Kleiner Stern – Teil 2
»Ich wollte dich nicht derartig bedrücken. Tut mir echt leid, Arin.«
Lesandor hatte ja ohnehin nicht darüber sprechen wollen. Das waren nun bestimmt keine Geschehnisse, die ein Kind mitbekommen sollte.
»Aus diesem Grund habt ihr die Wahrheit vollkommen verleugnet. Deshalb ist es euch gar nicht aufgefallen«, entfuhr es ihr nach einer ausgedehnten Pause. »Immerhin habe ich aus deinen Worten herausgehört, dass du kein echter Mensch – äh, nicht zu den Wahren Gläubigen gehörst, Lesandor.«
»Ja, da hast du recht. Als Kind war ich es vielleicht einmal. Jedenfalls begann ich im Laufe meines Wachstums damit, über alles nachzugrübeln und mir wurden die Unstimmigkeiten allzu deutlich bewusst.«
»Sag mir – ganz aufrichtig – was du ernsthaft glaubst. Ich werde dich ganz sicher nicht dafür umbringen. Versprochen.«
Am Ende schmunzelte sie ihn wiederum an. Und erst das machte Lesandor klar, wie sehr er es bereits vermisst hatte. Hinterher grinsten die Beiden gemeinsam über den bitteren Scherz und Thalen bemerkte erstaunt, wie schnell er sich an dieses eigenwillige Mädchen gewöhnte. Vor allem an ihre total aufrichtige Art.
»Na, gut. Dir kann ich es ohne Weiteres anvertrauen. Dieser Marandeus ist für mich stets ein durchgedrehter, rassistischer und am Ende wohl überaus seniler Wirrkopf gewesen. Dass dieser Wahnsinnige solchermaßen inbrünstig als Schöpfer verehrt wird, ist mir bereits seit meiner Kindheit ein Rätsel gewesen.«
Er überlegte kurzzeitig, ob er sorglos mehr erzählen sollte oder es überhaupt wollte, und entschied sich dafür.
»Wenn ich ganz ehrlich bin, haben mir eigentlich hauptsächlich diese Lebewesen leidgetan, die das Pech hatten, auf den Planeten zu wohnen, die Marandeus gepriesenem Volk ausgeliefert waren. Zuerst hier auf der Erde und jetzt überall, nachdem interstellare Flüge machbar wurden.
Dabei ist es eigentlich am schlimmsten, dass sich einige dieser Massenmörder noch heute unter uns befinden. Offiziell gelten sie wegen ihrer Verbrechen inzwischen als Vorbilder an reiner Tugend und gottgefälliger Rechtschaffenheit. Zusätzlich erhielten die Meisten von ihnen sogar auffallend hohe Positionen in unserem Reichsgebilde.«
Unvermittelt und düster kochte seine gesamte Unzufriedenheit, sein unbeschreiblicher Hass auf das System, wiederholt in dem jungen Mann hoch. All diese beißenden Gefühle, die ihn vorhin fast zum Äußersten getrieben hatten.
Sieh lieber zu, dass du dich besser unter Kontrolle bekommst, befahl sich Thalen nach diesem leichten Rückfall, beruhige dich und genieße stattdessen deinen charmanten Besuch.
Unerwartet fing er an zu lachen und empfand dies jetzt als einzige richtige Reaktion. Dabei kamen ihm nochmals die merkwürdigen Äußerungen der Kleinen in den Sinn.
»Du hast vorhin etwas gesagt, das ich nicht richtig kapiert habe. Was haben wir übrigens gar nicht bemerkt?«
»Du wolltest mir zuerst von deiner eigenen Glaubenstheorie berichten. Nachher erzähle ich dir alles, was du wissen willst.«
Hatte er das vorgehabt? Lesandor konnte sich nicht daran erinnern. Er überlegte allerdings ernsthaft, ob er es tun sollte.
Nachdem er sich vornahm, seine Frage auf keinen Fall zu vergessen, stöhnte er: »Da verlangst du fast Unmögliches von mir, Arin. Ich habe bisher nie darüber geredet, nicht mal mit meinen engsten Freunden.«
Sie saßen neuerlich einige Minuten schweigend beieinander.
»Du musst nicht …«, fing Arin an.
Augenblicklich unterbrach Thalen sie.
»Dennoch will ich es … Ich habe mich ehrlich gesagt bislang nie getraut, diese Sache von mir aus anzusprechen. Direkt danach gefragt wurde ich bisher nämlich kein einziges Mal.«
Arin nahm bei diesen Worten seine Hand und drückte sie ganz fest. Damit erfüllte sie Thalen abermalig mit ihrer beruhigenden Wärme und sah in dabei eindringlich an. So vollkommen offen und ehrlich, dass er ohnehin nicht mehr anders konnte. Er vertraute ihr aufrichtig.
»Eventuell hört es sich ja ziemlich blöd an. Dessen ungeachtet habe ich unablässig daran geglaubt, das unser Heimatplanet auf irgendeine Weise, äh, wie soll ich das jetzt ausdrücken, ohne dass du mich auslachst …
Ach, was soll’s, die Erde ist lebendig und hat uns Menschen auf sich entstehen lassen. Sie ist sozusagen unsere Mutter. Wir sind leider bloß zu dumm, ihr großartiges Geschenk anzunehmen und zu schätzen. Stattdessen haben wir uns einen Herrn mit sehr kruder Ideologie erschaffen.«
Oha, jetzt verstehe ich sogar Arins allererste unklare Bemerkung, fiel ihm überrascht auf.
Er wollte diesen Gedanken zunächst nicht mehr weiterverfolgen, sondern sah schüchtern zu ihr hinüber und war ziemlich verdutzt. Sein kleiner Gast schien abermals enorm schwermütig zu sein.
»Was ist los, Arin? Habe ich etwas derart Falsches gesagt?«
»Nein, überhaupt nicht«, schniefte sie und klang dabei irgendwie ziemlich bestürzt.
Übergangslos kullerten dem Mädchen rötlich leuchtende Tränen aus den Augenwinkeln und ihr fest zusammengepresster Mund begann heftig zu vibrieren. Ganz ohne Vorwarnung umarmte sie ihn geschwind und drückte ihn ganz fest an sich. Erstaunlicherweise kam es Lesandor so vor, als ob sie ihm damit ihren ganzen Trost spendete.
Im Endeffekt war es freilich vollkommen gleichgültig, warum Arin dermaßen bitterlich weinte. Sie tat es eben und Thalen hatte nicht den blassesten Schimmer, was die richtige Reaktion darauf sein könnte. Deshalb erwiderte er ihre Umarmung zunächst verlegen und extrem verwundert. Dieses überraschende, außerordentlich ungestüme Verhalten hatte er grundsätzlich nicht erwartet.
»Ist ja gut – schon in Ordnung.«
Er tätschelte sanft ihren Rücken und versuchte, sie auf diese Weise zu beruhigen. Wenn der junge Mann ehrlich war, konnte er sich überhaupt nicht erklären, warum ihre Stimmung gerade schlagartig gekippt war. Thalen war fünfundzwanzig, hatte keine Kinder, zurzeit nicht einmal eine feste Partnerin, und diese ganze Situation überforderte ihn schlicht und ergreifend.
Andererseits gab er sein bestes und versuchte ihr Halt zu bieten. Lesandor wollte sie unbedingt von ihrem Schmerz befreien.
»Sag mir bitte, was mit dir los ist«, versuchte er sie in ein Gespräch zu verwickeln, um genau das zu erreichen. »Das hilft bestimmt, Arin.«
»´tschuldige«, schluchzte sie etwas später und bezwang ihre immense Traurigkeit langsam. »Ich musste etwas Drängendes loswerden. Danke, dass du bei mir bist, Lesandor!«
Thalen streichelte erleichtert ihren Arm, um ihr das eilends zu bestätigen und sagte sofort: »Gern geschehen.«
»Wie bist du eigentlich auf diese Idee gekommen?«
Sie wischte sich die Wangen trocken und betrachtete ihn scheinbar beruhigt. Er konnte gleichwohl erkennen, wie intensiv sie innerlich um ihr Gleichgewicht kämpfte. Lesandor brauchte deshalb einen Moment, bis er halbwegs begriff, was sie meinte.
Darum wollte er vorsichtshalber lieber sichergehen. »Du meinst, dass unsere Welt eine Lebensform ist?«
Nachdenklich sah Arin ihn an. »Ja. Weißt du, als ich hier angekommen bin, habe ich einen gewissen Zeitraum deinen Planeten beobachtet und mir lange seine Oberfläche angesehen. Und es war alles total grau und schwarz, richtig dunkel und ganz ohne Leben. Bis auf euch natürlich. Deswegen wundere ich mich, wie du da deinen Glauben entwickeln konntest.«
»Wenn du weiter darüber sprechen willst?«
Thalen sah sie ausgesprochen verblüfft an. Dessen ungeachtet nickte sie ernsthaft.
»Hm, von mir aus. Das hat in meiner Jugend begonnen. Mit sechzehn ungefähr. Damals habe ich mir alle möglichen Dokumentationen im Hologerät angesehen. Vor allem solche über die sechs neuen Welten. Ihre unendliche, wunderbare Pflanzenvielfalt und die zahllosen Tiergattungen fesselten mich irgendwie.«
Lesandor unterbrach seine Erinnerung und ließ das Mysterium des Lebens, welches ihm früher einmal ungemein viel bedeutet hatte, an sich vorüberziehen.
Wie konnte ich das alles überhaupt jemals vergessen, überlegte er maßlos bestürzt.
Obgleich es ihm stracks einfiel. Als Arbeiter der Klasse C konnte man für diese Dinge grundsätzlich nicht viel Muße aufbringen.
»Ich kannte diese Dinge ja nicht von der Erde. Folglich habe ich mich an der Universität angemeldet und wollte alles darüber lernen. Während meiner Studienzeit habe ich nach den Lesungen freiwillig für Thoem gearbeitet. Sie war meine Professorin für Naturgeschichte und Außerirdische Biologie – Bereich Shyr Velengar.
Dort hatte ich – zum ersten Mal in meinen Leben – wirklichen Kontakt zu realer Vegetation. Wir haben alle möglichen Arten von Gewächsen untersucht, die ich meistens katalogisiert habe. Ich durfte sie dabei berühren, riechen und manche sogar schmecken.«
Bei diesen wunderbaren Erinnerungen lächelte er unbewusst.
»Seit wann ist euer Planet eigentlich solchermaßen – verbaut? Ich muss zugeben, dass ich etwas Derartiges niemals zuvor gesehen habe.«
»Oh, seit Ewigkeiten. Einige Hundert Jahre ist es bestimmt schon her, dass es hier so etwas wie Flora und Fauna gab. Im Großen und Ganzen ist die Landmasse der Erde eine einzige, enorme Stadt. Gleichermaßen leblos wie unsere Meere, die schon vor Ewigkeiten gekippt sind.«
»Ich habe sie gesehen. In den Ozeanen standen Hunderte bizarrer Konstruktionen.«
»Das sind riesige Sauerstoffwandler und das Wasser dient rein als Rohstoff für ihre Arbeit.«
»Und trotzdem hast du angefangen, an deine Mutmaßung zu glauben?«
»Ja, seit meinem Erlebnis damals in der Studienzeit ersehne ich es mir zumindest.«
»Was ist damals passiert?«
Lesandor grinste sie an und ließ sie ein bisschen zappeln, ehe er erwiderte: »Thoem nahm mich mit in die streng geheimen Gewächshäuser, in denen sie forschte. Und in einer dieser Anlagen zeigte sie mir das Außergewöhnlichste, was ich jemals erblicken durfte.«
Bis jetzt zumindest, fiel ihm verblüfft auf.
Dabei betrachtete er fasziniert das kleine Mädchen neben sich. Diese Begegnung übertraf das seinerzeit Erlebte bei Weitem.
»In diesen gewaltigen Hallen befanden sich verschiedenste Pflanzenarten von der Erde selbst. Ich hatte bis dahin nur über sie gelesen und ihre versteinerten Überreste studiert!«
Voller Ehrfurcht kam seine Erinnerung daran langsam zurück. Er war gänzlich entrückt gewesen, als ihm zum ersten Mal gewährt wurde, sich diese, in unterirdischen Zuchtstationen verwahrte, Schönheit anzuschauen. Seine ehrwürdige Lehranstalt war stets für Überraschungen gut gewesen.
»Das hat mich umgehauen, ehrlich. Mit diesem Wunder habe ich niemals gerechnet. Es war überaus beeindruckend. Und als ich dort zwischen ihnen stand, konnte ich es tief in mir spüren: Die Erde lebt! Diese Pracht hat es mir wirkungsvoll bestätigt, indem sie leise in meinem Verstand flüsterte und mir somit bewies, dass ich mit meinen Vermutungen recht habe!«
»Was genau haben sie dir mitgeteilt?«
Thalen war erstaunt über diese Frage und musste zuerst ein bisschen darüber nachdenken.
»Wir haben natürlich kein Gespräch geführt oder irgendwas in dieser Art. Es geschah alles auf einer rein gefühlsmäßigen Ebene. Ich hatte den Eindruck von immensem Verlust. Einem schmerzerfüllten Verlangen nach einer sofortigen Verbindung zu unserem Heimatplaneten.
Sie schienen abgeschnitten zu sein. Wahrscheinlich wegen ihres Aufbewahrungsortes in den Tiefen dieses Komplexes. Ohne tatsächlichen Kontakt zur Welt.«
»Ja, das kann sein«, erwiderte die Kleine unheimlich bekümmert, »das Ganze muss ziemlich furchtbar für diese leidenden Wesen sein.«
»Ja, das glaube ich. Nein! Ich weiß es ganz genau! Weil ich ihre Trauer mitempfunden habe. Zumindest habe ich es mir damals eingebildet.«
Völlig sicher war Lesandor sich im Grunde bis jetzt noch nicht. An diesem Abend hatte er nämlich jede Menge berauschende Blüten des Sonnenfächers geraucht. Zusammen mit Thoem, die ihm damals unglaublich viel beigebracht und bedeutet hatte. Sie war Thalen erfreulicherweise eine sehr gute Freundin geblieben. Ungeachtet seiner Exmatrikulation vor ein paar Jahren.
»Mal was ganz anderes. Mich würde interessieren, wie es möglich ist, dass wir hier zusammensitzen und uns unterhalten. Wie geht das?«
Verschmitzt sah Arin zu ihm herüber.
»Weißt du, das ist eine Gabe, die mir meine Mutter geschenkt hat. Wie es genau funktioniert, kann ich dir leider nicht erklären. Aber ich hatte mit der Verständigung irgendwie nie Schwierigkeiten. Nachdem ich einen Planeten kennengelernt habe, öffne ich mich zuerst den Bewohnern und erfahre einiges über ihre Denkweise, ihr übliches Verhalten und die verschiedenen Kommunikationsformen.«
»Hat das etwa mit Gedankenlesen zu tun oder etwas in dieser Richtung?«
Thalen befürchtete schon, die Kleine könnte ähnlich drauf sein wie ihre eigenen Psybegabten, die ungewollt in alle Psychen eindrangen und dort herumstöberten.
»Nein, keine Sorge, wenn ich es könnte, bräuchte ich bedauerlicherweise niemanden mehr kennenzulernen, so wie dich jetzt. Ich wüsste ja schon alles. Nein, es ist sehr viel allgemeiner. Ein umfassendes erstes Verstehen, das mir nach einer gewissen Lernphase erlaubt, Sprachen zu beherrschen.«
»Und wie lange dauert das genau?«
»Äh – ein Jahr ungefähr. Hinterher kann ich mich ganz gut ausdrücken und bereite den ersten Kontakt vor. Außerdem lerne ich jeden Augenblick, den ich mit der ausgewählten Lebensform verbringe, mehr und schneller von ihr. Und dem, was hinter ihren Worten verborgen liegt.«
Lesandor war ausgesprochen beeindruckt von dieser Fähigkeit.
»Das ist bestimmt sehr nützlich. Vor allem, wenn du auf Forschungsreise bist. Haben deine Eltern früher auch den Weltraum erkundet?«
Das muss eine recht ungewöhnliche Gemeinschaft sein, urteilte Lesandor, wenn sich schon ihre Kinder allein aufmachen, das All zu erforschen.
Arin lachte derweil unerwartet. Er lag scheinbar total daneben.
»Nein, meine Mutter blieb ihr ganzes Leben lang da, wo sie geboren wurde. Sie war an diesen Ort gebunden. Nichtsdestoweniger hätte sie es sicher geliebt zu reisen, wenn es ihr möglich gewesen wäre.«
Sogleich guckte sie durch das Fenster in den bewölkten Himmel und blieb für eine längere Zeitspanne still.
»Was ist mit deiner restlichen Familie oder deinen Freunden?«
Thalen wollte unbedingt mehr über seinen kleinen Gast erfahren. Bisher hatte sie ja nicht viel von sich erzählt.
»Sie sind zusammen mit meiner Mutter gegangen.«
Lesandor erschrak. Alle waren gemeinschaftlich gestorben? Wie konnte das bloß geschehen sein? Mitgefühl stieg in ihm hoch, als er das unbegreiflich einsame Mädchen ansah.
»War es ein Unfall?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ihr Leben war leider vorüber. Alles Bestehende vergeht irgendwann einmal. Das Leben läuft halt auf diese Weise ab.«
Er konnte es gar nicht richtig fassen und antwortete ziemlich aufgeregt: »Bei allen gleichzeitig? Das ist unmöglich!«
»Meine Mutter verschlang sie in ihrem lang anhaltenden Todeskampf. Ich weiß, das hört sich jetzt unglaublich brutal für dich an. Doch es war der natürliche Lauf der Dinge.«
Thalen spekulierte lange darüber, was das wohl bedeuten sollte. Ergebnislos ließ er es irgendwann mal bleiben und wollte bereits um eine genauere Erklärung bitten. Er hielt hingegen lieber seinen Mund. Keinesfalls wollte er irgendwelche alten Wunden aufreißen.
Wenngleich Lesandor natürlich rasch bemerkte, dass sie diese tragische Begebenheit merkwürdigerweise nicht dermaßen bestürzt reagieren ließ wie seine eigenen Aussagen vorher. Insgeheim rechnete er überzeugt mit einem weiteren Heulanfall, der aber nicht mehr kam. Arin unterbrach lediglich die unangenehme Stille, die nach ihren letzten Worten eingesetzt hatte. »Kannst du mir vielleicht etwas mehr über euren Planetaren Bund erzählen und von diesen Tätern, die euch derzeit führen?«
***
Ralissans zugesagte Unterstützung war endlich eingetroffen. Inzwischen warteten dreißig Begabte, die ihr für diesen Einsatz unterstellt worden waren, auf sie. Eine äußerst gespannte Atmosphäre empfing Nolder, als sie einen der unzähligen Untersuchungsräume des Psychors betrat. Sie nickte kurz zur Begrüßung.
Unverzüglich sendete ihnen die Alpha danach knapp und prägnant ihren Auftrag direkt in das Bewusstsein. Dabei bemerkte sie, dass unter den aufmerksamen Ratsdienern hauptsächlich Gammas und nur wenige Betas waren. Anschließend präzisierte sie, immer noch völlig lautlos, die Pflichten jedes einzelnen Gruppenmitglieds.
Gleich, nachdem die Beamten ihre zu untersuchenden Sektoren übermittelt bekamen, begaben sie sich in die Psyebene. Dort begannen sie schnell und enorm effizient mit ihrer Bestimmung. Auch die leitende Alphabegabte selbst fing umgehend damit an. Sie wollte einfach keine kostbare Zeit mehr verschwenden und den Außerirdischen endlich wieder finden.
Das runde Zimmer, gefüllt mit knienden, in dunkelblaue Roben gehüllte Gestalten, deren von Helmen geschützte Gesichter vollständig von den darüber gezogenen Kapuzen verdeckt wurden, war zu einer lebendigen Suchmaschine verschmolzen. Zu der bisher größten, die jemals von den Talentierten dafür gebildet worden war.
Ein äußerst ungewöhnliches Ereignis, für einen außergewöhnlichen, recht unerwartet aufgetauchten Besucher, den es ihrem Glauben zufolge eigentlich gar nicht geben durfte.
***
»Ach, das sind nur gierige, alte Menschen, die Millionen unschuldige Leben auf dem Gewissen haben. Sie sind arrogant, selbstsicher und unglaublich mächtig. Ferner unsere gottgesandten Führer auf Lebenszeit. Lass uns lieber über etwas anderes sprechen, Arin. Zum Beispiel davon, wie du eigentlich Raumfahrt betreibst? Das würde mich wirklich interessieren.«
Lesandor sah sie erwartungsvoll an. Doch das Mädchen schien nicht darauf antworten zu wollen, sondern starrte ebenso gespannt zurück und verschränkte stracks ihre Arme vor der Brust.
»Na gut, dann eben später«, geduldete er sich gezwungenermaßen und begann frustriert, mit der überaus unerfreulichen Geschichte der Menschheit fortzufahren.
»Also, der Planetare Bund, sinnvoller Weise auch Marandeus Reich genannt, umfasst, wie ich dir ja vorhin schon erzählt habe, insgesamt sieben Planeten. Unsere Erde ist die Hauptwelt, der Sitz der Zentralregierung. Diese besteht aus zwölf Hohen Räten, den weltlichen und religiösen Entscheidungsträgern. Sie verfügen über die uneingeschränkte Autorität im Reich. Bei ihrer Arbeit werden sie unterstützt von einem gigantischen Ratsdienerapparat, der sich zusammensetzt aus Millionen von Beamten, die in der Verwaltung und Überwachung arbeiten. Außerdem gibt es noch die verschiedensten Arten von Sicherheitskräften und natürlich einen monströsen Militärapparat. Insgesamt sind das sogar mehrere Milliarden Menschen.«
»Und sie machen da alle freiwillig mit?«
»Selbstverständlich. Es ist vielen sogar eine große Ehre und sie haben sich nichts sehnlicher gewünscht, als diesen Status zu erreichen. Denn er bringt viele Vorteile mit sich.«
»Sie werden zu Lakaien und freuen sich dessen ungeachtet darüber. Ich verstehe das nicht. Für mich sind ausschließlich Freiheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit erstrebenswerte Ziele.«
»Da bist du nicht allein. Aber viele von uns verkaufen sich in irgendeiner Form und leisten sich trotzdem nie Ideale. Dafür sind sie zu geizig.«
Sie schwiegen daraufhin für eine kurze Weile. Lesandor schloss während dieser Pause flüchtig seine Augen und gähnte derweil ausgiebig. Seine Müdigkeit, durch den langen Arbeitstag bedingt, den er erst vor wenigen Stunden hinter sich gebracht hatte, überwältigte ihn vorübergehend.
»Oh, du bist erschöpft. Und ich quetsche dich aus und merke nichts davon. Entschuldige. Du solltest schlafen und ich komme einfach morgen wieder – wenn es dir Recht ist, Lesandor.«
»Nein, bleib ruhig. Es geht schon wieder.«
Nur bei der Arbeit würde er später auf gar keinen Fall erscheinen.
Da habe ich mir doch glatt diesen unangenehmen Magen-Darm-Virus eingefangen, überlegte er sich kurz seine Ausrede.
»Bist du sicher?«
»Ganz bestimmt. Ich freue mich wirklich über deinen Besuch, Arin. Von mir aus können wir noch stundenlang quatschen. Außerdem interessiert es dich sicherlich, was mit den restlichen Planeten unseres Reiches ist?«
»Ich würde es gerne hören.«
»Dachte ich’s mir doch. Unsere Kolonialwelten sind hauptsächlich dazu da, den Moloch Thain Marandeus mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Der ist nämlich unersättlich und verbraucht viel mehr, als in ihm selber chemisch produziert werden kann.
Zusätzlich werden sie ausgebeutet von ausgewählten, irrsinnig regimetreuen Gouverneuren, die ja schließlich ihre Familien ernähren müssen, und allen bundesweit tätigen privaten oder staatlichen Handelshäusern. Vergessen sollte man dabei auch keinesfalls unsere allgegenwärtigen Banken, die überall mitmischen, wo sie sich Profite versprechen.«
»Wie sieht es auf den Planeten aus? Haben sich die menschlichen Gesellschaften dort weiterentwickelt?«
»Oje, leider nicht. Sie werden ebenfalls alle von fanatischen Wahren Gläubigen regiert. Im Grunde ist es auf ihnen bereits genauso übel wie auf der Erde.«
»Ich habe nur gefragt, weil ich gehofft habe, dass diese neue Umgebung und die Entfernung einige zum Nachdenken verleitet haben.«
Lesandor schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar bisher nie eine besucht, aber die Kontrolle des Hohen Rates ist selbst auf ihnen übermächtig. Vor allem das Psychor und die militärische Präsenz sind ausschlaggebend.«
»Leben auf ihnen viele von euch?«
»Klar. Manche sind schon von Milliarden meiner Artgenossen besiedelt. Vor allem auf den Älteren, vor langer Zeit eroberten, sieht es beinahe so schlimm aus wie hier. Auf ihnen existieren längst gewaltige Weltstädte. Außerdem viele riesige, die Umwelt verschmutzende Industrieanlagen und Produktionsstätten aller Art.
Die Neueren sind eher unerschlossene Wildnis. Es gibt zwar auch auf ihnen längst überall Städte und sehr viele von uns. Aber einige Gegenden sind bis heute recht gefährlich. Sie werden von massiven Festungsanlagen und jeder Menge exzellent ausgebildeter, mit modernster Technik gerüsteter Soldaten geschützt. Obwohl die Ureinwohner ja angeblich ausgerottet und ihre Welten mittlerweile als sicher und besiedlungsbereit klassifiziert sind. Ich vermute, da werden Tausende gutgläubiger Freiwilliger in den Tod geschickt.«
»Also haben es möglicherweise ein paar von den Ureinwohnern geschafft, dem Völkermord zu entkommen«, bemerkte Arin.
Danach sah sie ihm offen ins Gesicht und versuchte seine Gefühle zu erkennen.
»Würde mich freuen. Aber im Endeffekt zieht sich ihr Todeskampf nur unnötig in die Länge. Immerhin kommen für jeden Feind, den sie töten, Hunderte Neue nach. Es gibt mittlerweile einfach zu viele Eiferer. Sie können nicht mehr besiegt werden.«
Thalen begann nochmals, seine nie endende, nur hin und wieder nachlassende Niedergeschlagenheit zu spüren, die bei diesen Aussagen langsam nochmals die Oberhand gewann. Diesmal schaffte er es leider nicht mehr, sie einfach wegzulachen. Er blickte mit verhärteter Miene auf den Boden und bekämpfte sie, so gut er eben konnte.
»Und einige dieser Planeteneroberer sind Hohe Räte?«, unterbrach ihn die Kleine schnell, als seine bedrückte Stimmung nicht mehr zu übersehen war.
»Ja, ein paar von ihnen. Einer der Haupttäter ist sogar Vorsitzender der Bande. Er wird bezeichnet als Hoher Rat Deggard Holmbrok und ist momentan Letzter einer langen Reihe von gnadenlos rechtschaffenen Wahren Gläubigen, denen Marandeus die Auszeichnung gewährte, sein Reich zu erweitern. Zwei oder drei andere waren schon damals seine Mitstreiter, aber eben aus der zweiten Reihe.«
»Wann war das denn?
»Hm, vor gut zwanzig Jahren hatte er die Eroberung abgeschlossen und gefestigt. Der gute, alte Deggard übergab anschließend seinen Statthalterposten an einen Nachfolger und wurde bei seiner Rückkehr empfangen wie ein Held. Ich war damals ein Kind. Ungefähr acht Jahre alt und meine Eltern schleiften mich mit zu seiner Ehrungszeremonie. Sie waren – sind wirklich überzeugte Anhänger dieser abnormen Ideologie und Religion. Was zum Glück nicht auf mich abgefärbt hat.«
Er dachte trotz allem liebevoll an seine Erzeuger, die gute und ehrliche Leute waren. Allerdings gläubig aus Überzeugung, nicht etwa aus Angst vor Repressalien. Wie übrigens die meisten Menschen, die er kennengelernt hatte. Die anderen wurden oft seine Freunde.
»Logischerweise wurde Holmbrok zu guter Letzt, als zufälligerweise ein Posten durch das unerwartete Dahinscheiden des Vorgängers frei wurde, zum Hohen Rat ernannt. Seine alten Gefährten hat er im Lauf der Jahre nachgeholt.«
»Den scheinst du ganz besonders zu verachten. Ist er der Böseste von ihnen?«
Lesandor überlegte eine Weile, bevor er erwiderte: »Eigentlich nicht. Im Grunde ist er nicht anders als seine Kollegen. Ich verabscheue sie einfach alle. Genau wie dieses verrottete System, welches sie verkörpern, und in das sie uns rücksichtslos zwängen.
Aber du hast natürlich recht. Eine seiner Taten fand ich seinerzeit, sogar bis heute, besonders verwerflich. Weil ich sie persönlich mitbekommen habe und nicht nur aus dem Geschichtsunterricht der Schule kenne.«
Thalen unterbrach seine Ausführungen für einen Augenblick, da er zurück in die Vergangenheit getaucht war und inzwischen mit seinen aufkommenden Gefühlen rang.
»Deggard brachte damals ein Geschenk für die Einwohner Thain Marandeus mit. Ein Andenken an seinen geheiligten Feldzug. Es war ein Pärchen einer Spezies von dem Planeten, den Holmbrok überfallen hatte. Hm, Ephestos ist sein aktueller Name – glaube ich zumindest. Sie ist die Siebte und vorerst letzte Siedlungswelt.«
Lesandor musste sich erst mal richtig an die ganzen Ereignisse entsinnen und alle Geschehnisse in die korrekte zeitliche Reihenfolge bringen.
»Die Beiden wurden in einem Zoo ausgestellt. Meine Eltern schleiften mich selbstverständlich gleich nach der Parade dorthin. Sie dachten wohl, dass ich diese Fremden gewiss gerne sehen würde, und wollten mir bloß was Gutes tun. Weil sie ja wussten, dass ich mich für fremdartige Tiere interessierte.
Zuerst war ich sogar irgendwie neugierig. Aber als ich dann vor den Gittern stand und sie zum ersten Mal anschaute … Ich fing an zu weinen und schrie vor grenzenloser Wut. Ohne großartig darüber nachzudenken, habe ich umgehend die widerwärtigen Gaffer beschimpft, die um mich herum standen.«
Bei dieser Erinnerung war Lesandor förmlich vom Bett aufgesprungen und spielte die Situation neuerlich durch. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, wie tief sich dieses Erlebnis in ihn hineingefressen hatte. Aber im Grunde verwunderte ihn das nicht allzu sehr. Solch eine traumatische Erfahrung musste einfach nachwirken.
»Ihre Augen! Ich kann sie einfach nicht mehr vergessen und sehe das schier endlose Entsetzen darin. Untrennbar verbunden mit dieser einsamen Traurigkeit, die sich gleichzeitig in ihnen widerspiegelte. Es war einfach unerträglich.
Diese widerwärtige Zuschaustellung vernichtete sie innerlich, genauso wie die Erinnerungen an die brutalen Geschehnisse in ihrer Heimat. Hinterher habe ich erfahren, dass sie die letzten Überlebenden ihres Volkes gewesen sind.«
Thalen zitterte, trotz der von Arin verbreiteten Wärme. Offensichtlich wurde ihm gerade furchtbar kalt.
»Ich konnte ihre blanke Angst vor den Massen an johlenden, ungemein begeisterten Schaulustigen, die an ihnen vorbeizogen, einfach nicht mehr ertragen. Es war entwürdigend. Meine Eltern haben mich schließlich hastig nach Hause gebracht, weil es ihnen ziemlich peinlich war.
Ich bekam natürlich einen ganzen Monat Hausarrest als Strafe. Tja, und ich bin seit diesem Tag nie wieder in einem Tiergarten gewesen.«
Er ließ sich zurück auf die Matratze fallen, stierte in die Leere und war weiterhin in diesen unauslöschlichen Szenen gefangen.
»Leben die bemitleidenswerten Wesen bis zum heutigen Tag in diesem Käfig?«
Arins leise gestellte Frage brachte ihn auf einen Schlag zurück ins Heute. Er blinzelte heftig und war einen Moment lang äußerst verwirrt.
»Nein, die Beiden haben bloß ein paar weitere Tage überlebt. Sie brachten sich nämlich um.«
Als Arin das hörte, flossen ihr wiederum kleine, rötliche Tränen über die Wangen. Doch diesmal bemerkte Thalen ihren Kummer gar nicht.
»Es war scheinbar eine Art rituelle Selbsttötung, wenn ich mich noch richtig erinnere.«
Das Mädchen riss sich mit Mühe zusammen und hörte auf zu weinen. Zugleich begann sie, seinen Arm zu streicheln.
»Ihre Tat war für die meisten Menschen der Beweis dafür, dass sie im Grunde nur primitive, dumme Tiere gewesen waren, da sie den Tod dem Leben in Marandeus Heiliger Stadt vorgezogen hatten. Kaum zu fassen, dass sie diese Gnade abgelehnt haben. Oder?«
Ein bitteres Lachen schüttelte Lesandor plötzlich. Flugs umarmte ihn die Kleine und legte tröstend ihren Kopf auf seine Schulter.
»Für mich hat es ehrlich gesagt für ihre Intelligenz gesprochen. Weil ich es an ihrer Stelle wahrscheinlich genauso gemacht hätte.«
Hundertprozentig sogar, schoss es gleich nach diesen Worten durch seinen Verstand.
Danach kam ihm unerwartet ein katastrophaler, zutiefst entsetzender Gedanke.
Verdammt, warum habe ich bloß nicht früher daran gedacht, ärgerte er sich wütend.
»Was ist eigentlich mit dir? Vielleicht weiß die Regierung schon, dass du hier bist. Ihre Psybegabten haben dich mit Sicherheit längst aufgespürt. Sie werden dich jagen, und im schlimmsten Fall sogar fangen. Meine Güte, du wirst sicherlich ebenfalls zur Belustigung des Volkes ausgestellt.«
In seinen Gedanken tauchten umgehend Bilder von ihr auf. Wie sie eingesperrt tagtäglich von Zehntausenden begafft wurde. Mit bestürztem Blick glotzte er die Kleine an. Thalen war total erschüttert über seine unfassbare Dummheit.
»Was sind Psybegabte?«
***
Ein Gamma entdeckte den Eindringling und sandte Ralissan rasch eine psychische Nachricht. Die Begeisterung des Psybegabten, seine überschwängliche, fast schon häretische Ehrfurcht hallte, von ihm nur schlampig verborgen, noch für längere Zeit in ihrem Geist nach. Doch sie machte ihm keinen Vorwurf.
Denn genau das Gleiche hatte sie bei ihrem äußerst kurzen Kontakt auch empfunden. Nolder reagierte ohne zu zögern. Sie aktivierte ganz automatisch den Zentralrechner, zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder ihre Stimme benutzend.
»Befehl: Suche Lesandor Thalen, Arbeiter Klasse C, Sektion Innenstadt. Benachrichtige bei Erfolg Ratskommando Grün, Division Leth: Priorität Alpha. Treffpunkt Hangar 23 in 015. Einsatzbefehl: schneller Zugriff.«
Nachdem Ralissan die anderen Beamten entlassen und sie wieder an ihre eigentlichen Aufgaben zurückgeschickt hatte, begab sie sich auf schnellstem Weg zur angegebenen Halle. Die Alphabegabte wollte dort auf das Ergebnis des Computers warten. Ihre Gedanken waren unterdessen ausschließlich auf ihre Pflicht ausgerichtet.
Außer der Verhaftung zählte mit einem Male nichts mehr anderes. Ihre vor Kurzem aufgekeimte Freude auf die baldige Bekanntschaft mit dem Fremden wurde bewusst von ihr verdrängt. Genauso wie all ihre anderen Emotionen.
***
»Äh, hast du mich nicht verstanden?«
Ist dir gar nicht klar, in welcher Gefahr du schwebst, dachte Lesandor fassungslos.
Aber sie lächelte ihn nur wieder auf ihre ganz besondere, leicht schiefe Weise an und streichelte plötzlich seine Wange.
»Mach dir darüber keine Gedanken. Erzähl mir lieber von diesen Psybegabten.«
Ihre sanfte Berührung entspannte Lesandor zwar etwas, obwohl sie ihn nicht richtig beruhigen konnte. Immerhin schien zumindest Arin überzeugt davon zu sein, dass sie ihr Leben niemals eigenhändig in einer Gefängniszelle beenden würde, wie er gerade erstaunt begriff.
»Also, gut. Ich will bloß nicht, dass dir dasselbe geschieht wie diesem Pärchen. Ich glaube nicht, dass ich so etwas noch einmal ertragen könnte. Nein, ich weiß, dass ich es nicht kann. Aber wenn du dir so sicher bist, es ist deine Entscheidung.«
Ihre Hand lag jetzt ganz ruhig auf seinem Gesicht. Die Gefühle, die sie ihm dadurch vermittelte, waren eindeutig.
»Ja, glaube und vertraue mir einfach. Und jetzt erzähl doch von den Begabten.«
Thalen erlag fast ihrem Optimismus. Zumindest beherrschte er sich ihr zuliebe abermals und verbannte seine Sorgen. Ganz gelang es ihm nicht. Dennoch gab er sich auch weiterhin Mühe, ihre Zuversicht zu teilen.
»Wie du willst. Es war vor ungefähr sechzehn Jahren, als man entdeckte, dass einige Menschen ganz besondere psychische Begabungen haben. Natürlich wurden sie sofort als von Marandeus gesegnet etikettiert und haben, wie soll ich es ausdrücken? Die Zentralregierung hat ihnen besondere Kontrollaufgaben übertragen.«
Zusätzlich durften sie Recht sprechen und notfalls ihre Urteile sogar persönlich vollstrecken. Gerade, wenn es sich um die Todesstrafe handelte. Allerdings verschwieg Lesandor dem Mädchen diese Informationen lieber. Denn sie hatte heute bereits genug grausame Dinge von ihm erfahren.
»Seitdem dürfen – müssen sie täglich unsere Gedanken und Gefühle überwachen. Was selbstverständlich gewissenhaft getan wird, wie die steigende Zahl von Verhaftungen eindeutig beweist. Die Besten unter ihnen sind angeblich sogar dazu in der Lage, einzelne, ganz spezifische Details aus dem Geist eines anderen Menschen zu filtern und werden als Alphabegabte bezeichnet.«
»Gibt es viele von denen?«
»Nein, zum Glück leben relativ wenige, die so außergewöhnliche Fähigkeiten haben.«
»Hm, wenn es schon Alphas gibt, müssen logischerweise auch andere Formen existieren. Wie viele Abstufungen werden demnach gemacht?«
»Insgesamt drei: Alpha-, Beta- und Gammaklasse. Von der dritten Stufe gibt es am meisten. Bestimmt einige Millionen. Zusammengefasst werden sie in einer Ratsbehörde, dem Psychor.«
»Und sie erfühlen tatsächlich eure Psychen und spionieren sie einfach so aus?«
»Bestimmte intensive Empfindungen können sie alle lesen, sehen oder was weiß ich. Deshalb musste man immer vorsichtiger werden, mit dem, was man denkt und aufpassen, wie stark die Gefühle ausfallen, die man notgedrungen noch zulässt.«
Arin fand das absolut unnatürlich. Keinesfalls die Psybegabten selbst, sondern ausschließlich die Taten, zu denen sie von ihrer Regierung angestiftet wurden. Einer Einrichtung, die eigentlich für ihr Volk da sein sollte!
»Diese Begabten könnten so viel Gutes tun, wenn man sie nur lassen würde, Lesandor. Ich habe ähnliche Talente bereits auf anderen Welten erlebt. Jedoch wurden sie auf keiner dermaßen missbraucht wie bei euch.«
»Na ja, auf denen sind garantiert keine Menschen gewesen. Wir sind eben einmalig.«
Thalen stieß ein weiteres bitteres Lachen aus und nochmals drückte Arin ihm tröstend die Hand. Endlich war mal jemand bei ihm, dem dies sogar wiederholt gelang. Augenblicklich fühlte er sich wohler.
»Gibt es überhaupt keinen Schutz vor euren Jägern? Vielleicht einen gut verheimlichten Unterschlupf?«
»Nein, da es für sie so etwas wie Mauern nicht zu geben scheint. Kein Versteck auf oder unter der Erde wäre sicher vor ihnen. Es ist scheinbar unmöglich, seinen Geist zu verbergen. Hm, obwohl das im Grunde ebenfalls nicht ganz richtig ist.
Im Laufe der Jahre gewöhnt man sich gezwungenermaßen ein paar Kniffe an. Ich vermeide beispielsweise alle Extreme und kontrolliere andauernd meine Emotionen.«
»Oje, das hört sich nicht gerade nach einem erfüllten Leben an. Ständige Selbstkontrolle würde mir mit der Zeit bestimmt auf die Nerven gehen.«
»Na ja, wem sagst du das. Es ist unwahrscheinlich zermürbend auf Dauer. Aber wenn du nun mal keine andere Wahl hast.«
»Ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, dass du dich unaufhörlich vorsehen musst. Du bist unzweifelhaft ein absolut aufrichtiger und ehrlicher Erdenbewohner. Machen eure Führer da überhaupt keine Unterscheidungen? Wer wird eigentlich von ihnen verfolgt? Irgendwie ist es mir unerklärlich, dass es im Grunde ziellos eingesetzt wird.«
»Tja, überwiegend werden natürlich irgendwelche aufsässigen Individuen oder gar radikale Gruppierungen bedrängt wie zum Beispiel Regimegegner, Kritiker, Terroristen, Attentäter, Häretiker. Allerdings wird gleichzeitig ganz normalen Zeitgenossen nachgespürt, die gerade sehr wütend sind oder andere unerwünschte Gefühle verspüren.
Im Endeffekt kann es absolut jeden treffen – immer und überall. Dahinter steckt kein großartiger Plan, weil wir alle zur falschen Zeit strafbare Empfindungen hegen oder verbotenem Gedankengut nachhängen könnten. Und du kannst mir glauben, bei uns ist so gut wie alles eine Sünde, für die man hart bestraft wird.«
Arin schüttelte beunruhigt den Kopf.
»Nicht nur, dass ihr Menschen euch außergewöhnlich brutal und zugleich ungemein abgestumpft anderen Rassen gegenüber verhaltet. Selbst eurer eigenen Art zeigt ihr bloß reine Verachtung, nicht den geringsten Respekt. Wie sollte es auch anders sein?«
»Ganz klar, es ist die pure Geringschätzung, die sie uns allen entgegenbringen mit diesem wirklich perfiden System der totalen Kontrolle. Inzwischen kannst du ja sicher verstehen, dass unsere Hohen Räte seinerzeit schier überwältigt waren von den unglaublichen Möglichkeiten, die sich ihnen schlagartig boten und sogleich von ihnen realisiert wurden.
Das Psychor besteht mittlerweile seit knapp fünf Jahren und ist seitdem ein unersetzbares Machtinstrument unserer Herrschenden geworden. Freiwillig werden sie auf keinen Fall mehr darauf verzichten wollen.«
»Seit so langer Zeit quälst du dich bereits und versteckst dein Innerstes?«
»Ja, ich versuche es zumindest. Und es fällt mir immer schwerer. Diese Aufgabe zehrt langsam an meinen Kräften.«
Ihm fiel beiläufig seine verzweifelte Lösung ein, diese Schwierigkeiten endgültig hinter sich zu bringen. Doch das würde er der Kleinen auf keinen Fall gestehen.
»Ich weiß gar nicht was ich sagen soll. Was wird dir, euch allen bloß angetan?«
»Das ist der alltägliche Wahnsinn, vor dem es kein Entkommen gibt. Ich gebe trotzdem nicht auf und werde weiterhin kämpfen.«
Für jemanden, der sich vor ein paar Stunden vom Balkon stürzen wollte, hörst du dich sehr vernünftig und glaubwürdig an, kam es gallebitter in ihm hoch.
Er war verlegen wegen seiner Lüge und verachtete sich dafür.
»Deine Stärke beeindruckt mich. Ich wünsche dir, dass du sie für immer behältst.«
Sie umarmte Lesandor und drückte ihn fest an sich, um ihn für seinen riesengroßen Mut zu beglückwünschen. Er erwiderte ihre Herzlichkeit und fühlte sich unglaublich beschämt.
»Ich danke dir, Arin. Wir sind jedoch vom Thema abgeschweift. Es ging um die Psybegabten, erinnerst du dich?«
»Ich habe sie nicht vergessen.«
»In Ordnung. Jedenfalls werden seitdem Kontrollen durchgeführt. Ab einem bestimmten Alter der Kinder – so mit fünf, sechs Jahren. Alle dort entdeckten psychisch Talentierten wandern prompt in vom Bund geleitete Ausbildungseinrichtungen und werden dort zu Gedankenschnüfflern geformt. Zum Wohle Marandeus und des gesamten Menschengeschlechts. Für innere Sicherheit und unseren Wohlstand. Hurra!«
Wiederum etwas, dass ihn verzweifeln ließ. Arin hatte es wirklich drauf, genau all die Themen anzusprechen, die Lesandor so richtig frustrierten und ärgerten. Trotz allem riss er sich schnell wieder zusammen. Ob sie damit wohl etwas bezweckte oder es elementare Neugier war, konnte Thalen sowieso nicht sagen.
Aber er fand es auf jeden Fall faszinierend, dass sich zwei völlig unterschiedliche Wesen aus unglaublich weit entfernten Welten offenbar für die gleichen Dinge interessierten, über die er teilweise, gerade, wenn es seinen Glauben betraf, nicht einmal mit seinen wirklichen Freunden reden wollte.
Dann besuchte ihn unerwartet eine Außerirdische und mit einem Mal führten sie Gespräche, die ihn zutiefst aufwühlten. Was für sonderbare Begegnungen oder einfach nur reine Zufälle mochte es sonst noch geben? Lesandor lachte laut auf.
Damit verwunderte er Arin zwar ein bisschen, nichtsdestoweniger brachte er sie gleichfalls zum Schmunzeln. Als er endete, wurde das rote Mädchen augenblicklich ernst.
»Warum lasst ihr euch das alles gefallen? Habt ihr nie versucht, etwas dagegen zu unternehmen?«
Lesandor prustete sofort erneut los. Diesmal freilich freudlos und verzweifelt klingend.
»Das ist ja das Allerschlimmste an der Sache!«
Er machte eine kurze Pause, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken.
»Der größte Teil der Bevölkerung ist prinzipiell schlicht begeistert. Sie freuen sich über den neu dazu gewonnenen Schutz. Sie sind stolz auf ihre Regierung, die endlich mal hart durchgreift und das ganze gesellschaftsfeindliche, mitunter sogar – Gott behüte – ketzerische Pack wegsperrt.«
»Im Ernst? Ihr habt diese euch aufgezwungenen Maßnahmen einfach verzückt angenommen?«
»Zumindest die Mehrheit von uns. Ein paar gingen natürlich auf die Straße. Sie wurden jedoch brutal von den Ratsgarden zusammengeschlagen und umgehend für längere Zeit inhaftiert. Ein guter Freund von mir verschwand damals sogar spurlos – auf nimmer Wiedersehen. Und Kareem war nicht der einzige, wie ich später von anderen Studenten erfuhr. Soviel zu Protest und Zivilcourage.«
Die Kleine spürte den schmerzhaften Verlust, den diese schrecklichen Ereignisse in Lesandor hinterlassen hatten. Es tat ihr weh, da sie nicht wusste, wie sie ihn aufmuntern sollte. Doch dies war wahrscheinlich sowieso unmöglich.
»Danach wurden diese neuen Überwachungsmethoden als Standard eingeführt. Seitdem ist an größeren, möglicherweise organisierten Widerstand gar nicht mehr zu denken. Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Diese üblen Erinnerungen versetzten seinem Herzen einen weiteren Stich. Zwar bedeutete ihm seine rebellische Vergangenheit nichts mehr – diese unangenehme Episode war erledigt und lange vorbei. Vergessen konnte Thalen sie trotzdem nicht, wie er gerade neuerlich bemerkte. Und es würde ihm wohl niemals gelingen.
***
Ralissan ließ sich auf eine der beiden schmalen Sitzreihen nieder, die an den Seitenwänden des engen, fensterlosen Innenraums dieses ihr zugewiesenen Militärtransporters angebracht waren. Anschließend senkte sich der Sicherungsbügel und schloss sich leise klickend. So wurde der bevorstehende, äußerst rasante Flug der Maschine etwas erträglicher gestaltet.
Das von der Alphabegabten angeforderte Kommando, bestehend aus fünfzehn hervorragend trainierten Soldaten, hatte sich ebenfalls gerade gesetzt. Umgehend erfasste sie kurz die vorherrschende Stimmung, befand sie als angemessen und öffnete dann eine Verbindung über das Kommunikationssystem des Gleiters.
»Priorität Alpha: Kontakt mit Pilot.«
»Herrin?«
»Raumhafen Innenstadt, Arbeitersiedlungen: Gebäude 38, 45. Stock, Appartement 1072. Wir landen auf dem Dach«, setzte ihn die Psybegabte knapp über den Einsatzort in Kenntnis.
»Verstanden, Herrin«, kam prompt die Antwort aus dem Lautsprecher und sie spürte gleich darauf die durchdringenden Vibrationen des Starts.
Aber sie ließ sich nicht weiter davon irritieren, sondern nahm sofort mentalen Kontakt zu ihren Untergebenen auf, die momentan einfach nur abwarteten. Jedoch auf eine aufmerksame und überaus respektvolle Weise. Als die Krieger ihre Psypräsenz wahrnahmen, bereiteten sie sich auf die kommenden Informationen vor.
Alle relevanten Daten wurden ihnen auf diese Art übermittelt und am Ende der Übertragung wollte die Psybegabte von jedem Einzelnen wissen, ob ihre Befehle klar angekommen waren.
Reihum erhielt sie laut die übliche Bestätigung auf ihre psychisch gestellte Frage: »Ja, Herrin.«
Somit war das Ritual der Einsatzbesprechung offiziell beendet. Die Zugriffseinheit war unterwiesen und bereits in einer knappen halben Stunde würden sie den Fremden in ihrer Gewalt haben.
***
»Deine Berichte waren so furchtbar – einfach unerklärlich und zutiefst erschütternd. Ich kann das Ganze überhaupt nicht begreifen. Doch jetzt muss ich es wohl oder übel, denn ich werde alles, was du mir erzählt hast, dies kaum fassbare Grauen, das mich zu euch geführt hat, niemals wieder aus meinem Bewusstsein verdrängen können.«
Arin nahm wiederholt Lesandors Hand und sah ihm in die dunklen Augen. Er erwiderte ihren Blick, erschrak jedoch sofort über den enorm verstörten Ausdruck, den er dort wahrnahm.
»Oh nein, ich wusste es. Ich hätte dich niemals mit diesem ganzen Schmutz konfrontieren dürfen. Du bist schließlich noch ein Kind.«
»Daran liegt es nicht. Mach dir deshalb bitte keine Vorwürfe. Ich habe immerhin dich mit meinen Fragen gelöchert. Mir war nämlich wichtig … ich musste die ganzen Zusammenhänge erst mal verstehen.«
»Und hast du es geschafft?«
»Nein und ich werde es wohl niemals. Aber du gibst mir Hoffnung, da es wenigstens nicht gänzlich unbemerkt geblieben ist. Vielleicht – ganz bestimmt gibt es dort draußen viel mehr, die wie du sind.«
»Depressive Menschen gibt es hier in Thain Marandeus reichlich. Du wirst nicht lange suchen müssen.«
Er grinste fies bei dieser Feststellung.
»Ich befürchte, dein Schmerz wird dich irgendwann einmal brechen, wenn du es zulässt, Lesandor. Dieser Hass und gewaltige Zorn, deine unglaubliche Verzweiflung, die du wegen diesen ganzen Ungerechtigkeiten und den widerwärtigen Machenschaften eurer Ältesten – äh, Zentralregierung ausstehen musst, unterdrückt dich voll und ganz.«
»Ist das etwa ein Wunder?«
»Nein, ganz gewiss nicht. Trotzdem bedroht es deinen reinen Kern und wird ihn töten, wenn du nicht aufpasst. Glaub mir, du bist nicht wirklich am Ende. Du wirst es trotz aller Umstände schaffen. Ich weiß es.«
»Wenn du das sagst.«
»Ich bin absolut überzeugt davon, weil ich deine Hingabe und dein Mitgefühl gespürt habe, diese wohltuende Wärme, die du anderen schenkst. Du verehrst das Leben, obwohl es dir gar nicht bewusst ist. Dasein ist gleichfalls Liebe, nicht nur dein tiefer Schmerz. Lebe bitte wieder.«
Unbestimmt beschlich ihn der Eindruck, dass sie bei diesen letzten Sätzen seine Wangen beobachtet hatte, die weiterhin etwas wehtaten und garantiert rot waren.
»Ist mir meine Qual so deutlich anzumerken?«
Thalen war erstaunt, wie sehr ihre leise vorgebrachten Worte ihn berührten und sein Innerstes aufwühlten. Allerdings konnte sie ja nicht ahnen, dass er schon lange aufgegeben und sich bereits für seine eigene Lösung entschieden hatte. Und Arin würde es von ihm garantiert nie erfahren.
»Ja, du kannst es nicht verbergen. Andererseits hat es mir dabei geholfen, dich jetzt besser zu verstehen. Besonders deine zuerst recht verwirrenden Betrachtungen und teilweise widersprüchlichen Gefühle.«
»Ich habe stets geglaubt, dass ich mich besonders gut im Griff habe.«
»Alles, was ich in deinem Gesicht sah, verriet es mir. Vor allem deine traurigen Augen schreien es förmlich heraus. Tut mir echt leid, wenn ich gerade deine Illusionen zerstöre.«
Lesandor lächelte erstaunlicherweise freundlich und erwiderte: »Schon gut, dass machst du nicht. Es ist nämlich nur dir aufgefallen. Andere Menschen bemerken so etwas gar nicht. Ich werde bestimmt weiterhin meine Ruhe haben.«
»Nicht mal deine Freunde?«
»Die wissen es natürlich. Dennoch haben sie genau dieselben Probleme. Wie sollen sie mir also helfen – wie ich ihnen – wenn wir bei jedem Treffen grundsätzlich bloß aufpassen müssen, was wir denken und fühlen? Kritik oder gar tiefsinnige Diskussionen sind dadurch äußerst effektiv unterbunden worden.«
»Bei uns beiden gelingt es jedenfalls.«
»Ja, weil wir keine Streitgespräche führen. Solange ich ausschließlich erzähle, kann ich mich grundsätzlich ganz gut beherrschen und bleibe weiterhin unauffällig. Was mit dir ist, kann ich ja nicht sagen. Für dich gelten definitiv ganz andere Maßstäbe.«
»Tut mir leid, ich vergaß.«
»Ich würde das am liebsten auch. Dessen ungeachtet kann ich es leider nicht. Ich muss eben jeden Tag in diesem Albtraum leben.«
»Ich bin erleichtert, dass ich nicht hier geboren wurde und solche Zustände noch nicht erdulden musste. Auf der Erde herrschen wahrhaftig unerträgliche Verhältnisse und ich weiß nicht, wie lange ich sie aushalten könnte.«
»Weißt du, wir Menschen sind in der Lage, uns an jede Situation anzupassen. Sogar an die Abartigste.«
Fünf Jahre ist es mir aus diesem Grund bislang gelungen, dachte er verzweifelt.
»Ich bewundere dich dafür und bin wirklich froh, dass ich dich kennengelernt habe. Irgendwie musstest es du sein, glaube ich. Wahrscheinlich, weil du einer der wenigen bist, die diese umfassende Tragödie intuitiv begriffen haben.«
Abermals eine genauso rätselhafte Aussage, wie schon einige Male zuvor.
Was will sie mir damit nur sagen, überlegte Thalen angestrengt.
Das alles Dasein an sich absolut unerträglich ist, wusste er bereits seit langer Zeit. Dies konnte es also nicht sein. Arin sah das mit Sicherheit ganz anders. Freilich wollte er nicht schon wieder nachfragen. Sie würde sowieso bloß ausweichend antworten und Lesandor wie zuvor auf später vertrösten.
Außerdem war er, nach dieser ausführlichen Unterhaltung zu so früher Stunde, ziemlich durcheinander. Irgendwie fühlte Thalen sich ausgelaugt, gleichwohl befreit und äußerst zufrieden. Er hatte sich so richtig auskotzen können und Dinge gesagt, die er normalerweise zu verstecken versuchte.
Er spürte tief empfundene Dankbarkeit in sich aufsteigen. Dafür, das sich endlich mal jemand richtig für sein wahres Selbst interessierte, ohne seine Persönlichkeit gleich als kriminell einzustufen und ihn einsperren zu lassen.
***
»Pilot an Einsatzleitung Alpha. Kontakt in 05 – 32, Herrin.«
Diese beiläufige, jedoch unerwartet laut in ihr Ohr dringende Mitteilung riss Nolder aus einer tiefen, fast tranceartigen Konzentration. Trotzdem sandte sie ohne Verzögerung einen mentalen Befehl an ihre wie gewöhnlich stillen Soldaten.
Tausendfach trainiert, reagierten die Mitglieder ihrer Einheit sofort. Sie entsicherten klobige Waffen und führten letzte Handgriffe aus. Nachdem alle Vorbereitungen auf den Standardzugriff beendet waren, erfüllte kaum wahrnehmbare, doch äußerst ungewohnte Nervosität Ralissans aufnahmebereiten Verstand.
Sogar diese Krieger, welche unzählige Schlachten geschlagen hatten, fürchteten das Fremde. Aber die Psybegabte konnte es wenigstens nachvollziehen, wenn schon nicht respektieren. Schließlich wusste niemand, was das Kommando dort tatsächlich erwarten würde.
Nach der kurzen Musterung beendete sie ihren vorhin so abrupt unterbrochenen Gedankengang. Damit war ihr erneut jede eigentlich schon in Fleisch und Blut übergegangene Einzelheit der vorgeschriebenen Verhaftungstaktiken bewusst. Es folgte ein kurzes Dankgebet.
Nur noch dreißig Sekunden meldete sich Nolders innere Uhr.
***
Die Beiden saßen nun bereits längere Zeit schweigend beieinander. In einer Stille, die keiner von ihnen als unangenehm empfand. Während Arin weiterhin über ihre ausführliche Unterhaltung nachdachte, nutzte Lesandor diese Pause, um konzentriert die kleine Außerirdische zu betrachten.
Er wunderte sich noch immer darüber, dass ihr Äußeres zwar einem unreifen Menschenmädchen ähnelte, ihre ganze Verhaltensweise aber von Anfang an ausgesprochen erwachsen und vernünftig gewirkt hatte. Plötzlich wollte er unbedingt ein paar Antworten haben. Selbst wenn er damit dieses harmonische Zusammensein unterbrach.
»Du hast da einige Fragen offen gelassen, finde ich. Zum Beispiel …«
»Entschuldige, dass ich dich so einfach unterbreche. Doch könnten wir vielleicht auf den Balkon gehen? Ich möchte gern die Sterne spüren.«
»Oh, sicher. Kannst du sie etwa fühlen?«
»Ja, sogar durch die dickste Wolkendecke. Eigentlich auch in deiner Wohnung. Da allerdings nicht ganz so intensiv. Deshalb möchte ich auf jeden Fall lieber raus, bloß für eine Weile.«
»Klar, kein Problem. Wir müssen jedoch aufpassen, dass du nicht gesehen wirst. Meine Nachbarn sind immer schnell dabei, wenn es darum geht, jemanden anzuzeigen. Vor allem du wärst ein gefundenes Fressen.«
»Ist in Ordnung, ich werde vorsichtig sein.«
»Also los.«
Der junge Mann überlegte einen kurzen Moment, ob er sich abermals seine wärmende Winterjacke überziehen sollte. Er verwarf diese Idee allerdings sofort wieder. Denn in ihrer Nähe war es absolut unnötig. Wahrscheinlich hätte er nicht einmal sein Hemd oder die Hose gebraucht.
Kein Wunder, dass du keine Kleidung anhast, kam es Thalen in den Sinn, nachdem sie sich nach draußen begeben hatten, du brauchst solche Dinge einfach nicht.
***
Das Einsatzkommando landete auf dem ebenen Dach der Arbeiterunterkünfte. Sofort stürmten die Soldaten nach draußen in eine böige Nacht. Anschließend erkundeten sie die Umgebung kurz und sicherten damit gleichzeitig ihre Stellung. Präzise wie ein Uhrwerk lief diese Vorbereitung ab.
Während Ralissan noch auf der Rampe des Transporters wartete und ihren Geist die Lage überprüfend schweifen ließ, sprach sie einer ihrer Krieger an.
»Herrin, wir haben eine Öffnung entdeckt. Sie führt direkt in die Wohnung des Sekundärobjekts.«
Interessiert begleitete sie ihn zu einem kreisrunden Loch, das scheinbar durch die dicke Beton- und Stahlschicht geschmolzen worden war. Die Alpha sah hindurch und entdeckte eine winzige, aber wenigstens leere Küche, die mittlerweile bedeckt war von einer Schicht eisig glitzernden Schnees.
Gleich darauf entschloss sie sich, dass zwei Gardisten durch diesen unerwarteten Zugang in die Räumlichkeiten des Verräters vordringen sollten. Vier weitere würden sich über den Rand des Gebäudes zu dem Balkon abseilen, um möglichen, wenn auch irrationalen Fluchtreaktionen vorzubeugen.
Mental teilte sie eilig den entsprechenden Ratsdienern ihren Plan mit. Prompt nahmen diese dann die ihnen zugewiesenen Positionen ein und bereiteten sich auf den Beginn der Aktion vor.
***
Inzwischen lehnte sich die Kleine auf das Balkongeländer und atmete gleich darauf ein. So tief, dass Lesandor sich angeekelt schüttelte. Wie konnte sie diesen künstlich hergestellten Sauerstoff nur auf diese Weise genießen. Er fand schon den Geruch verzerrt und einfach nur widerwärtig. Obwohl er im Grunde niemals einen anderen kennen gelernt hatte.
»Mit etwas Anstrengung ist es möglich das Meer zu schmecken, aus dem eure Luft gemacht ist. Es ist noch nicht ganz gestorben und ich kann mir auf diese Weise vorstellen, wie es wohl früher einmal gewesen ist«, klärte das Mädchen ihn auf.
Oh, habe ich das etwa gerade laut gesagt, überlegte er verdutzt.
Er antwortete aber: »Hm, ich kann mir wirklich Schöneres vorstellen.«
Thalen stellte sich ganz dicht neben sie und sah in den dunklen, verhangenen Himmel. Mittlerweile hatte das heftige Tosen des Sturms endlich etwas nachgelassen und es war beinah angenehm geworden.
Fortsetzung folgt …
Copyright © 2008 by Lorens Karaca