachte sie. Irgendwie kam sie Rübezahl schon bekannt vor, aber er wusste nicht, wo er sie einordnen sollte. Schließlich fragte er: »Wer bist du?«
»Lorelei!«
GAME OVER
Copyright © 2009 by Werner Möhring